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Elena Ferrante: "Meine geniale Freundin"
Sozialer Aufstieg um den Preis der Entfremdung

Lenù und Lila sind zwei Freundinnen im Neapel der Nachkriegszeit. Lenù hat Teil an dem gewaltigen sozialen Aufstieg, der eine ganze Generation von Italienern geprägt hat. Lila dagegen bleibt der Welt ihres Viertels mit seinen Blutsbanden und Eheschließungen verhaftet - bis sie sich plötzlich in Luft aufgelöst zu haben scheint.

Von Maike Albath | 28.08.2016
    Blick in eine Straße mit altmodischem Straßenpflaster und Torbogen, in Italien, Neapel
    Die Welt außerhalb ihres Viertels existiert für Neapels Bewohner nicht, so wird es in Ferrantes Roman "Meine geniale Freundin" dargestellt. (dpa - Report / Lars Halbauer)
    Elena Ferrantes Roman "Meine geniale Freundin" ist genau wie Neapel: lautstark und verführerisch, wortreich, dreckig, brutal, enervierend und immer wieder ungeheuer fesselnd. Der Leser landet dort kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, in heruntergekommenen Gassen, von den Häusern fällt der Putz. Kinder toben in Horden durch die Höfe, ihre Mütter brüllen ihnen Drohungen hinterher. Die Väter betreiben kleine Werkstätten als Tischler oder Schuster, sind Metzger und Gemüsehändler. Geld ist knapp. Es zählt nur, ob man kämpfen kann. Die beiden Heldinnen Raffaella und Elena, genannt Lila oder Lina und Lenù oder Lenuccia, wissen, was das heißt. Die sechsjährigen Mädchen bringen es schon ihren Puppen Nu und Tina bei, mit denen sie am Lüftungsschacht des Kellers spielen.
    "Damals war alles schön und beängstigend zugleich. Durch diese Öffnungen konnte uns die Finsternis unversehens unsere Puppen wegnehmen, die manchmal sicher in unseren Armen lagen, doch viel öfter absichtlich neben den verbogenen Metallrost gelegt und so dem kalten Hauch des Kellers ausgesetzt wurden und den bedrohlichen Geräuschen, die von dort heraufdrangen, dem Rascheln, Knistern und Kratzen. Nu und Tina waren nicht glücklich. Die Schrecken, die wir Tag für Tag erlebten, waren auch ihre. Wir trauten dem Licht auf den Steinen nicht und auch nicht dem auf den Häusern, auf dem Umland und auf den Menschen draußen und in den Wohnungen.
    Wir ahnten die dunklen Winkel, die unterdrückten Gefühle, die immer kurz vor dem Ausbruch standen. Und diesen schwarzen Löchern, diesen Abgründen, die sich dahinter unter den Wohnblocks unseres Viertels auftaten, schrieben wir alles zu, was uns am helllichten Tag erschreckte. Don Achille, zum Beispiel, befand sich nicht nur in seiner Wohnung im obersten Stockwerk, sondern auch darunter, er war eine Spinne unter Spinnen, eine Ratte unter Ratten, eine Gestalt, die jede Gestalt annahm. Ich stellte mir vor, dass sein Mund wegen seiner langen Hauer offen stand, dass er einen glasierten Steinkörper hatte, auf dem Giftpflanzen wuchsen, und dass er ständig darauf lauerte, alles, was wir durch die kaputten Ränder des Metallrosts fallen ließen, mit einer riesigen schwarzen Markttasche aufzufangen. Diese Tasche war Don Achilles Markenzeichen, er trug sie ständig sich, auch zu Hause, und verstaute lebende und tote Sachen darin."
    Der Tonfall, den die Ich-Erzählerin Lenù im ersten Band der Tetralogie "Meine geniale Freundin" anschlägt, ist eingängig, Phantasieschübe bestimmen ihre kindliche Wahrnehmung, konterkariert durch die Perspektive der sich bewusst erinnernden Erwachsenen. Zuerst wird die Umgebung vermessen.
    Neapel, das ist einerseits der Schauplatz ihrer mitreißenden Kindheitsgeschichte, ein konkreter Ort zwischen Golf und Vesuv. Man kennt diese Zeit aus Curzio Malapartes Die Haut: Während des Krieges fielen Bomben, unter der amerikanischen Besatzung nahm die Camorra Aufwind und es etablierten sich Machtstrukturen, die das Schicksal der Bewohner bestimmten. Andererseits gewinnt die Stadt metaphorische Qualitäten und steht für die Bedingungen des Menschseins an sich. Es ist kein Zufall, dass das Viertel, obwohl es Züge der Gegend von Forcella trägt, keinen Namen hat, sondern auch in der deutschen Übersetzung "Rione" genannt wird, was "Bezirk" heißt.
    Die Welt außerhalb des Viertels existiert für die Bewohner nicht
    Neapel mit seinen Gesetzen, der eruptiven Gewalt, den starren Gesellschaftsklassen, der Verrohung und dem kriminellen Untergrund antizipiert die Entwicklung Italiens und sogar Europas. Für Lenù und Lila ist Don Achille, der mit Schwarzmarkthandel reich wurde, die Verkörperung des Bösen schlechthin, eine Gestalt wie aus einem Schauermärchen, eine Mischung aus Menschenfresser und Ungeheuer. Die Welt außerhalb des Viertels existiert für die Bewohner nicht, es zählen Blutsbande und Eheschließungen, gleichzeitig kommt es zu archaisch anmutenden Verstoßungen und Opfern.
    Neben dem mythischen Raum wird Neapel im Verlauf des Romans dadurch zu einem sozialen Raum, in dem sich das, was der amerikanische Soziologe Edward Banfield als "amoralischen Familismus" bezeichnete, exemplarisch entfaltet. Ferrante liefert eine präzise Analyse der tribalistischen Verhältnisse. Elena Ferrantes Schilderungen erinnern mitunter an die Reportagen der neapolitanischen Schriftstellerin Anna Maria Ortese aus dem Band Il mare non bagna Napoli von 1953, aber vor allem schwingen die Romane von Elsa Morante mit ihren mythisch aufgeladenen Familienbindungen und dunklen Gefühlsströmen immer wieder mit.
    Ferrantes Sprache ist allerdings schlichter, mit den verschlungenen syntaktischen Perioden Elsa Morantes hat sie wenig gemein, ihr Satzbau ist einfach, ihre Erzählweise süffig. Aber die Bildhaftigkeit, der Umgang mit wörtlicher Rede und die Fähigkeit, immer wieder Zäsuren zu setzen, dem gesamten Zyklus einen atemberaubenden Spannungsbogen zu verleihen und ein über fünfzigköpfiges Personal so zu dirigieren, dass daraus ein kraftvolles Italien-Fresko entsteht, lässt sich als eine Fortführung des farbenprächtigen Realismus Elsa Morantes deuten.
    Unausweichlichkeit von Herkunft, Zugehörigkeit und Familie
    Morante hatte 1974 mit ihrem Bestseller La Storia das damals dominierende Modell eines auf die Form konzentrierten, avantgardistischen Erzählens außer Gefecht gesetzt. Es war die Unausweichlichkeit von Herkunft, Zugehörigkeit und Familie, die sie umtrieb, und genau das beschäftigt auch Ferrante. Das magnetische Zentrum von Elena Ferrantes Roman, dessen erster Teil 1960 endet, bildet die Freundschaft von Lila und Lenù. Ihr Leben lang wird Lenù um Lila kreisen, sich in ihr spiegeln, von ihr abgestoßen sein, ihr den Tod wünschen, mit ihr wetteifern, ihr helfen. Lila ist die Quelle ihrer Vorstellungskraft und der Ursprung ihrer Vitalität, aber es ist ein Bund mit dem Teufel, worauf das Motto des Romans aus Goethes Faust verweist. Das dunkle Verbindungsglied zwischen den Kindern bildet ausgerechnet der Bösewicht Don Achille. Die unerschrockene Lila überzeugt die schüchternere Lenù, dass er der Dieb ihrer Puppen sei. Gemeinsam schleichen sie sich die Treppen hinauf.
    "Wir hielten uns an der Wandseite, ich zwei Stufen hinter ihr und unschlüssig, ob ich den Abstand verringern oder vergrößern sollte. Ich erinnere mich noch an das Gefühl an meiner Schulter, als ich die Wand mit dem abblätternden Putz streifte, und an den Eindruck, dass die Stufen sehr hoch waren, höher als die des Hauses, in dem ich wohnte. Ich zitterte.
    Jedes Geräusch – Schritte oder Stimmen – war Don Achille, der uns einholte oder uns entgegenkam, mit einem großen Messer, so einem, mit dem man Hühnern die Brust aufschlitzt. Es roch nach frittiertem Knoblauch. Maria, Don Achilles Frau, würde mich mit siedendem Öl in der Pfanne braten, seine Kinder würden mich verschlingen, und er würde meinen Kopf auslutschen, wie mein Vater es mit den Meerbarben tat.
    Wir blieben oft stehen, und jedes Mal hoffte ich, dass Lila sich zur Umkehr entschloss. Ich war vollkommen durchgeschwitzt, ob sie auch, weiß ich nicht. (…) Lila ging weiter und ich hinterher. Sie war davon überzeugt, etwas Richtiges und Notwendiges zu tun. Ich hatte jeden guten Grund vergessen und war garantiert nur dort, weil sie dort war. Langsam gingen wir dem größten unserer damaligen Schrecken entgegen. Wir stellten uns der Angst und spürten ihr nach. Auf der vierten Treppe tat Lila etwas Überraschendes. Sie blieb stehen, wartete auf mich, und als ich zu ihr kam, griff sie nach meiner Hand. Das änderte alles zwischen uns, für immer."
    Totschlag ist ebenso alltäglich wie Verrücktheit
    Diese Episode ist ein Scharnier, bestimmt den gesamten ersten Teil der Tetralogie und blitzt auch später immer wieder auf. Dass Don Achille eines Tages ermordet wird, fügt sich nahtlos ein in den Kosmos der beiden Heldinnen. Totschlag ist ebenso alltäglich wie die Verrücktheit von Melina Cappuccio, eine dreißigjährige Witwe mit sechs kleinen Kindern, die ihrem hilfsbereiten Nachbarn Donato Sarratore verfällt, einem Eisenbahner, Verfasser von Gedichten und Zeitungsartikeln, was ihn in den Augen sämtlicher Familienväter äußerst suspekt macht.
    Zwischen Donatos Ehefrau Lidia und Melina entbrennt ein furchtbarer Kampf, der täglich zeternd und mit Handgreiflichkeiten im Treppenhaus ausgetragen wird, bis beide Frauen ineinander verkeilt die Stufen hinabrollen und ihre Köpfe auf den Steinfußboden knallen. Melina redet wirr und steckt sich Seife in den Mund, und schließlich müssen die Sarratores fortziehen. Ferrante besitzt ein bemerkenswertes psychologisches Vermögen, und der Erfolg ihrer Romanreihe hängt auch mit den einprägsamen Charakteren zusammen. Es ist der typische Serieneffekt, auf den sich die Autorin glänzend versteht:
    Eingeführte Figuren tauchen in wechselnden Konstellationen auf
    Eingeführte Figuren tauchen in wechselnden Konstellationen auf, mal gehören sie zu dieser Fraktion, mal zu jener, und jedes Mal kommt eine neue Eigenschaft zum Vorschein. Ferrantes Roman bevölkern rund zehn Familien, ergänzt durch etliche Einzelfiguren wie die Lehrerin Oliviero und ihre Cousine Nella, die auf Ischia wohnt, oder den Sohn des Apothekers Gino, Lenús ersten Freund. Am schillerndsten aber ist Lila, die mit ihrer ungezügelten Kraft und bewussten Ambiguität zu den prägnantesten Frauengestalten der neueren italienischen Literatur zählt.
    Lilas quecksilbrige Intelligenz schlägt nicht nur die anpassungswillige Lenù in den Bann. Die Lehrerin Oliviero ist genauso fasziniert von ihr wie der brutale Marcello Solara, einer der beiden Söhne der Camorrafamilie Solara, die im Viertel kommandiert. Die heranwachsende Lila wagt es, Marcello zurückzuweisen und sich stattdessen für Stefano Carracci zu interessieren, den ältesten Sohn des ermordeten Don Achille, der sie zu seinem Silvesterfest einlädt.
    "Lila zufolge wollte Stefano alles auf null stellen. Er wollte versuchen, aus dem Früher auszubrechen. Wollte nicht wie unsere Eltern so tun, als wäre nichts gewesen, sondern im Gegenteil einen Satz geltend machen wie: "Ich weiß, mein Vater war der, der er war, doch jetzt bin ich da, wir sind da, und damit basta." Kurz, er wollte dem ganzen Rione zu verstehen geben, dass er nicht Don Achille war und dass auch die Pelusos nicht der ehemalige Tischler waren, der ihn umgebracht hatte. Diese These gefiel uns, sie wurde sofort zur Gewissheit, und dem jungen Carracci galt unsere ganze Sympathie. Wir beschlossen, uns auf seine Seite zu stellen. Wir erklärten nun Rino, Pasquale und Antonio, dass Stefanos Einladung mehr als nur eine Einladung war, dass wichtige Zusammenhänge dahintersteckten, dass er gewissermaßen sagte: "Vor uns hat es schlimme Dinge gegeben, unsere Väter haben sich auf die eine oder andere Weise nicht korrekt verhalten, wir wollen das von nun an im Kopf behalten und zeigen, dass wir Kinder besser sind als sie". "Besser?" erkundigte sich Rino interessiert. "Besser", sagte ich. "Das ganze Gegenteil der Solara-Brüder, die noch schlimmer sind als ihr Großvater und ihr Vater." Ich redete hitzig, auf Italienisch, als wäre ich in der Schule."
    Sozialer Aufstieg – um den Preis der Entfremdung
    "Meine geniale Freundin" ist auch ein Roman über die italienische Klassengesellschaft und die Erfahrung der Entwurzelung. Denn so verkrustet die Verhältnisse auch sind, Lenú, die im Unterschied zu Lila die Mittelschule und später das Gymnasium besuchen darf, gelingt der Aufstieg – um den Preis der Entfremdung. Damit bringt Ferrante die Erfahrung einer ganzen Generation zum Ausdruck.
    Nie wieder war die soziale Mobilität so groß, wie in den fünfziger und sechziger Jahren. Italien war ein agrarisches Land, das erst in der Nachkriegszeit vollständig von der Industrialisierung ergriffen wurde, die Analphabetenrate lag im Süden 1951 bei 23 Prozent, weit über die Hälfte der Bevölkerung arbeitete in der Landwirtschaft. Der Marshallplan spülte 1,4 Milliarden Dollar nach Italien, das Wirtschaftswachstum stieg auf knapp 6 Prozent, der Bedarf an Akademikern war enorm, Bildung wurde zu einer emanzipatorischen Kraft, und ähnlich wie Lenù schnitten sich Hunderttausende von ihrer Herkunft ab. Sie verloren sogar ihre Sprache: Während im Alltagsleben überall Dialekt gesprochen wurde, verlangte die Schule die italienische Hochsprache.
    Lila will Lenù in nichts nachstehen, verlagert ihren Ehrgeiz ins Materielle und verlobt sich mit dem Geschäftsmann Stefano, was innerhalb des Viertels einen Zuwachs an Prestige und Macht bedeutet. "Meine geniale Freundin" ist geschickt konstruiert, die knappen Kapitel enden oft mit veritablen Cliffhangern, es wimmelt von Deux-ex-machina-Coups.
    Die Binnengeschichte des ersten Bandes endet pompös mit dem Hochzeitsfest der sechzehnjährigen Lila. Ferrante stattet ihren Roman mit einer Rahmenhandlung aus, die besondere Aufmerksamkeit verdient. Sie wird im Prolog eingeführt und ist auf der Zeitebene der Gegenwart angesiedelt. Lenù und Lila, beide 1944 geboren, sind 66 Jahre alt. Lenù, die längst in Turin lebt, erhält einen Anruf von Rino, Lilas Sohn, einem Nichtsnutz um die vierzig. Seine Mutter sei wie vom Erdboden verschluckt, sagt er. Lenù wundert das nicht.
    "Seit mindestens drei Jahrzehnten erzählt sie mir, dass sie spurlos verschwinden möchte, und nur ich weiß, was sie damit meint. Sie hat nie eine Flucht im Sinn gehabt, einen Identitätswechsel, den Traum, anderswo ein neues Leben zu beginnen. Sie hat auch nie an Selbstmord gedacht, ist ihr doch die Vorstellung zuwider, Rino könnte mit ihrem toten Körper zu tun haben und müsste sich um sie kümmern. Nein, ihr schwebte etwas anderes vor: Sie wollte sich in Luft auflösen, wollte, dass sich jede ihrer Zellen verflüchtigte, nichts von ihr sollte mehr zu finden sein. Und da ich sie gut kenne, bin ich fest davon überzeugt, dass sie einen Weg gefunden hat, nicht einmal ein Haar auf dieser Welt zurückzulassen, nirgendwo."
    "Elena Ferrante" ist ein Pseudonym, niemand weiß, wer sie ist
    Ferrante variiert hier ein Motiv, das ihre eigene Existenz markiert. In der italienischen Gegenwartsliteratur gibt es nämlich kaum ein verblüffenderes Geheimnis:
    Elena Ferrante ist ein Pseudonym, niemand weiß, wer sie ist, wo sie lebt und ob sich hinter ihrem Namen möglicherweise mehrere Personen verbergen. Es existiert kein Foto von ihr, Interviews gibt sie nur sporadisch und ausschließlich schriftlich. Sie publiziert seit beinahe einem Vierteljahrhundert, und bisher hatte man ihre Anonymität akzeptiert. Mit dem bahnbrechenden Erfolg ihrer Tetralogie, die in Italien zwischen 2011 und 2014 erschien, gewannen die Spekulationen über ihre tatsächliche Identität erneut an Fahrt.
    Der Schriftsteller Roberto Saviano, Verfasser des dokumentarischen Neapel-Romans Gomorrha und ein Star der jüngeren Generation, nannte sie die wichtigste italienische Autorin von internationalem Rang und schlug sie 2014 für den renommiertesten Literaturpreis Italiens, den Premio Strega, vor, den sie wegen ihrer Anonymität aber nicht erhalten konnte. Der Petrarca-Experte Marco Santagata kam nach einer umfangreichen Analyse sämtlicher Daten, Handlungsorte und Figuren zu dem Ergebnis, dass es sich bei der Verfasserin um die Historikerin Marcella Marmo aus Neapel handeln müsse, die diese Vermutung aber höflich zurückwies. Phantasie habe sie nur beim Kochen, ließ sie verlauten. Marino Sinibaldi, Programmdirektor des Hörfunksenders Radio Tre, gab zu, dass seine Hypothese, es müsse sich bei Ferrante um die Schriftstellerin Fabrizia Ramondino gehandelt haben, durch deren Tod ad absurdum geführt wurde.
    Es wären aber auch verschiedene heimliche Autoren denkbar. Wegen der stilistischen Unterschiede zwischen dem Frühwerk und der Tetralogie findet auch diese Theorie ihre Anhänger. Sicher scheint nur zu sein, dass unter den Verfassern ein Neapolitaner sein muss, allzu intim sind die Kenntnisse der Stadt. Ebenfalls seit Langem kursiert das immer wieder zurückgewiesene Gerücht, hinter den Romanen von Elena Ferrante steckten die Übersetzerin Anita Raja und der Schriftsteller Domenico Starnone. Das Ehepaar stammt aus Neapel, Starnone, Jahrgang 1943, ist der Sohn eines Eisenbahners und hat das Milieu, das in "Meine geniale Freundin" vermittelt wird, in seinem Roman Via Gemito geschildert. Anita Raja ist die Übersetzerin von Christa Wolf, die genau wie Elena Ferrante in dem kleinen römischen Verlag e/o erscheint. Mit dem Verlegerehepaar Sandro Ferri und Sandra Orzola besteht eine enge Freundschaft.
    Ob die Rebellion an den Universitäten 1968, die Radikalisierung der Linken oder der Terrorismus, was in den späteren Bänden die Lebenswege der Figuren bestimmt – sie kennen alles aus eigener Anschauung. Starnone, der als Lehrer, Journalist und Drehbuchautor gearbeitet hat und formal und sprachlich sehr viel ambitioniertere Romane schreibt, hat Neapel mehrfach als eine Metapher für die Gegenwart gedeutet. Gegen diese Hypothese spricht, dass der Ausstoß an Romanen und Übersetzungen des Ehepaars bereits ohne die Ferrante-Serie enorm ist. Auch die Verleger selbst, die die Autorin als einzige kennen, wurden als Verfasser ins Spiel gebracht.
    Italo-amerikanisches Publikum entdeckt Geschichte seiner Großeltern
    Für die Frage nach der Qualität von "Meine geniale Freundin" sind die Spekulationen über die Urheberschaft zweitrangig, zum Wirbel um das Buch tragen sie zweifellos bei. In den USA war Resonanz verblüffend. Nicht nur der Literaturkritiker James Wood veröffentlichte im New Yorker eine Lobeshymne, auch die Pulitzerpreisträgerin Elizabeth Strout begeisterte sich für Ferrante, ebenso wie Oprah Winfrey. Dass Ferrante zum Verkaufsschlager wurde, könnte aber auch mit dem italo-amerikanischen Publikum zusammenhängen, das hier die Geschichte seiner Großeltern entdeckt. Erst über den Umweg des internationalen Erfolges begann man sich jetzt auch in Deutschland, wo einige frühere Romane Ferrantes ohne größeres Echo herausgekommen waren, für die Tetralogie zu interessieren.
    In "Meine geniale Freundin" ist Lilas spektakuläres Verschwinden der Auslöser für den Erzählschub. Es ist nicht nur die Vergangenheit, die für Lenù plötzlich an Gegenwärtigkeit gewinnt. Es ist vor allem die Intensität der Gefühle, die einen Kontakt zu dem herstellt, was sie und Lila früher waren. Am Ende holt Lila das Schlechte aus ihrem Viertel, dem sie zu entkommen glaubte, doch wieder ein – aber damit ist das Ganze noch längst nicht zu Ende. Das ist der einzige Nachteil für die deutschen Leser: Sie müssen auf den zweiten Band warten.
    Elena Ferrante: "Meine geniale Freundin"
    Suhrkamp Verlag, 422 Seiten, 22 Euro