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Elif Shafak beim Literaturfestival Berlin
"Lassen Sie uns nie ein Land isolieren"

Das Internationale Literaturfestival Berlin ist mit einem Vortrag der türkischen Schriftstellerin Elif Shafak gestartet. Die 45-Jährige sprach darin über Demokratie, Populismus und über die starke Zivilgesellschaft der Türkei - und dass es ein Fehler sei, die Menschen dort im Land zu isolieren.

Von Cornelius Wüllenkemper | 07.09.2017
    Die türkische Schriftstellerin Elif Shafak, aufgenommen 2015 in Lissabon
    Die türkische Schriftstellerin Elif Shafak (imago/GlobalImagens)
    Auf Festivals und Konferenzen falle ihr für gewöhnlich die Rolle zu, traurige Reden zu halten, so bekannte Shafak in Berlin nicht ohne dabei fein zu lächeln. Allerdings habe sie festgestellt, dass immer mehr Autoren den Zustand der Welt beklagten, ob aus Polen und Ungarn, aus dem Vereinigten Königreich oder den USA.

    "Wir leben in einer Zeit", so Elif Shafak "in der Politik von Gefühlen geleitet und missgeleitet wird. Und es ist bedauerlich, dass die politische Auffassung der Mehrheit dem nicht ausreichend Argumente entgegensetzt. Wir haben es mit Gefühlen wie Aufregung, Zuneigung, Ärger, Angst und Unsicherheit zu tun. Ich befürchte, die Populisten haben es besser als Demokraten und Liberale vermocht, Zugang zu diesen Gefühlen der Menschen zu finden. Wir müssen unsere Arbeit also besser machen. Gerade für uns Schriftsteller ist das ein interessantes Thema, denn Emotionen sind doch unser Arbeitsmaterial."
    Shafak verzichtete auf konkrete Angriffe gegen die Politik ihres Landes: Sie kommentierte weder die rechtswidrigen Verhaftungen deutscher Staatsbürger noch die Verletzung internationaler diplomatischer Konventionen. Dennoch verwies sie auf die gerade in konservativen türkischen Kreisen verbreitete Auffassung, der Islam und Demokratie passten nicht zueinander. Man brauche vielmehr eine "wohltätige Diktatur". Und tatsächlich klingt da Erdogans Ausspruch als Bürgermeister Istanbuls 1998 im Ohr: Die Demokratie nutze er wie eine Straßenbahn: Wenn man am Ziel angelangt sei, springe man ab. Sie stamme aus einem Land, so Elif Shafak, in dem Worte großes Gewicht hätten. Jeder türkische Autor, Dichter, Journalist und Wissenschaftler wisse spätestens jetzt, dass man wegen geschriebener oder gesprochener Worte sehr schnell großen Ärger bekommen könne.
    "Zensur, die man verinnerlicht hat"
    "Alles, was man in einem Interview sagt, in einem Artikel schreibt, selbst ein Tweet oder Re-Tweet, kann uns innerhalb von einem Tag zum Opfer der Zeitungen oder Internet-Trolle der Regierungen machen, man kann uns vor Gericht zerren, ins Exil schicken und als Verräter verunglimpfen. Und dessen sind wir uns beim Schreiben bewusst. Daraus entsteht Selbstzensur, ein schwieriges, auch peinliches Thema. Wie geht man damit um? Es ist einfacher, gegen ein klares gesetzliches Verbot anzuschreiben als gegen Angst, Einschüchterung und Zensur, die man verinnerlicht hat."
    Die türkische Literaturszene, so sagte Elif Shafak in der kritischsten Passage ihrer Rede in Berlin, sei bei genauem Hinschauen ebenso patriarchalisch, sexistisch und homophob geprägt wie die türkische Politik. Sie forderte ihre schreibenden Kollegen auf, Missstände lauter und konkreter zu benennen. Von der türkischen Opposition verlangte sie, sich auf gemeinsame Ziele zu konzentrieren, anstatt sich in politischen Grabenkämpfen selbst zu zerlegen. Zugleich plädierte Shafak nach einem Ausspruch Antonio Gramscis für den "Pessimismus des Kopfes und den Optimismus des Willens:
    "Wenn wir uns zu sehr auf Politik und Politiker konzentrieren, macht uns das traurig. Aber wenn wir mit echten Menschen sprechen, mit Frauen, Studenten oder Minderheiten, egal mit welchem Hintergrund, dann entdeckt man eine große Stärke und Energie. Die Türkei hat eine erstaunlich starke Zivilgesellschaft. Diese Leute existieren, auch wenn wir sie nicht hören, sie sind unheimlich widerständig. Lassen sie uns nie ein Land isolieren. Lassen Sie uns die Regierung und Politiker kritisieren, aber wir dürfen ein Land niemals isolieren."
    Der Spaltung der türkischen Gesellschaft stellt die Weltbürgerin Shafak die Erkenntnis entgegen, dass der Mensch hauptsächlich aus Wasser bestehe. "Das freie Fließen ist uns viel näher als eine statische Identität", gab Shafak zu bedenken. Gestern Abend stellte sie damit zugleich unter Beweis, dass Worte und Literatur Perspektiven ändern und Gräben überbrücken können.