Dienstag, 19. März 2024

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Emmanuel Macron vor der Amtseinführung
"Im politischen System sind Türen aufgestoßen worden"

Der frühere französische Außenminister Hubert Védrine geht davon aus, dass erst nach der Bundestagswahl ernsthafte deutsch-französische Verhandlungen über die Zukunft Europas beginnen werden. Die wichtigste Voraussetzung für Macrons Reformpolitik sei eine Mehrheit bei den Parlamentswahlen im Juni, so Védrine im DLF.

Hubert Védrine im Gespräch mit Christoph Heinemann | 12.05.2017
    Französische Wähler schauen gemeinsam der Verkündung der Wahlergebnisse nach der Präsidentschaftswahl am 7. Mai 2017 zu: Der parteilose Emmanuel Macron ging als Sieger hervor.
    Französische Wähler schauen gemeinsam der Verkündung der Wahlergebnisse nach der Präsidentschaftswahl am 7. Mai 2017 zu: Der parteilose Emmanuel Macron ging als Sieger hervor. (picture alliance / Irina Kalashnikova/Sputnik/dpa)
    Christoph Heinemann: Als der gewählte Präsident am vergangenen Sonntag allein den Hof des Louvre durchquerte, haben Sie da an den 21. Mai 1981 gedacht, als der frisch gewählte Präsident Francois Mitterrand allein durch das Pantheon schritt?
    Hubert Védrine: Ja, das war eine schöne Zeremonie, eine sehr gute Inszenierung, im Geiste Mitterrands. Vom visuellen Eindruck her war das ein guter Start.
    Christoph Heinemann: War das eine bewusste Bezugnahme auf Francois Mitterrand?
    Hubert Védrine: Ja, das glaube ich. Ich weiß aber nicht, ob das eine tiefere Bedeutung für seine Politik haben wird. Das wird sich später herausstellen.
    Christoph Heinemann: Welche ist die größte politische Herausforderung für den gewählten Präsidenten Emmanuel Macron?
    Hubert Védrine: Er muss eine Mehrheit bekommen. Er wurde mit großer Mehrheit gegen Marine Le Pen gewählt. Eine Koalition hat sich um ihn gebildet, um die Wahl von Marine Le Pen zu verhindern. In Klammer füge ich hinzu: Seit zwei, drei Jahren wussten wir aus allen verfügbaren Studien, dass Marine Le Pen in den zweiten Wahlgang gelangen würde, dass sie dort aber von jedem beliebigen Gegner geschlagen werden würde. Die Sorgen in Deutschland, England und vielen europäischen Ländern hatten mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Es gab kein Risiko, auch wenn Frau Le Pen ein hohes Stimmenergebnis erzielt hat. Da viele ihre Wahl befürchtet haben, gibt es nun eine deutliche Erleichterung. Und das ist eine Trumpfkarte in der Hand des neuen Präsidenten. Das ist sehr positiv, unter der Bedingung, dass er eine Mehrheit bekommt.
    Christoph Heinemann: Sie haben den Front National erwähnt: Marion Maréchal-Le Pen möchte sich vorübergehend aus der Politik zurückziehen. Marine Le Pen wurde wegen der Fernsehdebatte kritisiert, sie hat eine Reform des Front National angekündigt. Wurde diese Partei durch die Präsidentschaftswahl gestärkt oder geschwächt?
    "Mélenchons Programm ist ebenso absurd wie das von Marine Le Pen"
    Hubert Védrine: Diese Partei wächst seit Jahren. Zwar nicht sehr schnell und nicht sehr stark, aber immerhin. Wir müssen uns weiterhin die Frage stellen, warum so viele Menschen in Frankreich bereit sind, das Programm der extremen Linken oder Rechten zu wählen. Das Programm von Mélenchon ist genauso absurd wie das von Marine Le Pen. Die Architekten der Globalisierung und der europäischen Konstruktion der vergangenen 30 Jahre müssen versuchen, dieses Phänomen zu verstehen. Es führt zu nichts, wenn man den Populismus verurteilt, ohne sich mit den Ursachen zu beschäftigen.
    Christoph Heinemann: Welche Antwort bietet Präsident Macron?
    Hubert Védrine: Seine erste Antwort bezieht sich auf die nächste Wahl. Die Menschen wollten weder Mélenchon noch Marine Le Pen. Allerdings ist seine Koalition nicht stabil. Konservative und Linke streiten jetzt darüber, ob sie sich dem Mehrheits-Lager des Präsidenten anschließen wollen, ob sie sich auf eine Zusammenarbeit von Fall zu Fall einlassen oder systematisch eine Oppositionshaltung einnehmen wollen.
    Auch deshalb ist die Berufung des Premierministers und die Bildung der Regierung in den kommenden Tagen so wichtig. Diese Entscheidungen werden die Parlamentswahlen beeinflussen.
    Christoph Heinemann: Macron möchte die Eurozone stärken: Entwickelt sich diese Eurozone zum harten Kern?
    Hubert Védrine: Die eigentliche Diskussion zwischen Emmanuel Macron und Deutschland, deren Intensität davon abhängen wird, ob er bei der Parlamentswahl eine Mehrheit bekommt oder nicht, wird erst nach der Bundestagswahl beginnen. Vorher wird es einen Austausch und Treffen geben. Aber die tatsächlichen Verhandlungen über die Zukunft Europas werden erst nach der Wahl im September und nach der Bildung einer neuen Bundesregierung stattfinden. Und in dem deutschen System kann es lange Koalitionsverhandlungen geben.
    Der ehemalige französische Außenminister Hubert Védrine
    Der ehemalige französische Außenminister Hubert Védrine: "Die großen rechten und linken Parteien, die das politische Leben in Frankreich mehrere Jahrzehnte lang bestimmten, haben sich selbst zerstört. Macron hat es verstanden, diese Lage mit großer politischer Intelligenz für sich zu nutzen." (AFP / John Macdougall)
    "Macrons Verhandlungsspielraum hängt vom Reformprozess in Frankreich ab"
    Christoph Heinemann: Deutsch-französische Verhandlungen mit welchem Ziel?
    Hubert Védrine: Emmanuel Macron ist sehr pro-europäisch eingestellt. Er hat Vorschläge unterbreitet. Auf deutscher Seite, ganz gleich wer Kanzler sein wird, wird man den Franzosen sagen: Wir können gern gemeinsam etwas für Europa tun, die Deutschen schätzen Macrons Einstellung. Aber sie werden auch sagen: Damit wir Frankreich wieder ernst nehmen können, muss Frankreich Reformen auf den Weg bringen. Macrons Verhandlungsspielraum für eine deutsch-französische Initiative im kommenden Herbst hängt davon ab, ob er vorher einen Reformprozess in Frankreich in Gang setzen kann. Bisher waren die Deutschen weder an einem eigenen Haushalt für die Eurozone noch an einem Euro-Finanzministers besonders interessiert. Das sind nicht gerade deutsche Prioritäten.
    Christoph Heinemann: Ebenso wenig die Eurobonds.
    Hubert Védrine: Die auch nicht. Über diese und andere Vorschläge kann man reden. Irgendwie wird man die Eurozone beleben. Aber nicht unbedingt auf der Grundlange der heutigen französischen Vorschläge. Wir werden sehen.
    Christoph Heinemann: Wird Frankreich unter Präsident Macron die Maastricht-Kriterien einhalten?
    Hubert Védrine: Wenn Präsident Macron eine absolute Mehrheit erzielt, kann man sich gut vorstellen, dass er einen seriösen Weg für Reformen und mit dem Drei-Prozent-Ziel einschlagen wird. Innerhalb welcher Zeit, kann ich nicht sagen. Das würde Deutschland ermutigen und vielleicht zu Gesten gegenüber Frankreich bewegen. Denn auch in Deutschland findet eine Debatte darüber statt, ob ein weniger unnachgiebiger und etwas flexiblerer wirtschaftspolitischer Kurs nicht von Interesse sein könnte.
    "Macron erwartet, dass Deutschland ihn in seiner Reformpolitik für Europa unterstützt"
    Christoph Heinemann: Erwartet Macron das von Deutschland?
    Hubert Védrine: Er erwartet, dass Deutschland ihn in seiner Reformpolitik für Europa unterstützt. Er kann allerdings nicht erwarten, dass sich Deutschland einfach nach ihm richtet. Das ist schon komplizierter. Aber ich glaube, dass im Herbst, ausgelöst durch die deutsch-französische Zusammenarbeit, erstmals seit vielen Jahren etwas in Gang kommen wird.
    Christoph Heinemann: Besteht das Risiko, verlorener fünf Jahre, dass seine Präsidentschaft scheitert?
    Hubert Védrine: Natürlich, das besteht immer. Im Falle Macrons gibt es besondere Umstände. Die großen rechten und linken Parteien, die das politische Leben in Frankreich mehrere Jahrzehnte lang bestimmten, haben sich selbst zerstört. Macron hat es verstanden, diese Lage mit großer politischer Intelligenz für sich zu nutzen. Das stärkt ihn, denn rechts und links sind die Kräfte, die alles blockieren können, geschwächt. Die Demagogen der extremen Rechten und Linken werden ihn zwar immer überbieten. Aber im eigentlichen politischen System sind Türen aufgestoßen worden. Damit verfügt er über sehr viele Mittel zum Erfolg.