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Einziger Etikettenschwindel

Die "Einführung in die schöne Literatur" des ungarischen Schriftstellers Peter Esterhazy stammt aus einer Zeit, als es den Warschauer Pakt noch gab und in Ungarn der so genannte Gulaschkommunismus regierte. Trotzdem kann sich der Autor in seinem Buch über alle Formen des staatlich-literarischen Selbstverständnisses in einer schamlosen Art und Weise lustig machen.

Von Helmut Böttiger | 03.09.2006
    Dieses Buch ist ein einziger Etikettenschwindel. Und zwar alles, was mit diesem Buch zu tun hat: Der Titel. Das Erscheinungsdatum. Verlags- und Druckort. Die Übersetzung. Der Umfang. Ausnahmslos alles. Der Etikettenschwindel ist geradezu das Markenzeichen dieses Buches, er begründet seine Ästhetik und seine Existenzberechtigung. Zum Beispiel stoßen wir auf Abschnitte wie den folgenden. Kommt einem da nicht irgendetwas gespenstisch bekannt vor?

    Und er nahm die Frau in die Arme, drückte sie an sich, drückte sie und wurde dabei von einem trockenen, tonlosen Schluchzen geschüttelt, worauf die Frau seine Stirn zu streicheln begann, sie strich ihm die Haare aus der Stirn, sie suchte etwas, und er suchte etwas, wütend, Grimassen schneidend, sich mit dem Kopf einbohrend in der Brust des anderen, suchten sie, und ihre Umarmungen und ihre sich aufwerfenden Körper machten sie nicht vergessen, sondern erinnerten sie an die Pflicht, zu suchen; wie Hunde verzweifelt im Boden scharren, so scharrten sie an ihren Körpern; und hilflos, enttäuscht, um noch letztes Glück zu holen, fuhren manchmal ihre Zungen breit über des anderen Gesicht, erst die Müdigkeit ließ sie still und einander dankbar werden, in dieser Stille die glimmenden Sterne der Zigaretten, leise begann die Frau von ihrem Tag zu erzählen, und da wusste er plötzlich wegen eines uninteressanten Details in einer leicht fehlerhaften Satzstellung, dass alles vergebens war

    "Wie Hunde verzweifelt im Boden scharren, so scharrten sie an ihren Körpern" - ja, das ist ganz eindeutig Kafka, das ist das kafkaeske Osteuropa, die dunkle, schattenhafte Welt der Golems und Zombies. Es handelt sich um die berühmte Szene aus Kafkas "Schloss", in der sich Josef K. mit der Kellnerin Frieda in einer Bierpfütze wälzt. Was wir aber gerade in der Hand halten, ist ein dickes Buch von Peter Esterhazy, mit dem großen Titel "Einführung in die schöne Literatur" - und der Anfang und das Ende des Zitats, das wir soeben gehört haben, sind auch wohl tatsächlich - so ganz sicher kann man sich aber niemals sein - von Peter Esterhazy selbst, die Sache mit der "leicht fehlerhaften Satzstellung" auf jeden Fall. Allerdings hat er die Kafka-Stelle in einen ganzen Flickenteppich von Zitaten seines ungarischen Landsmanns Deszö Kosztolanyi eingelassen, damit einem wirklich Hören und Sehen vergeht; das betreffende Kapitel heißt denn auch, unter erheblichem Augenzwinkern, "Indirekt".

    Auf eines kann man sich in dieser "Geschichte der schönen Literatur" also auf jeden Fall gefasst machen: Der Autor versteckt sich mit Vorliebe hinter anderen Autoren. Er arbeitet ausgiebig und lustvoll mit dem, was er "Gasttexte" zu nennen pflegt. Und neben einer allzu liebgewordenen Vorstellung von "Autorschaft" stehen hier noch ganz andere Sachen auf dem Spiel. Da wird der Leser noch auf ganz andere Weise geneckt, hinters Licht geführt und dann wieder daraus hervorgezogen - dem ästhetischen Programm des Autors durchaus gemäß.

    In ersten Ansätzen wird davon in etwas Kleingedrucktem kenntlich, das der Berlin-Verlag diesem voluminösem Band auf einer versteckten Seite am Schluss nachschickt: die Originalausgabe erschien bereits 1986 im schönen Verlag Magvetö in Budapest. Es handelt sich also keineswegs um einen neues Opus Magnum, das der gefeierte Autor von "Harmonia Caelestis" jetzt vorlegt. "Die Geschichte der schönen Literatur" stammt aus einer Zeit, als es den Warschauer Pakt noch gab und den eisernen Vorhang, als in Ungarn der sogenannte Gulaschkommunismus regierte und die Kommunistische Partei das alleinige Sagen hatte. Und dazu kommt etwas für den deutschen Sprachraum ebenfalls höchst Belangvolles, das der Berlin-Verlag völlig verschweigt und nur der Autor selbst im Klappentext andeutet: viele Teilstücke aus diesem Mammutwerk sind längst auf Deutsch erschienen, als eigenständige Bücher in den achtziger und neunziger Jahren.

    Sie kamen damals im Residenz-Verlag heraus und hießen "Wer haftet für die Sicherheit der Lady?", "Kleine ungarische Pornographie" oder "Die Hilfsverben des Herzens". Grob bemessen, ist also die Hälfte dieser "Einführung in die schöne Literatur" hierzulande bereits bekannt - oder könnte bekannt sein. Aber wenn man genauer hinsieht: so schlimm ist das gar nicht. Es ist auch gar nicht so wichtig. Wir haben hier nämlich ein Dokument aus der Zeit des "Sozialistischen Realismus" vor uns, das seine Wucht damals nur in dieser Art und Weise entfalten konnte, in dieser geballten Ladung an Texten, Formen und Verwirrspielen.

    Wo waren wir stehen geblieben? Der Oberst hievt sich hoch, schlurft mit seinem wankenden, sich windenden Gang, den Zuckungen seines Oberkörpers um den Tisch herum. Nun, meine Meinung ist die folgende, was also die Wirksamkeit anbelangt, aber man muss den Gedanken tiefer ansetzen, damit er weiter oben in ein Ziel treffen kann. Er schaut sich um, im sechseckigen Zimmer gibt es kein Fenster, das verstört ihn wieder. Meine Gattin ist eine gebildete Frau, sagt der Oberst und winkt ab, um ein Werk zu schaffen, braucht man, meiner Meinung nach, Schreibfertigkeit, Formbewusstsein, das ist das sine qua non eines Werks, ohne das ein großes Lebensmaterial auch in zersauster Form Gültigkeit hätte, so kann man nicht denken. Er hört die Atemzüge des Obersts, was will er bloß? Doch das ist zu wenig, der Oberst spielt es aus wie eine Trumpfkarte, das kann kultivierte Literatur hervorbringen, aber keine große Literatur, dazu bedarf es einer Persönlichkeit, die hinter dieser Schreibfertigkeit steht.

    Natürlich, im sozialistischen Ungarn kommt ein Oberst vor. Und mehr als ein Oberst: ganze Kompanien treten auf. Peter Esterhazys "Geschichte der schönen Literatur" ist eine Provokation, die ein ganz konkretes Staatswesen meint, und die Hauptsache ist dabei die Form: das Buch liefert nichts Geringeres als das gesamte Waffenarsenal der Moderne, alle Schreibweisen und Ausdrucksmöglichkeiten, die in dieser bürgerlichen, spätbürgerlichen, dekadenten und ausufernden Epoche entwickelt worden sind und von den Vordenkern der sozialistischen Menschengemeinschaft um die Sowjetunion herum inbrünstig verachtet und verfolgt werden.

    All dies vorzuführen, ist ein Genuss. In Esterhazys Buch gibt es keine Handlung. Es gibt keine Hauptfigur, die zur Identifikation einlädt. Von Moral und Parteilichkeit und Volksverbundenheit kann nicht einmal im Ansatz die Rede sein, ganz im Gegenteil: hier ist das Ungezügelte am Werk, der freie Gedankenstrom, die Assoziationsketten, die literarischen Verweisspiele und Binnenräume. Alle paar Seiten wechselt die Atmosphäre, wechseln die Figuren, wechselt das Druckbild. Fotocollagen, Randnotizen, Selbstkommentare, Fußnoten, sperrig und kursiv und fett Gedrucktes sprengen durch das gesamte Textkonvolut, und manche Seiten sind reine visuelle Ausrufezeichen. Was im Westen der sechziger Jahre eine Selbstverständlichkeit des Aufbegehrens war, kehrt im Ungarn der späten achtziger Jahre nun wieder: Pop, Trivialliteratur, Postmoderne, auf nichts als auf sich selbst verweisende Zeichensysteme.

    Sie können Ihre Spiele mit jemand anderem spielen!, schreit der Obergefreite.

    Im Ungarn dieser Zeit war das eine Befreiung, und es erforderte Mut. Das Kapitel "Flucht der Prosa", das den Band eröffnet, führt auf seinen knapp zweihundert Seiten alle Unwägbarkeiten der verhassten bürgerlichen Literatur vor: Es beginnt mit einem Alphabet, in dem hinter jedem aufgerufenen Buchstaben die verschiedensten Wörter aufgeboten werden, in Aufzählungsreihen, die zwischen Kurt Schwitters, Wittgenstein und Wiener Gruppe hin und her irren. Dazu passen die kreuz und quer über die Seiten verteilten Zitate:

    Plinius: Das ist kein Ausweichen, das ist das Werk selbst.

    Die "Flucht der Prosa" geht über Stock und Stein, sie deutet Militärszenarien an und ist dann plötzlich in zivilen erotischen Verwicklungen. Auffällig ist das Datum des 16. Juni, auf das viele Ereignisse angesetzt sind und das in einem Tagebuch, das zeitweilig die Randspalten füllt, immer wiederkehrt, es ist das Tagebuch vom 16. Juni. In einer Gesellschaft, in der literarische Konterbande existieren, kann man davon ausgehen, dass diese Anspielung verstanden wird: der 16. Juni 1904 war der "Bloomsday", der Tag, an dem James Joyces "Ulysses" spielt, für viele das Gründungdatum der literarischen Moderne schlechthin. Müßig zu sagen, dass James Joyce für die Sachwalter des sozialistischen Realismus, zumal für den Ungarn Georg Lukacs, das zu Verteufelnde per se war.

    Die Verdammungsworte realsozialistischer Literaturfunktionäre, nämlich "Formalismus" und "Kosmopolitismus", konnten bei James Joyce geradezu in Reinkultur aufgeboten werden. Man spürt in Peter Esterhazys hakenschlagender Prosa die Lust, diesen 16. Juni seinem ungarischen Text unterzujubeln. Die Namen von Joyce oder gar Ulysses fallen dabei nie, schließlich sollte das Buch ja in Ungarn veröffentlicht werden und trotzdem alle Erscheinungsformen der Samisdat-Literatur beibehalten. Dass das wirklich der Fall sein konnte, ist eine der erstaunlichsten Erfahrungen mit Esterhazys Werk.

    Der 16. Juni spielt nicht nur im eröffnenden Kapitel "Flucht der Prosa" eine Rolle, sondern taucht auch in anderen, völlig anders intonierten Passagen des Buches auf, noch in das letzte Stück "Die Hilfsverben des Herzens", das sich um den Tod von Esterhazys Mutter dreht, schmuggelt sich dieses Datum hinein. Es gibt mehrere solcher Motive, die sich durch die verschiedenen Abschnitte dieser "Einführung in die schöne Literatur" hindurchziehen und sinnlich belegen, dass es sich tatsächlich um ein Werk handelt, das man als in sich geschlossen wahrnehmen kann. So stoßen wir immer wieder auf die Motive des Wurms und der Ratte, nicht nur im Text, sondern auch in den Vignetten und Abbildungen am Rand.

    Die Ratte ist seit jeher ein Wappentier der außenseiterischen Dichter und Quertreiber, und der Wurm wird von Esterhazy nach allen Regeln der Kunst freudianisch inszeniert; die Sexualität spielt in der "Einführung in die schöne Literatur" eine tragende Rolle, und der Wurm ist dabei ein tragendes Bild. Dass er auch gesellschaftlich interpretiert werden kann - armer, kleiner Wurm, ein unterstes Glied der evolutionären Kette -ist dabei kein Zufall, sondern verstärkt das Ganze noch. Ein weiteres Motiv, das den gesamten Band prägt und zusammenhält, ist eine kurze, auf den ersten Blick rein erzähltechnische Passage, die an den unvermutetsten Stellen wiederkehrt. Sie verbindet das Formale mit dem Existenziellen:

    Ich schreibe in der dritten Person Einzahl. Ich fühle mich dadurch sicher, ich hoffe, dass ich nicht so bald sterben werde.

    Die dritte Person Einzahl: dahinter verbirgt sich das Ich. Es kann in die verschiedensten Rollen schlüpfen. Es kann sich unkenntlich machen. Es kann allen Anforderungen und Erwartungen ein Schnippchen schlagen. Und deswegen lebt Esterhazys Prosa vom Augenblick, von der Lust an der Idee und der Situation, an der Erfindung, an den Worten. Sie lässt sich wie bei jeder Literatur, die sich ernst nimmt und bei sich bleibt, nicht nacherzählen. Sie lebt ihr eigenes Leben:

    Große Risse laufen über die Wände, dann fängt der Zusammensturz an. Als ob es zufällig geschähe. Mauersteine purzeln, Zehner Trennwände, Mörtelstücke, Scheinbalken, Füllkörper, Hohlkörper, Fensterrahmen, Klinken, Sandor Csibi, der wolllüsterne Mäurer und Gabriel Sebök, sein nussholzbeiniger Gehülfe, Fliesen, Bilderrahmen, eine Csontvary-Repro, ein schwarzer BH, ein Hut mit Federbusch, ein künstliches Gebiss, der Hungarologische Anzeiger, ein Spazierstock, Kondome, eine Melone, ein gelber Chandler-Band, Strumpfbänder, ein Büstenhalter, lila, ein Band mit Aufsätzen von Thomas Mann, die Partitur der Hommage à Dohnányi, ein Höschen, schmutzig, unendlich und auf mehrfache Weise, winzige Zäpfchen, vollkommene Diskretion.

    Zuerst die Mädchen: mit einem gewaltigen Hohlkreuz, ihre unbedeckte Brust, die Knospe ihrer Zitzen spleißt die ziegelstaubige Luft, ihre Bewegungen sind gleich, aber die eine lacht, es gibt welche, die weinen, und manche Gesichter sind trotzig verschlossen. Die Männer verschränken die Hände vor ihrer Scham, ihr Trikot ist makellos, sie springen, die Sohle nach vorn, eine Kerze. Darüber könnte man sogar lachen, so sieht es aus. Ein modernes Kaufhaus wird hierher gebaut, der Parkplatz wird groß sein und geistreich arrangiert, eine Kinderaufbewahrung wird es auch geben und dort eine große, große, kuschelige Katze, auf der die Kleinen reiten können, wenn sie Lust haben. Brot, Kafir, Boutike, Adidas. Es ist kalt. Ein bisschen Schutt für das Brigadetagebuch, der Kamerad vor mir bückt sich. Ich breite mir mein schwarzes Taschentuch aufs Gesicht. Die alte Frau neben mir hustet, ihre Kamera ist grau vor Staub.


    Die Lust an der Sprache, an der Verselbständigung der Spiele und der Assoziationen geht in Esterhazys Buch weit über die konkrete politische Provokation hinaus. Aber die Grundenergie, den Treibstoff bildet die so vertrackt stabile-labile ungarische Gesellschaft dieser Zeit schon. Es ist mittlerweile nur noch von historischem Interesse, aber dennoch verblüffend, was 1986 in Ungarn möglich war, wie Esterhazy zündelte: über alle Formen des staatlich-literarischen Selbstverständnisses wird sich in einer schamlosen Art und Weise lustig gemacht. Manchmal stehen kokett am Rand Sätze wie:

    Immerhin leben wir in einer Diktatur des Proletariats

    Aber sonst werden Tabus so hemmungslos durchbrochen, dass man nur das Gefühl haben kann: Frechheit siegt. 1956, das traumatische Jahr des großen ungarischen Aufstands, kehrt hier immer wieder, es wird ruckartig aus der Verdrängung herausgezerrt, und die Phase der Regentschaft des kleinen ungarischen Stalin Matyas Rákosi in den fünfziger Jahre kann nur noch satirisch wiederbelebt werden. Der Schauprozess gegen Laszlo Rajk 1949, mit dem sich "viele schmutzige Details verbanden" und nach dem Rajk hingerichtet wurde, wird genauso in Erinnerung gebracht wie spätere korrupte und zynische Zuckungen der Macht.

    In der Tonlage des Romans wird die kommunistische Macht allerdings gar nicht mehr ernst genommen. Sie ist nur noch als Slapstick erkennbar, als Marionettenspiel, jeder weiß, was davon zu halten ist. 1986, als alles noch im Lot schien, schreibt Esterhazy anekdotische Zuspitzungen über die Stasi, die es in Ungarn selbstredend genauso gab wie in der DDR, und er entwirft Witze und kurze Dramolette über die Stasi, dass man sich kopfschüttelnd fragen muss: Was war damals los in Ungarn, dass dieses Buch dort gedruckt werden konnte?

    Genosse Attila F. war ein schwieriger Mensch mit verschlungenen Gedanken. Deshalb wollten sich die Bauern bei der Felderzusammenlegung in gar keiner Weise mit ihm einigen. In Wirklichkeit hatten sie Angst vor seinem Verstand. Dieser Zustand war zu guter Letzt auch dem armen Stasi peinlich, und bei passender Gelegenheit wandte er sich in bittendem Ton an die Bauern: Meine lieben Söhne! Warum wollt ihr euch nicht mit mir einigen? Ich habe doch immer euer Bestes gewollt! Daraufhin ergriff ein alter Ungar das Wort: Das ist es ja gerade, teurer Attila, lieber Genosse...

    Mehrfach bringt Esterhazy in seinen diversen Prosaschüben die Dimensionen von Sex und Diktatur in einen quälenden, voyeuristischen, entlarvenden Zusammenhang, die "Kleine ungarische Pornographie", eine Sammlung von Kleinstbetrachtungen und -erzählungen, verdichtet das alles noch. In der Doppelerzählung "Agnes" und "Daisy", die unter dem Titel "Wer haftet für die Sicherheit der Lady?" schon 1987 in deutscher Sprache erschienen ist, ist diese schwierige Gemengelage von Erotik und Unterdrückung in ein unübersetzbares literarisches Gewebe überführt worden.

    Die Handlung spielt gleichzeitig in Budapest und in Berlin, es ist ein imaginärer, überrealer Ort, der Ost und West schon damals zu verbinden sucht. Wie Agnes in ihrer "Lodenpelerine", einem Kleidungsstück, das authentische, radikale linke Gesinnung offenbart, die breiten Straßen entlanggeht, ist mehr als bloß ein stilistisches Kabinettstückchen, und der dicke Lektoratsgutachter, der ihr verfallen ist, entzieht sich jeglicher voreiligen Identifikation. Esterhazy treibt sein Spiel auf die Spitze, indem er an mehreren Stellen eine Lücke lässt und in eckigen Klammern das Stichwort "Selbstzensur!" einfügt. Manchmal unterbricht er die kurzen Erzählflüsse auch mit dem Einschub "Textverfall", der geradezu objektiv wissenschaftliche Kategorien ins Feld zu führen scheint und an der Unübersichtlichkeit der Verhältnisse zerschellen lässt.

    Esterhazy karikiert den ungarischen "Gulaschkommunismus" in seiner Spätphase kurz vor dem Zerfall, indem er schmerzhaft vorführt, dass sein Buch tatsächlich gedruckt werden konnte: die ideologischen Vorgaben, darauf konnte Esterhazy spekulieren, waren einfach zu schwach geworden; das Ruhigstellen der Bevölkerung durch Konsum und Abwiegeln erforderte sämtliche Energien. Doch die Absurdität der Unterdrückung existierte gleichzeitig daneben: die militärische Durchdringung der Gesellschaft, die kafkaeske Situation des ungebunden Einzelnen wurde durch die Komik der Macht noch lange nicht aufgehoben.

    Die "Geschichte der schönen Literatur" - und das Schöne ist hier dezidiert das Formalistische, Bürgerliche, Spätmoderne - lässt sich jedoch keineswegs auf die Situation ihrer Entstehung begrenzen. Es gibt durchaus Stücke in diesem Buch, die weit über die schiere Provokation hinausgehen und das Eigenleben, die Lust der Literatur feiern. Dass in einem kruden gesellschaftlichen Konsens von der Literatur immer mal wieder das Einfache, Schöne, packend und geradlinig Erzählte gefordert wird, kein formalistischer Schnickschack, keine unverständlichen Spirenzchen, das ist keineswegs auf die Sachwalter eines sozialistischen Realismus beschränkt. Der kapitalistische Realismus hat genauso Konjunktur. Deswegen könnte Esterhazys "Einführung in die schöne Literatur" auch heute noch ein gesundes Gegengift sein. Oder, mit den Worten des unbestimmbaren Erzählers in der dritten Person Einzahl gesagt:

    Es ist hell, trotzdem ist der Morgen noch nicht angebrochen.