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Elektroakustische Klanggewalten

Pierre-Alain Jaffrennous' "Propos" widmet sich elektroakustischer Musik. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit wurzelt in der Verbindung von Kunst und Wissenschaft. Und Raphael Cendos Werk "Furia" bedient sich Elementen des Free Jazz und der Rockmusik. Cendos bezeichnet seine Musik als "situationsgebunden".

Von Yvonne Petitpierre | 09.09.2012
    Am Mikrofon begrüßt Sie Yvonne Petitpierre. Ich stelle Ihnen heute zwei Aufnahmen vor, die kürzlich bei dem französischen Label AEON erschienen sind. Die Herausgeber programmieren seit einigen Jahren sehr ambitioniert abseits jeglichen Mainstreams und konzipieren ihre Editionen vor allem monografisch. Somit sollen die unterschiedlichen Ästhetiken eines Komponisten jeweils möglichst breit vorgestellt werden, und das weitgehend mit Weltersteinspielungen.

    So entführt der erste Tonträger in die Klangwelt des hierzulande kaum bekannten Franzosen Pierre-Alain Jaffrennou, geboren 1939 in Besançon. Ein Komponist, der über einen sehr breiten naturwissenschaftlichen Hintergrund, verfügt - er studierte Mathematik und Geowissenschaften, Logik und Analyse. Erst nach abgeschlossener Promotion widmet sich Jaffrennou dem Musikstudium in seiner Heimatstadt sowie in Lyon und besucht in Paris am Konservatorium die Klassen für Elektroakustik bei Pierre Schaffer. Ab 1971 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der "Group de Recherche Musicale ORTF" und gründete gemeinsam mit Francis Regnier ein Labor für wissenschaftliche Forschung und Entwicklung von am Computer gesteuerten Klangsynthesen. 1981 ruft er gemeinsam mit James Giroudon Grame das "Centre National de Musicale" ins Leben, einen Zusammenschluss von Komponisten und Forschern auf dem Gebiet der zeitgenössischen Musik.

    Jaffrennous' Kompositionen widmen sich elektroakustischer Musik, nutzen Elektronik oder sind ausschließlich instrumental besetzt. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit wurzelt in der Verbindung von Kunst und Wissenschaft, vor allem wenn es um die Berechnung kompositorischer Prozesse geht. Darüber hinaus gilt sein Interesse der räumlichen Gestaltung und Inszenierung von Musik, wo er mit theatralen Elementen oft unter freiem Himmel und mit besonderen Bildern und Spezialeffekten bei Festivals immer wieder für Aufsehen sorgt. Die vorliegende Porträt-CD macht facettenreich mit Kompositionen von Pierre-Alain Jaffrennou vertraut, die in den Jahren 1997 bis 2006 entstanden sind.

    Hören Sie zunächst einen Ausschnitt des ersten Satzes aus "Du 'Ciel et de la Terre" für Streichsextett und Elektronik, komponiert 1997. Die zweisätzig angelegte Komposition setzt sich mit dem dialektischen Verhältnis von Leichtigkeit und Schwere auseinander, die musikalisch sinnfällig gemacht wird über dicht organisierte kleine Einzelteile. Die Stimmung und melodischen Verläufe entwickeln sich über verschiedene Spieltechniken in beiden Sätzen sehr gegensätzlich.
    Immer wieder begegnen Momente dichter und präziser Ereignisse einem kontinuierlichen Bewegungsablauf, - fordern so vom Ohr permanente Aufmerksamkeit.
    Mitglieder des Orchestre National de Lyon hören Sie jetzt unter der Leitung von Daniel Kawka.

    Pierre-Alain Jaffrennou: "Du ciel et de la terre"
    Mouvement 1
    Track 2 (9.38, davon 1.28)
    Solistes de l'Orchestre National de Lyon


    Die Solisten des Orchestre National de Lyon waren hier mit einem Ausschnitt aus dem zweiten Satz von "Du Ciel et de la Terre" von Pierre-Alain Jaffrennou zu hören.

    Das inhaltlich wie klanglich eindrucksvolle Kernstück dieser Porträt-CD "Propos" aus dem Jahr 2001 hat Jaffrennou für Sopran, Mezzosopran und sieben Musiker komponiert, basierend auf Zeitungsausschnitten mit Interviews unter anderem von der Sängerin Sinead O'Connor, dem Fotomodell Laetizia Casta und drei Mitarbeiterinnern einer Hühnerfarm in der Brétagne. Jaffrennou hat die Art und Weise unter die Lupe genommen, wie Lebensabschnitte in ihren sehr privaten und unterschiedlichen Stadien öffentlich gemacht und in ihren psychologischen Momenten breit getreten werden.

    Das Zusammenspiel von Stimme und Instrumenten wirkt zunächst nicht sehr differenziert, obwohl sich im Lauf der Zeit die Instrumente immer wieder neu gruppieren und gegensätzliche Strukturen hörbar werden. Konstant, beinahe hartnäckig bleibt das Klavier, als würde es sich den musikalischen wie textlichen Ereignissen entziehen. Kontinuierlich und in feinen Nuancierungen begleitet das Schlagwerk, während das eigentliche musikalische Geschehen von sparsam eingesetzten melodisch-rhythmischen Motiven geprägt ist. Das Zusammenspiel und oft nicht vorhersehbare Ineinandergreifen von Ereignissen und Emotionen im realen Leben spiegelt Jaffrennou hier in den gesungenen Passagen, die er immer wieder unterbricht und neu mischt.

    Es singen Brigitte Peyré, Sopran und Isabel Soccoja, Mezzosopran sowie Mitglieder des Ensemble Orchestral Contemporain.

    Pierre-Alain Jaffrennou: "Propos"
    Track 5 (17.10, davon 1.52)
    Nouvelle Ensemble Moderne
    Brigitte Peyré, Sopran
    Isabel Soccoja, Mezzo-Sopran
    Ensemble Orchestral Contemporain


    Das war ein Ausschnitt aus "Propos" für Sopran, Mezzosopran und sieben Musiker des französischen Komponisten Pierre-Alain Jaffrennou.

    Den theatralen Aspekt seines Schaffens vor dem Hintergrund seiner elektroakustischen Studien realisiert Jaffrennou unter anderem in "Chronorhythmie", das zwischen 2002 und 2008 entstanden und für zwei Instrumentalensembles und Elektronik konzipiert ist. Auffallend hier, dass ein Teil der Klangstruktur unterstützt wird durch die Einbeziehung von gesampelten Klängen. Diese werden von den Musikern so gesteuert, als würden sie direkt den Instrumenten entspringen. Eine Komposition dessen gesamte Struktur mithilfe eines eigens entwickelten Computerprogramms gestaltet wurde, ein Forschungsprodukt der eingangs erwähnten künstlerisch-wissenschaftlichen Organisation GRAME unter der Leitung von Pierre-Alain Jaffrennou. Rhythmisch und melodisch reizvoll hier die Begegnung der beiden Instrumentalensembles, immer eher aus betrachtender als aus fusionierender Perspektive. Für den Hörer entwickelt sich ein farbreiches kaleidoskopartiges Klangbild. Lorraine Vaillancourt leitet in dieser Einspielung von "Chronorhythmie" das Nouvel Ensemble Moderne.

    Pierre-Alain Jaffrennou: "Chronorhythmie"
    Track 1 (20.50, davon 1.26)
    Ensemble Orchestral Contemporain


    Das war noch einmal Musik von Pierre-Alain Jaffrennou, "Chronorhythmie" für zwei Instrumentalensembles und Elektronik, in einer Aufnahme mit Mitgliedern des Nouvel Ensemble Moderne.

    In musikalische Welten, die weitgehend von unbequemer Intensität gezeichnet sind, führt die zweite Porträt-CD, die ich Ihnen vorstelle, ebenfalls beim Label AEON erschienen. Diese Aufnahmen unter dem Titel "Furia" konfrontieren mit klanglich wie konzeptionell eigenwilligen Werken des jungen französischen Komponisten Raphael Cendo, Jahrgang 1975. Er studierte zunächst Klavier, anschließend Komposition in Paris und besuchte den jährlichen Kurs für elektronische Musik am IRCAM, den er 2006 abschloss. Weitere Kompositionskurse führten Raphael Cendo unter anderem zu Fauso Romitelli und Brian Ferneyhough. Zahlreiche Stücke schreibt er für internationale Ensembles wie das Ensemble Intercontemporain, das Montreal Symphony Orchestra oder les Percussions de Strassbourg, ist Gast diverser Festivals für zeitgenössische Musik, so auch in Darmstadt und Donaueschingen.

    In seinen Werken mag man sich an die Klanggewalten eines Jannis Xennakis erinnert fühlen, zu finden sind aber auch Elemente des Free Jazz und Rockmusik. Cendos Musik berührt alle Sinne, er selbst bezeichnet sie als "situationsgebunden". Dem Ohr vermitteln sich physisch äußerst einnehmende Klangkaskaden, zuweilen mit brachialer Kraft. Cendo riskiert bewusst das Spiel mit scheinbar Unmöglichem auch auf die Gefahr hin, falsch verstanden zu werden. Seine Kompositionssprache ist radikal, zeugt von ungebrochener Energie und lotet immer die Möglichkeiten einer Grenzüberschreitung aus. Seine Klänge wandeln sich durch mehr oder weniger kontrollierte Interpretationen, eine seiner kompositorischen Grundbedingungen. Seinen Kompositionen liegt ein eigenes instrumentales Schreiben zugrunde wie beispielweise in "Vivo" seinem 1. Streichquartett von 2010. Ein wesentlicher Bestandteil der instrumentalen Energie entspringt der Einbringung des Körpers, der nicht nur interpretierend repräsentiert. Spannungsgeladene Klänge und kontrapunktische Dichte sowie präparierte Instrumente zeichnen die Komposition, darüber hinaus fordert er vom Interpreten die Schaffung bestimmter Situationen. Hören Sie in den zweiten Satz aus "Vivo" für Streichquartett mit Mitgliedern des jungen französischen Ensembles Cairn.

    Raphael Cendo: "In Vivo"
    In Vivo II
    Track 6 (4.42, davon 1.31)
    Mitglieder des Ensemble Cairn, Ltg. Guillaume Bourgogne

    Während eines Studienaufenthaltes 2009 an der Villa Medici in Rom, entsteht das zweisätzige "Furia" für Violoncello und Klavier. Zunächst geht es um die Erforschung einer metallischen Klangfülle. Der allseits bekannte "Larsen-Effekt" begegnet hier durchaus klavierspezifischen Spielarten, wobei auch schwere Metallgegenstände über die tiefen Klaviersaiten in genau notierten Bewegungen gerutscht werden, ebenso werden Saiten des Violoncellos präpariert, - beide Instrumente treten in einen ungewöhnlichen klanglichen Dialog, der physisch berührt. Klangfarben imitieren einander oder werden über fein differenzierte Spielarten simuliert. Eine Komposition, die bei aller klanglichen Experimentierfreude auch sehr sinnliche Momente birgt.

    Erleben Sie nun den ersten Satz "Furia I" mit Hélène Latour, Violoncello und Carolin Cren, Klavier.

    Raphael Cendo: Furia
    Track 2 (2.34)
    Hélène Latour, Cello und Carolin Cren, Piano

    Der erste Satz aus "Furia" für Violoncello und Klavier, aus der Feder von Raphael Cendo.

    Seine Kompositionen entziehen sich bei aller Klangewalt jeglicher Effekthascherei, sondern verfolgen eine inhaltliche Idee. So auch das Stück "Décombres", - also "Ruinen" aus dem Jahr 2006 für Tubax und Elektronik. Cendo arbeitet hier mit einer permanenten Konfrontation von elektronischen Klängen und dem Kontrabasssaxofon, das eine Oktave tiefer als ein Basssaxofon ist und eine engere Mensur als konventionelle Kontrabasssaxofone hat.

    In diesem klanglich hoch differenzierten Werk hat er einen animalistisch wirkenden Klangexzess entwickelt, der von ungeheurer Energie und Spannung zeugt. Der Interpret wird hier selbst Teil einer musikalischen Aktion, an der die ganze Kraft seines Körpers beteiligt ist. Die elektronischen Klangmassen formieren sich zu einzelnen Blöcken mit unterschiedlichem Charakter. Die ständige Suche nach einem Moment da sich die instrumentale und elektronische Welt verbinden, erweist sich als beinahe Unmöglichkeit, denn die Identifikation der einzelnen Soundquellen verschwimmt.

    Hören Sie abschließend einen Ausschnitt aus "Décombres" für Tubax und Elektronik mit Jerome Laran, Tubax.

    Raphael Cendo: "Décombres"
    Track 4 (9.56, davon 1.36)
    Jerome Laran, Tubax

    Zum Schluss hörten Sie einen Ausschnitt aus "Décombres", eine Komposition von Raphael Cendo für Tubax und Elektronik.

    Vorgestellt habe ich Ihnen heute zwei CDs mit zeitgenössischer Musik der französischen Komponisten Pierre-Alain Jaffrennou und Raphael Cendo. Beide Tonträger sind beim Label AEON erschienen und über den Vertrieb Note 1 erhältlich.

    Vorgestellte CDs:

    Pierre-Alain Jaffrennou:
    PROPOS
    Nouvelle Ensemble Moderne
    Ensemble Orchestral Contemporain
    Ltg.: Daniel Kawka und Lorraine Vaillancourt
    AEON CD , AECD 1112; LC nicht vorhanden
    EAN: 3760058360125

    Raphael Cendo:
    FURIA
    Ensemble Cairn, Ltg. Guillaume Bourgogne
    AEON CD , AECD 1224, LC nicht vorhanden
    EAN: 3760058360248