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Eislaken auf Feldern

Czernowitz - einst fast vergessen, doch in diesem Jahr, zum 600-jährigen Jubiläum, weckt der Name dieser Stadt in der Bukowina wieder viele Assoziationen. Czernowitz, heute in der Ukraine gelegen, war bis in die zwanziger Jahre eine jüdische Metropole. Ein buntes Völkergemisch lebte in der Stadt: Deutsche und Österreicher, Rumänen, Polen, Ungarn, Russen - und Juden.

Von Helmut Braun, Studiogast: Klaus Werner | 26.01.2008
    Sie stellten bis zu 50 Prozent der Bevölkerung und haben die Kultur in Czernowitz nachhaltig geprägt. Unter Schriftstellern, Malern, Bildhauern, Musikern und Komponisten, Schauspielern und Intellektuellen, Wissenschaftlern oder Unternehmern waren Menschen jüdischen Glaubens besonders stark vertreten, wie die Lyriker Rose Ausländer und Paul Celan, der Maler Oskar Lasker oder die Opernsänger Joseph Schmidt.

    Czernowitz - die Stadt erreichte als Kulturmetropole eine Ausstrahlung weit über ihre Grenzen hinaus. Der erste Weltkrieg beendete die Blüte der Stadt. Materielle Not zwang vor allem die jüdische Bevölkerung zur Emigration, ein Exodus der Künstler und Intellektuellen begann. Diejenigen, die nicht gingen, wurden im zweiten Weltkrieg von den Deutschen ermordet.

    In der Langen Nacht soll an das Werden, Blühen und den Untergang von Czernowitz als jüdische Kulturmetropole erinnert werden.

    Wikipedia: Czernowitz

    Lange Nacht: Eislaken auf Feldern- alte Fassung von 1999

    Die jüdische Kulturmetropole Czernowitz
    Seit einiger Zeit machen sich jedes Jahr mehrere tausend Menschen auf eine beschwerliche Reise in die ukrainische Stadt Tschernivzy. Die Reisenden kommen aus Deutschland, Österreich, den USA und aus Israel. Sie reisen mit dem Flugzeug, per PKW, in Bussen und nächtelang mit der Bahn, verzichten auf Komfort, nehmen den rüden Ton an der Grenze, unangenehme hygienische Verhältnisse, bescheidenes Essen und karge Hotelzimmer in Kauf. Wenn sie nach dem Reiseziel gefragt werden, wird keiner von ihnen sagen :"Ich fahre nach Tschernivzy". Alle werden antworten: "Mein Ziel ist Czernowitz".

    Sie reisen nicht in die Gegenwart, sie reisen in die Zeit, als das heutige Tschernivzy noch das österreichische Czernowitz war. Sie suchen die kuk - Stadt, das literarische Czernowitz und die jüdische Stadt. Für manche von ihnen ist es eine Reise in die Heimat, oder doch zumindest in die Heimat der Eltern und Großeltern. Die anderen kommen weil dieser Ort die Geburtsstadt und Heimat von Rose Ausländer, Paul Celan und Selma Meerbaum-Eisinger ist; weil dort die jiddische Dichter Itzik Manger und Elieser Steinbarg lebten; weil in jener Stadt der Tenor Joseph Schmidt aufwuchs und im "Großen Tempel" als Kantor erste Triumphe feierte. Sie wissen, dass dort "Menschen und Bücher lebten". Sie wollen erkunden, ob Geist und Kultur, die hier atmeten, noch zu finden sind. Sie hörten im Rundfunk, sahen im Fernsehen, lasen in Büchern, das alte Czernowitz sei eine ganz besondere Stadt gewesen, in der 150 Jahre lang möglich war, was heute schon wieder nur Utopie zu sein scheint : ein friedvolles und harmonisches Zusammenleben in einer multikulturell geprägten Stadt.

    Was macht eine Stadt aus? Häuser, Straßen, Parks und Gärten, Schulen, Rathaus, Theater, Kirchen. Sicher auch ihr Umland, Berge, Flüsse, Wald und Flur. Ganz sicher die Möglichkeiten zur Arbeit, zu Handel und Wandel, die Angebote der Kultur. Aber ganz besonders ist die Stadt Ort der öffentlichen und privaten Kommunikation und damit wird ihr Geist, Charme und Flair durch die Menschen bestimmt, die in ihr leben.

    Alle, die sich erinnern, betonen das Besondere an Czernowitz sei das Völkergemisch gewesen, welches in dieser Stadt lebte. Damit war der Ort ein getreues Spiegelbild des Staates Österreich-Ungarn. Ruthenen lebten in Czernowitz, es war die ukrainische Urbevölkerung, Deutsche und Österreicher, Rumänen und zu diesen vier großen Gruppen kamen Minderheiten von Polen, Armeniern, Ungarn, Russen, Huzulen, Lipowanern, und Zigeunern hinzu. Juden nennt ein solche Aufzählung nicht. Sie wurden nicht als eigene Nationalität anerkannt.

    Die Menschen sprachen verschiedene Muttersprachen - ruthenisch, deutsch, jiddisch, rumänisch, polnisch - behielten diese bei und lernten andere Sprachen hinzu ; zwei oder drei Sprachen beherrschte jeder, in weiteren konnte man sich verständlich machen.

    Die Einwohner brachten auch verschiedene Kulturen mit und pflegten diese weiter. Vielfältigkeit war zwangsläufig Trumpf. Toleranz und Liberalität bestimmten das tägliche Leben. Und es waren die verschiedensten Religionen vertreten. Es gab Juden, Moslems, Katholiken, Russisch-Orthodoxe, Griechisch-Orthodoxe, armenische Christen, Kopten und Protestanten - auch das führte nicht zu ernsthaften Problemen. Nicht dass das Zusammenleben völlig konfliktfrei war, aber die üblichen Streitereien, die wirtschaftliche Konkurrenz, die gelegentliche Kriminalität gründeten zumindest während der österreichischen Zeit der Stadt nicht auf Rassismus oder Fundamentalismus.

    Jüdische Menschen haben Czernowitz und die Kultur dort ganz besonders deutlich geprägt. Warum war Czernowitz für Juden so attraktiv ? Auch hier finden sich die Antworten in der Geschichte der Stadt. Festzuhalten ist, dass Juden im 18. Jahrhundert weitgehend rechtlose Menschen waren, die als extrem belastete Steuerzahler, als Geldverleiher für Könige und Kaiser, zur Verrichtung in schlecht angesehenen Berufen willkommen waren, deren man sich aber nach Lust und Laune entledigen konnte, die man um Hab und Gut brachte, vertrieb und auch immer wieder in Pogromen ermordete.

    In der Bukowina aber verfügten über einen Zeitraum von hundert Jahren die österreichischen Kaiser die Gleichstellung der Juden mit allen anderen Bevölkerungsgruppen. Sie wurden integriert, durften sich frei niederlassen, sich bilden, jeden Beruf ausüben, durften wählen und waren wählbar. Besonders in Czernowitz haben die Juden diese Chancen genutzt. Sie studierten, etablierten sich in vielen Berufen, bauten die Stadt tatkräftig mit auf, assimilierten sich in der deutschen nach Wien orientierten Kultur, erlebten einen sozialen Aufstieg und wurden zu überzeugten Österreichern und Monarchisten. Im Laufe der Jahre fügte sich das Bild der jüdischen und deutsch-jüdischen Stadt, die als Kulturmetropole eine Ausstrahlung weit über ihre Mauern hinaus erreichte.
    Transnistien 1941

    Eislaken auf Transnistriens Feldern
    wo der weiße Mäher
    Menschen mähte

    Kein Rauch kein Hauch
    atmete
    kein Feuer
    wärmte die Leichen
    Im Schneefeld schlief das Getreide
    schlief die Zeit
    auf Schläfen

    Die Zunge der Himmelswaage
    ein funkelnder Eiszapfen
    bei 30 Grad Celsius unter Null

    (Rose Ausländer, aus: Gesamtwerk, Foscher Taschenbuch, 1996)
    Rose Ausländer resümierte:" Eine versunkene Stadt, eine versunkene Welt" - und doch, es ist gut zu wissen, dass die multikulturelle Stadt nicht nur Utopie sein muss.

    EINE GAUNER UND GANOVENWEISE
    GESUNGEN ZU PARIS EMPRÉS POITOISE
    VON PAUL CELAN
    AUS CZERNOWITZ BEI SADOGORA


    Damals, als es noch Galgen gab,
    da, nicht wahr, gab es
    ein Oben.

    Wo bleibt mein Bart, Wind wo
    mein Judenfleck, wo
    mein Bart, den du raufst?

    Krumm war der Weg, den ich ging,
    krumm war er, ja,
    denn, ja,
    er war gerade.

    Heia.

    Krumm, so wird meine Nase.
    Nase.

    Und wir zogen auch nach Friaul.
    Da hätten wir, da hätten wir.
    Denn es blühte der Mandelbaum.
    Mandelbaum, Bandelmaum.
    Mandeltraum, Trandelmaum.
    Und auch der Machandelbaum.
    Chandelbaum.

    Heia.

    Aum.

    (Paul Celan, aus: Gesamtwerk, Surkamp Verlag)

    Informationen über Czernowitz

    Autoren aus Czernowitz (u.a.):

    Rose Ausländer
    Paul Celan
    Gregor von Rezzori
    Selma Meerbaum-Eitinger,
    Moses Rosenkranz
    Alfred Kittner
    Imanuel Weissglas
    Alfred Gong
    Edith Silbermann
    Itzik Manger

    Literaturtips:

    Czernowitz
    Die Geschichte einer untergegangenen Kulturmetropole.
    Hrsg. v. Helmut Braun
    2005 Links
    Steinerne Zeugnisse erinnern heute zwar noch an das "Goldene Zeitalter" der k.u.k. Monarchie, als Czernowitz die pulsierende Hauptstadt des Kronlandes Bukowina war und stolz die östlichste Universität des Westens vorwies. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg war die Vielvölkermetropole eine menschenleere Stadt. Die Deutschen hatte man "heim ins Reich" geholt, die Juden ausgerottet, die Polen, Ungarn, Armenier waren während des Krieges geflohen, und die Rumänen gingen, als die UdSSR die nördliche Bukowina annektierte. Das Buch zeigt in vielen Bildern das alte Czernowitz und stellt ihm das heutige Tschernivzy gegenüber. Die Autoren erzählen von der Vergangenheit und Gegenwart der Stadt und beleuchten die besondere Rolle, die die Literatur hier spielte. So ersteht vor dem Auge des Lesers eine untergegangene Kulturmetropole, die es verdient hat, wieder entdeckt zu werden.

    Czernowitz / Bukowina: Wo Menschen und Bücher leben

    Zvi Yavetz
    Erinnerungen an Czernowitz
    Wo Menschen und Bücher lebten.
    2007 Beck
    Die Geschichte der Stadt Czernowitz und ihrer Menschen ist die Geschichte einer einzigartigen Kulturmetropole, die zum Symbol für das lange Zeit friedliche Zusammenleben von Ukrainern, Rumänen, Polen, Ruthenen, Juden und Deutschen wurde, ehe der Zweite Weltkrieg und die Verbrechen der deutschen Besatzer die kulturelle Blüte der Stadt ein für allemal zerstörten. Zvi Yavetz läßt in seinen Erinnerungen an die 1930er und 1940er Jahre in Czernowitz eine untergegangene Welt wieder lebendig werden. In bewegenden Bildern berichtet er vom jüdischen Alltag in einer Stadt, aus der so unterschiedliche Dichter und Gelehrte wie Paul Celan, Rose Ausländer, Erwin Chargaff oder Josef Schumpeter hervorgingen.
    Zvi Yavetz, Professor em. für Alte Geschichte an der Universität Tel Aviv, schildert seine Kindheit und frühe Jugend in Czernowitz. Geboren 1925 als Sohn jüdischer Eltern, wuchs er in einer Zeit des Umbruchs auf, als die "alte Welt" der k.u.k. Monarchie, in der ein bewegtes literarisches Leben, das Mit-einander von Sprachen und Völkern den Alltag in Czernowitz prägten, sich ihrem Ende zuneigte. In bewegenden Bildern bringt Zvi Yavetz die längst vergangene Welt der 1930er und 1940er Jahre zum Leben. Mit eindrücklichen Worten in "Czernowitzer Deutsch" beschreibt er das Zusammenleben, aber auch die Unterschiede der geistigen Heimat von Ukrainern, Rumänen, Deutschen, Polen und Juden. Vor den Augen des Lesers entsteht so das Bild einer längst vergangenen Welt, einer Kulturmetropole, die ihresgleichen sucht.

    Klaus Werner (Hrsg.)
    Fäden ins Nichts gespannt
    Insel-Verlag, Frankfurt am Main
    Anthologie der Bukowiner Dichter
    (als hervorragend - beurteilt Helmut Braun diese Anthologie)

    Andrei Corbei-Hoirie (Hrsg.)
    Czernowitz - Jüdisches Städtebild
    Jüdischer Verlag, Frankfurt am Main
    Diverse Erzählungen und Gedichte und Fotos
    (sehr wichtiges Buch - betont der Autor Helmut Braun)

    siehe auch:
    Edgar Hilsenrath
    Das Testament des Joeel Wassermann
    Piper Verlag, München 1991

    Albert Londres
    Ahasver ist angekommen
    DTV , München 1998
    (er bereiste 1929 Osteuropa und schreibt auch über Czenrnowitz)

    Rose Ausländer
    Czernowitz, Heine und die Folgen
    Materialien zu Leben und Werk
    S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 3. Auflage 1997

    Links:

    Hagalil.com: Jiddisch - Die Mameloschn
    Eine Sprache, ihr historischer und kultureller Hintergrund
    (Ein Vortrag von Chaim FRANK)

    Hagalil.com: Chassidismus 4
    Diese Geschichte tat nichts gegen sein Ansehen, sondern brachte ihn vielmehr noch den Ruf eines
    Maertyrers ein. Nach seiner Flucht aus dem Zarenreich liesz er sich in Sadagora, unweit von Czernowitz,
    nieder, wo er ein so auffaelliges Leben fuehrte, dasz sich der Volksmund sogar erzaehlte er wolle hier, in dem
    Stetl, einen Tempel wie jener in Jerusalem errichten. Natürlich fußte die Größe seinen Rufes nicht ...


    Deutschlandfunk: Büchermarkt, John Felstiner: Paul Celan. Eine Biographie

    Wilhelm Reich stammte aus der Bukowina, dem östlichsten Teil des ehemaligen österr.-ungarischen Reiches. Seine Eltern, Gutsbesitzer, hatten sich aus der jüdischen Tradition ihrer Vorfahren gelöst und der deutschen Kultur assimiliert, ohne jedoch einer christlichen Kirche beigetreten zu sein. Reich wurde zunächst durch Privatlehrer unterrichtet und besuchte später das Gymnasium der Provinzhauptstadt Czernowitz.
    Wilhelm Reich ohne Freud/Marx/Orgon

    Herr Zwilling und Frau Zuckermann
    ein Film von Volker Koepp
    126 min. VHS-PAL
    Video erhältlich bei:
    www.salzgeber.de

    Kritiken zu "Herr Zwilling und Frau Zuckermann"
    aus: Die Welt

    "Woher nimmt man nur Massel und Glück?" Wie sich Mathias Zwilling aus Czernowitz in Volker Koepps "Herr Zwilling und Frau Zuckermann" sieht Von Antje Schmelcher Czernowitz lag einmal in der Mitte Europas. Heute liegt es im Osten, und die Hürden zum Westen sind das Visum, das es nur im 600 Kilometer entfernten Kiew gibt und eine 300 Kilometer lange Autofahrt über holprige Straßen zum nächsten Flughafen in Lemberg. Etwas abgehetzt sitzt daher der schmale Herr Zwilling aus Czernowitz neben "seinem" Regisseur Volker Koepp in einem Hörfunkstudio des SFB, um über die Deutschlandpremiere ihres Films "Herr Zwilling und Frau Zuckermann" zu reden.

    Ganz unversehens ist der 1929 geborene Bukowiner Jude Mathias Zwilling zum Protagonisten in diesem Dokumentarfilm geworden. Zwei Monate lang, im März und im September 1998 hatte Koepp in der früheren Hauptstadt der Bukowina die Spuren jüdischer Geschichte gefilmt. Herr Zwilling ist eine solche Spur. Er gehört zu den wenigen, die die grausamen Pogrome und die Deportationen von 1941 bis 1945 überlebt haben. "Von den 90 000 nach Transnistrien gebrachten Juden sind 9000 zurückgekehrt", sagt er. Viele der Überlebenden emigrierten, die bekanntesten von ihnen sind die Dichter Paul Celan, Rose Ausländer, Gregor von Rezzori und Moses Rosenkranz. Doch heute leben in Czernowitz nur noch 4000 meist zugewanderte Juden. Etwa 30 alte Bukowiner Juden sind darunter, von denen nur noch fünf deutsch sprechen, darunter Herr Zwilling und Frau Zuckermann, deren gesamte Familie im Lager gestorben ist.

    So zieht es Herrn Zwilling, der sich standhaft als Österreicher bezeichnet, obwohl er schon einen deutschen, einen rumänischen, einen russischen und einen ukrainischen Paß hatte, seit sechs Jahren jeden Abend zur 90 Jahre alten Kaiser - Franz - Josef - Anhängerin Frau Zuckermann. Die überzeugte Zionistin kommt aus einer armen Familie strenggläubiger Juden und ihr Deutsch hat einen jiddischen Akzent im Gegensatz zum gedehnt-großbürgerlichen Wienerisch von Herrn Zwilling. Vor dem Ofen sehen sie aus wie zwei Gestalten, die auf "Godot" warten.

    Volker Koepp hat um diese abendlichen Begegnungen einen bewegenden und sehr poetischen Film gedreht, der zutiefst von jüdischem Witz geprägt ist. Vor dem Kachelofen liest Herr Zwilling mit verhaltenem Lachen aus "Die Stimme" vor, der Zeitung der Bukowiner Juden in aller Welt. Ein Überlebender schreibt darin: "Der erste Weltkrieg brachte mich 1000 Kilometer weiter nach Westen, nach Wien. Der zweite Weltkrieg brachte mich 7000 Kilometer weiter nach Westen, nach Ecuador. Ich war ein nach Westen sich bewegender Ostjude, und ich sagte mir, noch zwei solche Kriege und ich seh' wieder Czernowitz."

    Mit dem feinsten Sinn für Gegensätze hat Volker Koepp seine Bilder komponiert. So erfährt man aus Frau Zuckermanns Wohnzimmer mehr über die Geschichte der Stadt als in deren Abbildung. Nur auf wenigen Gängen begleitet die Kamera Herrn Zwilling auf der Straße. Mit seinen Augen sieht man, wie sehr sich die einst prächtigen Gebäude wie das Theater und das Jüdische Haus vom Glanz ihrer Vergangenheit entfernt haben. "Es ist wie ein Traum, dass ich hier gelebt habe", sagt Herr Zwilling, und er sagt es im Perfekt, als sei er schon nicht mehr ganz von dieser Welt. Denn Herr Zwilling gehört zu der alten Welt, als die Herrengasse noch die prächtigste Flaniermeile der Stadt war. Heute läuft er an den Schirmen und Ständen der Straßenhändler vorbei. Die Kamera zeigt ihn auch im verwitterten Flur des ehemaligen jüdischen Spitals, wo er die Namen der Chefärzte aufzählt, die hier gearbeitet haben, österreichische Namen von Freunden und Bekannten der Eltern. Im Jüdischen Haus hat die Stadt der jüdischen Gesellschaft Elieser Steinback drei Zimmer zur Verfügung gestellt. Das Haus wurde nie zurückgegeben, da es immer noch keine Jüdische Gemeinde in Czernowitz gibt. In einem dieser Zimmer zeigt der Film eine alte Frau, die mit brüchiger Stimme ein jiddisches Lied singt mit dem fragenden Refrain "Woher nimmt man nur Massel und Glück?".

    Herr Zwilling wohnt heute immer noch im ehemaligen kleinen jüdischen Ghetto, doch das zeigt der Film nicht. Hier wurden ständig Wohnungen frei, weil von diesem Ghetto aus direkt deportiert wurde. Da seine Mutter als Ärztin gebraucht wurde, entkam die Familie Zwilling dem Tod. Ein Zufall wollte es, dass die Zuckermanns vor ihrer Deportation in ebendieser Wohnung gelebt hatten. Czernowitz war klein, heute ist Czernowitz leer.

    Daher hatte Herr Zwilling beschlossen, selbst zum Stadtführer und Spurensammler zu werden und ist so auf Volker Koepp getroffen. Nach der Premiere steht er klein und etwas verloren vor dem Publikum und sagt auf seine typische Art: "Wenn ich das jetzt höre, denke ich, das hätte ich anders sagen können." Seine Art traurig zu sein und dabei zu lachen hat sich während der Vorführung auf das Publikum übertragen. Denn Herr Zwilling und Frau Zuckermann sind ein schauspielreifes Gespann in ihrem variantenreichen Spiel zwischen Optimistin und Pessimist. "Wir sind eine Symbiose aus zwei ganz unterschiedlichen Menschen", sagt Herr Zwilling, "Frau Zuckermann ist Optimistin, weil sie das Leben nicht kennt." Vor dem Hintergrund von Frau Zuckermanns Schicksal wirkt das wie eine böse Unterstellung, doch Herr Zwilling meint damit nicht die Vergangenheit, sondern die Gegenwart. Frau Zuckermann gibt den Kindern der reichen Czernowitzer täglich Sprachunterricht, der in Dollar bezahlt wird. Herr Zwilling, der Textilchemie unterrichtet, hat dagegen gerade sein Gehalt von Dezember 1996 erhalten. Und er fügt hinzu: "Die Russen sagen, ein Pessimist ist ein gut informierter Optimist."

    Auf der Premierenfeier versucht Herr Zwilling, ein Salamibrötchen zu essen, aber sein Tisch wird belagert von Leuten, die ihm die Hand schütteln, Fragen stellen und Geschenke überreichen. Zu einer alten Dame sagt Herr Zwilling: "Frau Gold, ich habe Verwandte von ihnen entdeckt." "Kennen die mich", fragt Frau Gold. "Nein, aber die kennen alle Gräber der Golds in Czernowitz." Eine andere Frau bittet Herrn Zwilling um eine Recherche und notiert seine Telefonnummer. "Ich rufe sie dann abends an", sagt sie. "Nein", sagt ihre Nachbarin, "da ist er doch bei Frau Zuckermann."
    www.welt.de

    Vom Glück und von der Kunst des Überlebens
    Volker Koepps "Herr Zwilling und Frau Zuckermann"

    Vor fünfzig Jahren hätte sie jeden umgebracht, der ihr gesagt hätte, sie würde einmal einem Deutschen die Hand reichen, gesteht die für ihre 90 Jahre erstaunlich wache und quirlige Rosa Roth-Zuckermann dem Dokumentarfilmer Volker Koepp während ihrer langen Gespräche mit ihm. Dass sie dem Deutschen heute vor der Kamera ihr Leben erzählt und ihre Seele öffnet, zeugt nicht nur von einer inneren Abgeklärtheit der eigenen Vergangenheit gegenüber, sondern auch von einem Glauben an die Werte der deutsch- jüdischen Kultur der einstigen Bukowina, in deren Hauptstadt Czernowitz sie aufgewachsen ist - und heute wieder lebt. Frau Zuckermann ist literarisch gebildet, zitiert Heine, Rilke und François Villon, und voller Stolz spielt sie dem deutschen Gast eine Kassette vor, auf der der ebenfalls in Czernowitz geborene Paul Celan Verse aus seiner Lyriksammlung "Mohn und Gedächtnis" rezitiert. Die rüstige Greisin verdient sich ihren kargen Lebensunterhalt mit Englischstunden an die Kinder von Leuten, die in den Westen auswandern wollen.

    Czernowitz gehört heute zur Ukraine. Als Frau Zuckermann geboren wurde, war die Bukowina noch eine Provinz der österreichisch-ungarischen Monarchie. Die alte Dame bekennt sich noch heute als Monarchistin, denn so viele Rechte wie unter Kaiser Franz Joseph haben die Juden von Czernowitz seither nie mehr bekommen. Im Ghetto, das das faschistische Rumänien während des Zweiten Weltkriegs errichtete, verlor Frau Zuckermann ihre gesamte Familie. Nur durch einen Zufall überlebte sie selbst die 1941 verordneten Deportationen in die Lager Transnistriens. Seit sechs Jahren erhält Frau Zuckermann jeden Abend Besuch von dem zwanzig Jahre jüngeren Mathias Zwilling. Ihn haben die beiden Weltkriege in eine Odyssee durch die halbe Welt getrieben. Heute unterrichtet er an einer Gewerbeschule in Czernowitz Chemie. Was die beiden Alten miteinander verbindet, ist nicht zuletzt die deutsche Sprache, genauer: ein liebenswürdiges Gemisch von Deutsch, Jiddisch und Wienerisch. Sie erzählen sich, was sie am Tage erlebt haben, und diskutieren die Informationen, die ihnen am Fernsehen geboten werden. Herr Zwilling, um eine Hiobsbotschaft nie verlegen, sieht dabei von allem stets die negative Seite. "Ich bin ein Pessimist, der fast immer recht hat", erklärt er. Frau Zuckermann, eine unerschütterliche Optimistin, versucht ihn jeweils aufzuheitern.

    Den schon fast zum Ritual gewordenen Wortgefechten dürfen Volker Koepp und sein Kameramann Thomas Plenert ungeniert beiwohnen. Manchmal bittet Koepp Herrn Zwilling, ihm etwas vorzulesen oder ihn irgendwo hinzuführen - zum ehemaligen jüdischen Gemeindehaus etwa, in die Synagoge oder auf den jüdischen Friedhof. Nie aber fügt er den Aussagen der beiden oder denjenigen von anderen Bewohnern des Ortes einen Kommentar bei. Dass "Herr Zwilling und Frau Zuckermann" zu einem derart bewegenden, das ganze Jahrhundert tangierenden Dokument geworden ist (der Film wurde dieses Jahr in Nyon mit dem Grossen Preis ausgezeichnet), ist der Geduld des Regisseurs mit seinen beiden einzigartigen Gewährsleuten zu verdanken. Herr Zwilling ist diesen Sommer gestorben, was den dokumentarischen Wert des ganzen Films noch unterstreicht, der zu einem echten Zeugnis erlebter Geschichte geworden ist. (Kino Movie in Zürich).
    Gerhart Waeger, aus: © Neue Zürcher Zeitung - 19.11.1999

    Willi Jasper / Julius H Schoeps (Hg.)
    Deutsch-jüdische Passagen
    Europäische Stadtlandschaften von Berlin bis Prag
    Hoffmann und Campe
    ISBN 3-455-08397-8, DM 78,--
    Die jüdischen Kulturstätten und sichtbaren Zeugnisse deutsch-jüdischer Verflechtungen in Europa gibt es nicht mehr. Was bleibt, ist die historische Beschreibung einer untergegangenen Welt in ihrem wechselhaften Verlauf durch die Jahrhunderte. Das ist die Intention dieses Buches. Es ist kein Reise- oder Kulturführer, auch keine allgemeine Geschichte der Juden. Es ist eine informativ und anschaulich geschriebene Beziehungsgeschichte zwischen Juden und Nichtjuden im deutschsprachigen Raum. Sie war abhängig von den historischen Prägungen der jeweiligen Städte und Orte, in denen es jüdische Gemeinden gab. Folgerichtig werden die unterschiedlichen Entwicklungen dargestellt am Beispiel von 21 Städten mit ihren Besonderheiten. Die Beziehungsgeschichten reichen von den ersten Ansiedlungen über die Wechselbäder von Verboten, Schikanen, Vertreibungen und Liberalisierungsphasen mit deutsch-jüdischen Blütezeiten in Wirtschaft und Kultur, bis zur Auslöschung im Holocaust und vereinzelten Neugründungen jüdischer Gemeinden heute. Die historischen und aktuellen Passagen führen durch Stadtlandschaften wie Berlin und Wien, Hamburg, Frankfurt, Köln, Straßburg und Zürich, Breslau, Königsberg, Prag und Czernowitz. Ein in dieser Form einmaliges Buch, das in der Vielfalt seiner Bilder das deutsch-jüdische Beziehungsgeflecht mit all seinen antisemitischen Katastrophen, aber auch mit urbanem Gemeinschaftssinn für uns heute einsehbar und verständlich macht. Darüber hinaus ist es auch eine Ansammlung kleiner Stadtchroniken von den Anfängen bis zur Gegenwart.

    Die Landschaft der Bukowina in der deutschsprachigen Lyrik
    Von: Krzysztof Lipinski, Kraków/Polen
    Rot war der Schmerz
    Meiner Kindheit.
    Ähre und Mohn
    Und Weißwolkenzeug -
    Bukowina.


    Georg Drozdowski
    Literarische Texte entstehen nicht im Leeren, sondern in einem konkreten sozialen, politischen und historischen Kontext. Sie können nicht selten als beinahe seismographische Widerspiegelungen der existentiellen Situation des Autors betrachtet werden. Auch die deutschsprachige Lyrik der Bukowina bedarf zu ihrer Interpretation einer spezifischen Rekonstruktion ihres Umfelds. Ohne diese Prämissen bleibt dieses Niemandsland der Buchen ein Utopia am Pruth.

    Die Geschichte dieser "Gegend" in den letzten zwei Jahrhunderten ist für die Entwicklung der deutschsprachigen Literatur maßgebend. Die Bukowina, eine historische Landschaft am Pruth, war im 14. Jahrhundert Teil des Fürstentums Moldau, in den Jahren 1514-1775 gehörte sie zum Osmanischen Reich, und 1775 kam sie an Österreich. Mit dieser Annexion entstanden die Voraussetzungen für die Herausbildung einer deutschsprachigen Minderheit jüdischer Herkunft, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Paul Celan, Rose Ausländer und andere Autoren hervorbrachte.

    Im Herzogtum Bukowina war die Lage der Juden eine besondere. Anders als in Galizien waren die bukowinischen Juden auch Bauern, und obwohl sie nur die drittstärkste Bevölkerungsgruppe der Bukowina darstellten, bildeten sie in der Landeshauptstadt Czernowitz einen wichtigen, wenn nicht dominierenden Bestandteil der kulturellen und wirtschaftlichen Elite der Stadt.

    Diese besondere Stellung war durch die begünstigende Politik Österreichs möglich; als Träger der habsburgischen Staatsidee übernahmen die Czernowitzer Juden auch die deutsche Sprache und Kultur; beides war zusätzlich eine Möglichkeit der Emanzipation. Um die Jahrhundertwende erreichten die Czernowitzer Juden somit eine Stellung, die in keinem anderen Kronland der Monarchie ihresgleichen fand. Sie waren verweltlicht, bürgerlich und habsburgisch wie keine anderen. Das "Erreichbare, fern genug, das zu Erreichende hieß Wien" (Paul Celan). Aber auch an Ort und Stelle wurde die deutsche Sprache zu einem Medium der Bildung und Assimilation. Im Jahre 1875, hundert Jahre nach der Annexion der Bukowina durch Österreich, wurde die Alma Mater Francisco-Josephina gegründet, die östlichste deutschsprachige Universität in Europa. Nicht die schwäbelnden Deutschen aus den Dörfern der Umgebung, sondern die hochdeutsch sprechenden assimilierten Juden waren an der deutschsprachigen Universität interessiert. Jiddisch betrachteten sie, wie Paul Celan selbst, als "verdorbenes Deutsch", ihre Kultur- und Muttersprache war die deutsche Literatursprache, das Deutsch eines Goethe, Hölderlin, Heine. Aber auch moderne und modernste Strömungen der deutschsprachigen Literatur erreichten diese "verlorene Gegend": Rilke, George, Trakl, Else Lasker-Schüler, Brecht, Mann, Hesse und nicht zuletzt Karl Kraus - "Czernowitz war eine Stadt von Schwärmern und Anhängern" (Rose Ausländer). Andererseits existierte im benachbarten Marktflecken Sadagora ein wichtiges Zentrum des Chassidismus, der Hof der Rabbiner-Dynastie Friedmann. Somit erreichte in Czernowitz sowohl das emanzipierte als auch das orthodoxe Judentum einen besonderen Status.

    Verein für Sprach- und Kulturaustausch mit Mittel- und Osteuropäischen Ländern

    gegründet von Stipendiaten der Robert Bosch Stiftung
    Begeisterung für Sprachen und Kulturen in Mittel- und Osteuropa zu wecken und zu vermitteln und damit einen Beitrag zur Verständigung zwischen den Menschen und Völkern dieser lebendigen und vielgestaltigen Kulturräume zu leisten - das ist unser Ziel.

    Wo die Wälder jiddisch rauschen
    Sie lebt noch, die jiddische Sprache: Josef Burg feiert sie in jeder Zeile; kürzlich auch in Zürich. Von Christine Lötscher Wenn Josef Burg das Wort "Bukowina" oder "Czernowitz" ausspricht, und das tut er oft, klingt es wie eine Beschwörung von tausend abgebrochenen Melodien. Seit seit dem Einmarsch der Deutschen in seiner Heimat ist der jiddische Autor in seinen Texten auf der Suche nach der vergessenen Melodie einer Jugend: sehnsüchtig, voller Schmerz über die Zerstörung der blühenden jüdischen Kultur in Czernowitz, dem multikulturellen "Klein-Wien" der k. u. k. Monarchie. Weder von Hitler noch von Stalin liess sich der heute fast 87-jährige Autor ganz aus der Stadt vertreiben, die dutzendweise Schriftsteller hervorgebracht hat - unter anderen Paul Celan und Rose Ausländer. Immer wieder kehrte Burg zurück, und wo die anderen nichts als Zerstörung sahen, hört er die Flüsse noch heute jiddisch fliessen, die Wälder jiddisch rauschen.