Dienstag, 19. März 2024

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Emil Cimiotti zum 90. Geburtstag
Zerbrechlichkeit und menschliches Maß

Das Sprengel Museum Hannover würdigt einen der großen deutschen Nachkriegs-Bildhauer: Emil Cimiotti, Student von Ossip Zadkine in Paris, traf mit seinen geerdeten, schrundigen Skulpturen in den 60-ern den gebrochenen Zeitgeist. Bis heute arbeitet er tagtäglich in seinem Atelier in Wolfenbüttel.

Von Rainer-Berthold Schossig | 19.08.2017
    Plastik von Emil Cimiotti in der Galerie der Kreissparkasse Esslingen-Nürtingen, 2007.
    Schwer und doch leicht, durchlässig, organisch: Eine Bronzeplastik von Emil Cimiotti. (imago / Horst Rudel)
    An Emil Cimiotti erinnern heißt, historisch ein Stück zurückzublicken: Er gehörte zu den namhaften deutschen Bildhauern der Nachkriegszeit. Er hatte in Stuttgart und Berlin studiert, später bei dem legendären Ossip Zadkine in Paris; er erhielt gleich zweimal den renommierten Kunstpreis "junger westen", erst für Plastik, dann für Zeichnung. Die filigranen Werke des erst 30-Jährigen wurden 1958 auf der 29. Biennale in Venedig gezeigt.
    Schon als 30-Jähriger auf der Biennale
    Er war beteiligt an der Documenta II, III und IV. Woher kam der Erfolg des Göttinger Arbeiterkindes mit dem exotischen Namen Cimiotti? Nun, er gehört zu den intelligenten Bildhauern. Seine geerdeten, schrundigen Skulpturen stehen für elementare, geistige und Formprobleme, humane Erfahrung mit Natur und Architektur. Genau damit traf er in den 50er und 60er Jahren den gebrochenen Zeitgeist.
    "Das, was ich mache, ist ein selbstverständlicher Reflex auf das, was ich erlebe. Das heißt, dass meine Plastiken auch existenziell zu begreifen sind. Denn in meinen Plastiken ist ablesbar, dass die Existenz etwas Fragiles ist; auch meine Plastiken sind relativ fragil."
    Gründer der plastischen Tradition des Bronzegusses
    Es ist das menschliche Maß und die Zerbrechlichkeit, die Cimiottis Plastiken kennzeichnen, ihre Oberflächen sind verletzt, aufgebrochen, sie offenbaren so die Leere dunkler Hohlformen. Wie selbstverständlich überwand Cimiotti die unversehrten, geschlossenen, gespannten Formen seines Lehrers Karl Hartung und begründete eine neue plastische Tradition des Bronzegusses. Man subsumierte ihn daher als "Abstrakten" unter den Stilbegriff des Informel.
    "Den Begriff gab es nicht, als ich Mitte der 50er Jahre meine Plastiken entwickelte. Meine späteren Entwicklung ist durchaus heterogen verlaufen. Alles was wir als Einschränkungen unter ‚abstrakt‘ oder ‚gegenständlich‘ mit Etikett versehen, das zählt für mich überhaupt nicht."
    "Formbar, roll-, quetsch- und knautschbar"
    Sensibilität fürs Stoffliche, für Körper und Räumlichkeit zieht sich durch Cimiottis gesamtes Schaffen bis ins Spätwerk, von dem jetzt ausgewählte Beispiele im Hannoverschen Sprengelmuseum gezeigt werden: Zwei sockellose Bodenplastiken, die für die Prinzipien des Waagerechten und des Vertikal-Aufstrebenden stehen, und eine Reihe großzügiger Papierfaltungen, in denen das gute, alte Papier nicht nur Farbträger ist, sondern vor allem formbares, roll-, quetsch- und knautschbares, plastisches Material.
    Cimiotti spielt damit, er strebt keine illusionistischen Volumina an, vielmehr naturhafte Bildlandschaften. Abstraktion und Naturverbundenheit finden so zu dialektischer Einheit zusammen. Vielleicht eine Quintessenz dieses Lebenswerk, das die historischen Fesseln der Informell-Skulptur längst gesprengt hat - Bildhauerei jenseits jeder metallischen Schwere. Mit solch filigraner, heiterer Leichtigkeit arbeitet er 90-jährige Emil Cimiotti noch immer tagtäglich in seinem Atelier in Wolfenbüttel.
    "Ich könnte mir mein Leben, ohne zu produzieren, und zwar andauernd zu produzieren bis heute, überhaupt nicht vorstellen, das ist meine elementare Lebensäußerung!"