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Elena Ferrante: "Die Geschichte eines neuen Namens"
Frauenleben in allen Untiefen erforschen

Neapel ist Anfang der 60er-Jahre ein hartes Pflaster, zumal für Mädchen aus der Unterschicht. Lila und Lenù haben ihre Strategien und wissen sich zu behaupten, jede auf ihre Weise. Ihre Waffen sind ein scharfer Verstand, Bildung und ein zäher Überlebenswille. Elena Ferrante setzt im zweiten Teil ihrer vierbändigen Romanreihe die Geschichte des ungleichen Freundinnenpaares fort.

Von Maike Albath | 08.01.2017
    Blick über die Stadt und den Golf von Neapel in der italienischen Provinz Kampanien.
    Neapel bleibt auch in Band zwei der Serie wild und düster. (dpa / picture alliance / Udo Bernhart)
    Vorhang auf, Bühne frei - Lila und Lenù sind wieder da! Der epische Raum von Elena Ferrantes Roman "Die Geschichte eines neuen Namens" wird ähnlich spektakulär und unbekümmert wie im ersten Band der Tetralogie in Beschlag genommen, und wieder sind die Freundinnen mit allen Eigenschaften ausgestattet, die es für einen funkenschlagenden Antagonismus braucht. Schön, dunkel, ungestüm und von quecksilbriger Intelligenz die eine, bebrillt, blond, angepasst und gelehrsam die andere. Lila ist mit 16 Jahren plötzlich eine verheiratete Frau: 1960 wandelt sich die Schustertochter Raffaela Cerullo zu Signora Caracci - das ist der neue Name, auf den der Titel anspielt. Lenù, die Ich-Erzählerin, geht stattdessen auf ein humanistisches Gymnasium.
    Band eins hatte mit einem Showdown geendet, denn auf dem Höhepunkt von Lilas Hochzeitsfeier waren die Solara-Brüder, allseits als Camorristi bekannt, zur Festgesellschaft gestoßen. Die unbezwingbare Lila hatte erkennen müssen, dass ihr vermeintlicher gesellschaftlicher Aufstieg nur gelungen war, weil ihr Bräutigam, der Wurstwarenhändler Stefano, längst mit dem Camorra-Clan unter einer Decke steckte, genau wie ihr Vater und ihr Bruder. Aus anderen Gründen war auch Lenù wie vor den Kopf gestoßen. Nino Sarratore, ein von ihr tief verehrter Schulhofintellektueller, hatte sie in die Schranken gewiesen. Band zwei setzt dort ein, wo "Meine geniale Freundin" endete: mit dem Ausklang der Hochzeitsfeier.
    "Antonio warf die Zigarette weg, packte mein Handgelenk mit einer immer weniger beherrschten Kraft und stieß mit erstickter Stimme hervor, er sei nur meinetwegen hier, nur meinetwegen, und ich sei ja wohl diejenige gewesen, die ihn gebeten habe, die ganze Zeit in meiner Nähe zu bleiben, in der Kirche und auf dem Fest, ich jawohl, und, keuchte er, du hast mich schwören lassen, schwöre – hast du gesagt, dass du mich keinen Augenblick allein lässt, also habe ich mir diesen Anzug schneidern lassen und stehe jetzt bei Signora Solara tief in der Kreide, und dir zuliebe, um zu tun, was du mir gesagt hast, bin ich nicht eine Minute zu meiner Mutter und zu meinen Geschwistern gegangen, und was ist der Dank? Zum Dank hast du mich behandelt wie den letzten Dreck, hast die ganze Zeit mit dem Sohn des Dichters palavert und mich vor meinen Freunden blamiert, wie einen Scheißidioten hast du mich aussehen lassen, weil ich für dich eine Null bin, weil du ja so gebildet bist und ich nicht, weil ich nicht kapiere, worüber du sprichst, und es stimmt ja auch, na und ob, ich kapier’s wirklich nicht, aber verdammt noch mal, Lenù, sieh mich an, sieh mir in die Augen: Du glaubst, du kannst mich nach deiner Pfeife tanzen lassen, du glaubst, ich kann nicht sagen, Jetzt reicht’s, aber da irrst du dich."
    Gediegener Realismus, farbenfroh und derb
    Da ist sie wieder, diese schmissige Erzählerstimme, der man auch als abgebrühte Leserin genussvoll verfällt. Geschickt operiert Ferrante mit dem identifikatorischen Potenzial ihrer Figuren und variiert einen gediegenen Realismus, der farbenfroh und derb daher kommt. Auf den ersten Seiten von "Die Geschichte eines neuen Namens" findet sich ein ausführliches Personenverzeichnis mit Erläuterungen zu den bisherigen Ereignissen, womit Ferrante ein Strukturmerkmal von Fotoromanen ironisiert, Lilas und Lenùs Lieblingslektüre aus Kindertagen. Die sprachliche Gestaltung des Romans fällt eher schlicht aus, aber die gesamte Reihe besitzt bemerkenswerte soziologische und zeitdiagnostische Qualitäten. Antonios Bezichtigungen deuten den Konflikt an, den Lenù auszufechten hat. Entweder bleibt sie der Lebenswelt ihres Viertels verhaftet, wo sie eine Zukunft als Ehefrau und Mutter erwartet, mit bestimmten Einschränkungen, aber mit einer eindeutigen sozialen Verankerung. Oder sie setzt auf das, was sie im Gymnasium lernt und gewinnt Zugang zu einer anderen gesellschaftlichen Klasse, um den Preis, ihre Herkunft verleugnen zu müssen.
    Neapel bleibt auch in Band zwei der Serie wild und düster, Gewalt und Brutalität bestimmen den Umgang miteinander. Als Lila den ehelichen Beischlaf verweigert und ihr Mann sie misshandelt, oder als Lenù ihre Jungfräulichkeit wie einen Pfand einlösen will, liefert Ferrante an der Oberfläche zwar deftigen Stoff, auf den zweiten Blick aber bietet sie eine knallharte ökonomische Analyse der Verhältnisse. Die Autorin zeigt nämlich, wie legale und illegale Strukturen einander bedingen, wie die so genannte coabitazione funktioniert, welche Folgen das staatliche Vakuum hat und wie die Camorra ihren Machtzuwachs bewerkstelligt. Vor allem Lila durchschaut die Gesetze des Tauschgeschäfts. Ihr ehrgeiziges Projekt, diesen Mechanismus außer Kraft zu setzen und selbst die Regeln festzulegen, ist ein übergeordnetes Thema des gesamten Zyklus.
    Überraschende Coups und Kehrtwendungen wie in Ritterromanen
    Was den Plot angeht, lässt Ferrantes Serie kaum etwas zu wünschen übrig. Die Dramaturgie ist perfekt, kurze Kapitel schüren die Spannung, die bis Band vier anhalten wird, knappe Dialoge und verblüffende Kehrtwendungen wie aus einem Ritterroman skandieren die Handlung, die Kombinatorik des vielköpfigen Personals ist ausgeklügelt. Die Erzählzeit und die erzählte Zeit, die in Band zwei bis ins Jahr 1967 reicht, geraten in ein reizvolles Spannungsverhältnis. Allein 200 der 625 Seiten sind einem Sommerurlaub auf Ischia gewidmet, wo Lila, die ein Jahr nach der Hochzeit zu Stefanos Leidwesen immer noch nicht schwanger ist, sich kräftigen soll. Ihre Mutter Nunzia, die Schwägerin Pinuccia und Lenù leisten ihr Gesellschaft, die Männer reisen nur am Wochenende an. Sich auf Ischia einzumieten, war Lenùs Vorschlag gewesen, denn sie wusste, dass dort auch Nino Sarratore, mittlerweile Student, die Ferien verbringen würde. Nachdem Lila den früheren Schulkameraden zuerst abschätzig behandelt hatte, fachen die Gespräche über Bücher und politische Fragen ihre alte Wissbegierde an. Sie lässt sich auf einen Flirt mit Nino ein. Eines Tages taucht unvermutet der Camorrista Michele Solara mit seiner Freundin auf.
    "Kaum waren Michele und Gigliola weit genug entfernt, sagte ich zu Lila, aber so, dass es auch Nino hören konnte: 'Er hat euch gesehen.' Nino fragte unangenehm berührt: 'Wer ist denn das?' 'Ein Scheiß-Camorra-Typ, der sich einbildet, wer weiß wer zu sein', sagte Lila verächtlich. Ich korrigierte sie unverzüglich, Nino sollte Bescheid wissen: 'Er ist der Geschäftspartner ihres Mannes. Er wird Stefano alles erzählen.' 'Was denn alles', gab Lila zurück. 'Es gibt nichts zu erzählen.' 'Du weißt genau, dass sie alles verraten werden.' 'Ja? Ist mir scheißegal.' 'Mir aber nicht.' 'Immer mit der Ruhe. Denn auch, wenn du mir nicht hilfst, kommt es, wie es kommen soll.' Und als wäre ich gar nicht da, begann sie mit Nino Absprachen für den nächsten Tag zu treffen. Doch während sich Lilas Energie durch die Begegnung mit Michele Solara verhundertfacht zu haben schien, wirkte er wie ein Aufziehspielzeug, das abgelaufen war."
    Lenù passt sich an und zahlt einen hohen Preis
    Nino Sarratore, der sich als übelste Ausprägung der männlichen Spezies entpuppen wird, ist eine der schillerndsten Figuren der Tetralogie. Überhaupt versteht sich Elena Ferrante auf Figurenzeichnung und die untergründige Dynamik von Emotionen. Dass es Lila ist, die Lenù mal wieder aussticht, wirkt wie eine finale Demütigung, gleichzeitig bestärkt die Schmach Lenù in ihrer Ablösung. Die gelehrige Abiturientin ergattert sogar ein Stipendium für die Scuola Normale Superiore, eine Eliteuniversität in Pisa, weit weg von Neapel. Wieder geht es darum, sich anzupassen, die neuen Regeln zu durchschauen und zu verinnerlichen. Als Lenù 1966 für die Osterferien nach Neapel zurückkehrt, übergibt ihr Lila, die in einer dramatischen Ehekrise steckt, eine Schachtel.
    "Im Zug öffnete ich die Blechschachtel, obwohl ich geschworen hatte, es nicht zu tun. Sie enthielt acht Schreibhefte. Schon nach den ersten Zeilen fühlte ich mich schlecht. In Pisa wuchs mein Unbehagen von Tag zu Tag, von Monat zu Monat mehr. Jedes von Lilas Worten ließ mich kleiner werden. Jeder Satz, auch die, die sie noch als Kind geschrieben hatte, schien meinen Sätzen jeden Sinn zu nehmen, nicht den damaligen, sondern den heutigen. Und zugleich regte jede Seite mich zu eigenen Gedanken, eigenen Ideen, eigenen Texten an, als hätte ich bis dahin in einer zwar emsigen, doch ergebnislosen Stumpfheit gelebt. Ich lernte diese Hefte auswendig, und am Ende spürte ich durch sie die Welt der Scuola Normale stärker, die Freundinnen und Freunde, die mich schätzten, den herzlichen Blick derjenigen unter den Professoren, die mich ermutigten, immer noch mehr zu tun, einen allzu behüteten und daher vorhersehbaren Teil der Welt verglichen mit der stürmischen, die Lila unter den Lebensbedingungen des Rione, des Viertels, auf zerknitterten, fleckigen Seiten mit ihren hastigen Zeilen zu erkunden vermochte."
    Widerstreit zwischen dem vitalen Erbe Neapels und der Hochkultur
    Die alte Rivalität mit Lila holt Lenù wieder ein, gleichzeitig ist sie mit niemandem enger verbunden als mit ihr. Entmutigt schmeißt sie die Hefte schließlich von der Brücke in den Arno, ausgerechnet in den Fluss, der für die italienische Literatur eine mythische Bedeutung hat. Die "Spülung im Arno" ist nämlich eine stehende Wendung. Sie geht auf den Schriftsteller Alessandro Manzoni zurück, den großen Erneuerer der Romanliteratur, der erst durch einen Aufenthalt im toskanischen Florenz und das Bad im Hochitalienischen zur endgültigen Sprache seines Klassikers "Die Brautleute" von 1842 fand. Der Widerstreit zwischen dem vitalen Erbe Neapels und der Hochkultur setzt sich bei Lenù ihr Leben lang fort. Letztendlich ist es Lilas Ausdrucksfähigkeit, die sie dazu bringt, nach ihrer eigenen Stimme zu suchen und selbst zu schreiben. Die markante Mischung aus gelehrten Anspielungen, süffigem Erzählen und zeitgeschichtlichen Umbrüchen, die ins Private gewendet werden, erklärt den bahnbrechenden Erfolg von Elena Ferrantes Romanserie. Auf insgesamt über 1.500 Seiten wird ein Frauenleben in all seinen Untiefen erforscht: panische Ängste, so zerschlissen wie die eigene Mutter zu enden, kommen ebenso vor wie Begehren, Rachegelüste, Erfahrungen von Entgrenzung und Gefühle von Ablehnung und Schuld, ausgelöst durch die Geburt eines Kindes. Als Lila endlich einen Sohn bekommt, begegnet sie eines Tages ihrer alten Grundschullehrerin, der Maestra Oliviero.
    "Die Oliviero ignorierte den Kleinen völlig und schien sich nur für das schwere Buch zu interessieren, das ihre ehemalige Schülerin in der Hand hielt, einen Finger als Lesezeichen zwischen den Seiten. 'Was ist das?' Lila wurde nervös. Das Äußere der Maestra, ihre Stimme, alles hatte sich verändert, aber nicht ihre Augen und ihr barscher Ton, eben der aus der Zeit, als sie von ihrem Pult herunter Fragen gestellt hatte. Also zeigte auch Lila sich unverändert, antwortete zugleich lässig und angriffslustig: 'Es heißt Ulysses.' 'Geht es um Odysseus?' 'Nein, es geht darum, wie seicht das heutige Leben ist.' 'Und weiter?' 'Nichts weiter. Es geht darum, dass wir den Kopf voller Blödsinn haben. Dass wir aus Fleisch, Blut und Knochen sind. Dass ein Mensch so viel wert ist wie der andere. Dass wir nur essen, trinken und ficken wollen.' Nach diesem letzten Ausdruck wies die Maestra sie zurecht wie in der Schule, und Lila gebärdete sich unverschämt und lachte, so dass die alte Frau noch verdrießlicher wurde. Sie fragte, wie das Buch sei. Lila antwortete, es sei schwierig und sie verstehe nicht alles. 'Warum liest du es dann?' 'Weil das einer gelesen hat, den ich mal kannte. Aber dem hat es nicht gefallen.' 'Und dir?' 'Mir gefällt es.' 'Obwohl es so schwierig ist?' 'Ja.' 'Lies keine Bücher, die du nicht verstehst. Das bekommt dir nicht.' 'Es gibt vieles, was einem nicht bekommt.' 'Bist du zufrieden mit deinem Leben?' 'Geht so.' 'Du warst zu Großem bestimmt.' 'Das habe ich vollbracht: Ich habe geheiratet und ein Kind gekriegt.' 'Das kann jeder.' 'Ich bin wie jeder.' 'Da irrst du dich.' 'Nein, sie irren sich, Sie haben sich immer geirrt.'"
    Wer von beiden Recht behalten sollte, ist eines der Spannungselemente der Serie und hat den Effekt einer Zündschnur. Ferrante zeigt auf, wie ideologische Machtachsen Italien bis in die Gegenwart bestimmen. In Band drei und vier gewinnen die Zeitläufte noch stärker an Gewicht: Die Studentenunruhen und die Frauenbewegung mit der Auflösung tradierter Familienstrukturen schlagen sich ebenso auf die Lebenswege der Protagonistinnen nieder wie die Radikalisierung der Linken, der Terrorismus und die Camorra-Kriege. Irgendwann nach der Jahrtausendwende mit beinahe 70 Jahren verschwindet Lila spurlos, was – so wurde die Rahmenhandlung in Band eins angelegt – für Lenù zum Auslöser für die Niederschrift der gemeinsamen Geschichte wird.
    Wie das Pseudonym aufgedeckt wurde
    Lilas Selbstauslöschung passte zu ihrer Erfinderin Elena Ferrante, von der man bis vor wenigen Monaten nur wusste, dass es sich bei ihrem Namen um ein Pseudonym handelte. Seit Ferrantes Debüt von 1992 hatte man ihren Wunsch nach Anonymität respektiert, aber im Zeitalter eines allgemeinen Transparenzdiktats wirkte die Geheimhaltung offenkundig wie eine Provokation. Am 2. Oktober 2016 deckte der Wirtschaftsjournalist Claudio Gatti, USA-Korrespondent der Zeitung "Il Sole 24 ore", mit einer in vier internationalen Medien gleichzeitig lancierten kriminologischen Recherche die vermeintliche Identität Ferrantes auf. Hinter Elena Ferrante verberge sich die römische Übersetzerin Anita Raja, bekannt geworden durch ihre Übertragungen von Christa Wolf, ebenfalls in Ferrantes Verlag e/o erschienen.
    Ohne jedes Gespür für die Eigenarten literarischer Werke hatte Gatti eine plumpe follow-the-money-Strategie verfolgt, wie sie bei einem Mafioso angezeigt gewesen wäre. Dabei war es der triumphal auftretende Journalist, der sich mit unlauteren Mitteln Zugang zu Abrechnungen des Verlages verschafft hatte, private Vermögensverhältnisse offen legte, erpresserische Nachrichten auf Handys hinterließ und in einem zweiten Artikel mit beispielloser Indiskretion die von Verfolgung geprägte jüdische Familiengeschichte der angeblichen Autorin schilderte. Raja und ihr Ehemann, der neapolitanische Schriftsteller Domenico Starnone, dessen Werk zahlreiche Korrespondenzen mit Ferrantes Tetralogie aufweist, waren schon seit der Jahrtausendwende immer wieder als mögliche Urheber genannt worden. Claudio Gatti hatte seine Legitimation aus Äußerungen Ferrantes gewonnen, die in Italien und kürzlich auch in den USA in dem Band "Frantumaglia" erschienen sind. In den dort versammelten Briefen, Essays und Interviews, entstanden zwischen 1991 und 2016, habe Ferrante gelogen, behauptete Gatti, wodurch er sich ermächtigt sah, nach der "wahren" Person fahnden zu dürfen. Damit verkannte er aber die Bedingungen von Fiktion an sich. Dass jeder Autor, der "ich" sagt, eine neue Geschichte erzählt, die nichts mit seiner Person aus Fleisch und Blut zu tun haben muss und dass die Kategorie der Lüge ohnehin den Charakter des Erzählens ausmacht, war ihm entgangen. Erfindungen sind nun mal das Kerngeschäft der Literatur. Genau dazu gibt Elena Ferrante in einem Brief von 1995 aus "Frantumaglia" aber Auskunft:
    "Die alten Mythen über die Inspiration enthielten zumindest eine Wahrheit: Wer eine schöpferische Arbeit ausübt, ist von jemand anderem beherrscht, in gewisser Weise wird man jemand anders. Aber wenn man aufhört zu schreiben, kehrt man zu sich zurück, in seinen Beschäftigungen, den Gedanken, der Sprache. Ich bin jetzt auch wieder ich selbst, ich bin hier, tue das, was ich jeden Tag tue und habe mit dem Buch nichts mehr zu schaffen."
    Hier blitzt ein Leitmotiv auf, das auch in der Tetralogie immer wieder eine Rolle spielt. Die Tätigkeit des Schreibens gewinnt etwas Räumliches, der Roman erscheint als ein Ort, den man betreten und wieder verlassen kann. Schreiben ist zugleich körperlicher Prozess. In genau dieselbe Richtung deutet der Titel des Essaybandes. La frantumaglia ist ein dialektaler Neologismus, ein Wort aus der Hinterlassenschaft von Ferrantes Mutter. Mit der Formulierung "mi sento a frantumaglia" habe sie ihre Erschöpfung und Zerschlissenheit ausgedrückt. Die genaue Bedeutung kenne Ferrante aber nicht, sagt sie. Das Verb frantumare bedeutet "zertrümmern", "zersplittern", frantumi sind Bruchstücke, Splitter oder Scherben, mi sento a frantumaglia hieße also "ich fühle mich ganz und gar in Scherben". Es ist der Kern von Ferrantes Poetik, denn in allen Romanen geht es um Abgründe, die sich für die Protagonistinnen auftun, Erfahrungen des Verlassenwerdens oder des Verlassens, Prozesse, die etwas mit Abspaltung zu tun haben, komplexe Spiegelungen zwischen Müttern und Töchtern, Schwestern, Freundinnen. Auch vom Lügen ist in dem Band die Rede. In einem Brief an den Verleger Sandro Ferri von 2002 erklärt Ferrante:
    "Das Spiel mit den Zeitungen führt dazu, dass man lügt, und dahinter steckt, dass man sich dem Publikum in seiner besten Form präsentieren möchte. Mein Ideal wäre es, mit kurzen Antworten auf die Interviewfragen dieselbe Wirkung wie mit der Literatur zu erzeugen, also Lügen zu entwerfen, die immer und auf ernsthafte Weise die Wahrheit ausdrücken. "
    Nichts anderes tut Elena Ferrante in ihren Romanen. Sie erzählt Lügen, die wahr sind.
    Elena Ferrante: Die Geschichte eines neuen Namens
    Aus dem Italienischen übersetzt von Karin Krieger. Suhrkamp Verlag, 624 Seiten, 25 Euro