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"Elektra"-Inszenierung
Die Verantwortung der Götter für die Sterblichen

Nicht immer haben Stefan Puchers Fusionen aus Klassischem Theaterrepertoire, Pop-Klischees und Stereotypen funktioniert. Aber seine "Elektra" am Deutschen Theater in Berlin trifft einen modernen Kern der Tragödie: Wenn Götter etwas anrichten, bleiben die Sterblichen in deprimierender Ratlosigkeit zurück.

Von Eberhard Spreng | 23.11.2013
    Gerüste, wie man sie von Popkonzerten kennt, türmen sich auf; zwischen ihnen sind Leinwände gespannt, auf denen Videobilder aufflammen. Das alles steht auf steil ansteigenden Stufen mit Verzierungen im Stil vergangener Jahrzehnte, flankiert von Spiegelsäulen. Hier hat sich der Chor der Unzufriedenen versammelt, um Elektras unerfüllte Rachegelüste mitzuerleben.
    Kommt! Helft! Rächt den Mord an meinem Vater!
    Und schickt mir meinen Bruder
    Kind, o Tochter, der elenden Frau,
    Elektra, sag uns wie lang
    soll dein Jammern in Tränen zerschmelzen
    Möge der sterben, der dieses getan.
    In einem gestreiften Anzug steht diese Elektra auf der Bühne und damit ungefähr in der schäbigsten Aschenputtelabendgarderobe, die die Damen in dieser Aufführung zu bieten haben. Denn ihre opportunistische Schwester Chrysothemis tänzelt in einem opulenten glitzernden Ballkleid herbei, um zu Vorsicht, Mäßigung und Anpassung zu mahnen.
    Auch die Vatermörderin Klytaimestra taucht in einem Gewand auf, das man vom Fernsehballett geliehen haben könnte. Elektra ist also dabei, mit ihren ewigen Trauergesängen, dem Erinnern an den ermordeten Vater und den Racheankündigungen eine Showveranstaltung zu stören, die irgendwo nahebei stattfindet und deren Teilnehmer von der Vorgeschichte nichts mehr wissen wollen. Katharina Marie Schubert spielt diese Spaßbremse mit jungenhaftem Krächzen, präpotentem Gehabe und leicht ironischem Furor. Mit der schnippischen Partygöre Chrysothemis wird sie leicht fertig, aber die Begegnung mit der verhassten Mutter wird zum erstzunehmenden Streit über Fragen der Schuld.
    Sie hatten kein Recht, mein Kind zu schlachten. Für Menelaos also, seinen Bruder, stand er nicht in meiner Schuld? Hat er nicht selbst zwei Kinder, die nach dem Recht mehr als mein Kind sterben mussten? Da sie ja Kinder jenes Manne und jener Frau waren: Sie war der Grund, Helena, um die es bei dieser, häh! Seefahrt ging.
    Susanne Wolff spielt eine herrlich spöttische, abgeklärte Ex-Ehefrau, die aus erlebtem Leid im Kampf um die Macht gelernt hat und nun mit ihrem neuen Lover Aigisthos ziemlich gnadenlos das Regiment einer neuen Epoche in der Geschichte der Atridenfamilie führt. Und so kommt es mit der widerspenstigen Tochter zu einem Streit der Rechtsauffassungen. Wo Klytaimestra ganz im Sinne eines irdischen Rechts argumentiert, bringt Elektra die Götter ins Spiel, Artemis etwa und deren Forderung nach Agamemnons Iphigenie-Opfer in Aulis.
    Allem Pop-Gehabe zum Trotz: Stefan Pucher arbeitet Kernmotive der Tragödie heraus und hier insbesondere den innerfamiliären Mutter-Tochter-Konflikt. Orest erscheint hingegen in der Verkörperung durch Felix Goeser so als ginge es darum, die antike Männervormachtstellung modern zu brechen: Das ist ein depressiver Kerl, den man zur Tat treiben muss, erdrückt vom Schicksal, wie entseelt durch Drogen. In der Videoprojektion schlägt er mit der Axt auf ein Klytaimestra-Abbild ein. Die kriminelle Verrichtung in dieser Tragödienvision ist eher ironisches Bild-im-Bild-Zitat.
    Eine sich drehende Axt etwa, auf deren Griff die Kontur einer Frau mit zwei Messern tanzt, ist ein eher lustiges Video. Die Musik tut ein Übriges: "Death to Everybody" von Bonnie Prince Billy singt der kleine Tragödienchor und ein hingesäuseltes "Home is where you are happy", von Mord-Ikone Charles Manson.
    Die Atridentragödie könnte zur Rechtfertigung einer anarchischen Blutherrschaft werden: Einer Rachelogik des Mordes jeder gegen jeden. Am Ende trägt auch Elektra ein Abendkleid, auch sie hat sich jetzt eingereiht in die Gruppe der Unschuldig-Schuldigen.
    Nicht immer haben Puchers Fusionen aus Klassischem Theaterrepertoire und Pop-Klischees und Stereotypen funktioniert. Aber seine "Elektra" trifft einen modernen Kern der Tragödie: Wenn die Götter auf der Erde nicht in Ordnung bringen, was sie zwischen den Menschen angerichtet haben, dann bleiben die Sterblichen in moralischem Unheil und deprimierender Ratlosigkeit zurück.