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Emotionale Zombies mit Dosenherzen

Joe Stretch ist kein Kind von Traurigkeit. Gelangweilte Frauen auf Sexmaschinen, sich grämende Lebenspartner die sich daraufhin umbringen und sogar der ultimative Fetisch des Fötusmachens samt rechtzeitiger Abtreibung finden ihren Platz in seiner youngster-Gesellschaft.

Ein Beitrag von Sabine Peters | 23.01.2009
    Wenn Romanhelden jung, schön, wohlhabend und gelangweilt sind, darf man so Schauerliches wie das Zerstückeln von Frauen erwarten. Dieses Muster kennt man aus dem umstrittenen Buch "American Psycho" von Bret Easton Ellis. Auf andere Weise hat sich Michel Houellebecq mit Zeitgeistphänomenen wie Sexualisierung, Brutalisierung und der inneren Leere frustrierter westlicher Großstädter beschäftigt. Und wieder wurde gefragt, ob der Autor nun ein Zyniker oder ein Moralist sei – was ja oft nicht so weit auseinander liegt. Die zahlreichen Tabubrüche beider Schriftsteller sicherten ihnen jedenfalls große Aufmerksamkeit.

    Mit dem Briten Joe Stretch, der 1983 geboren wurde, hat ein weiteres Enfant terrible die literarische Bühne betreten. Sein Debütroman "Widerstand" spielt in einem Zeitalter von "Kohle und Müll": Die Kohle, das Geld, fällt den Helden mehr oder weniger zu, und was sie dafür kaufen, ist trash, immer neuer Mode-Müll, neue Drogen, neues Spielzeug, und das alles befriedigt natürlich nur kurzfristig. Sämtliche Figuren bei Stretch sind emotionale Zombies mit "Dosenherzen", die selbstverständlich nicht mehr an das "Konstrukt Liebe" glauben. Also muss die Sexualität das Glück bringen, und Glück ist definiert als der ultimative Kick. Carly probiert das erste Modell einer Sexmaschine aus, die ihren Begleiter Steve mehr als ersetzt. Justin und Rebecca dagegen werden der Menschheit dienen und die Sexualität revolutionieren. Ihre Experimente sollen ein perfektes Dasein ermöglichen. Dieses Dasein wird unschuldig sein. Es soll ein Wesen entstehen, das sich nie die Fingernägel lackieren oder Designerfrisuren ausprobieren wird. Ein Wesen, das niemals unter Langeweile leiden oder Sinnlosigkeit befürchten muss. Dieses magische Wesen, dieser Fetisch ist ein Fötus. Und die Lust besteht eben darin, Leben zu zeugen und rechtzeitig vor der Geburt abzutreiben. Natürlich läuft die Gesellschaft in groß organisierten Antiporno- Demonstrationen Sturm gegen die neue Mode, aber gleichzeitig finden die sogenannten "Spaßschwangerschaften und Spaßabtreibungen" auch immer mehr Anhänger.

    Es kommt, wie es kommen muss: Carly wird so süchtig nach den Stromschlägen der Sexmaschine, dass man sie schließlich mehr oder weniger verkohlt auffindet, die erste Sextote einer schnell wachsenden Zahl. Steve, der erkennen muss, als Mann aus der Mode gekommen zu sein, bringt sich um. Rebecca, die ihren Fötus dann doch nicht abtreiben will, entbindet das Kind, stirbt aber bei der Geburt. Dieses Kind, mittlerweile ein junger Erwachsener, ist der kommentierende Ich-Erzähler im Roman von Joe Stretch, der von Kindheit an in einem Heim interniert ist. Er recherchiert seine Herkunftsgeschichte im sogenannten "Evernet" und hat ein leidenschaftliches Interesse an der narzisstischen, pornografiegläubigen Konsumgesellschaft, die zu seinem Bedauern mittlerweile abgelöst ist von einem Regime, das sich in dem Slogan "die Zukunft heißt Liebe" wiederfindet.

    "Widerstand" heißt dies Buch, im Original "friction", also auch "Reibung". Joe Stretch sagte in einem Interwiew, es sei ihm um die Reibung zwischen Menschlichkeit und Marktmechanismen gegangen. Er sehe sich allerdings nicht als Moralist, wolle nicht belehren, sondern eher seine Wut über die brutal-hedonistische Gesellschaft ausdrücken.

    Ein neuer Ansatz einer Schockästhetik? Oder doch nur einmal mehr das Drehen an der Reizspirale? Eine neue Form der Schockästhetik findet sich hier nicht. Stretch macht es sich formal und stilistisch über weite Strecken des Buchs äußerst einfach; sein Buch lässt sich getrost bei laufendem Fernseher lesen. Mit einer Kategorie wie "Widerstand" hat diese Art des Erzählens nun gar nichts zu tun. Im Unterschied zu Stretch sei hier übrigens noch einmal an die komplexen Erzählungen und Romane von David Foster Wallace erinnert: Auch sie spießen die Verkommenheit moderner Zeitgenossen auf. Aber das Zirkulieren zwischen empathischem und klinisch-kühlem Ton gibt seinen Texten einen eigenartig spröden Wert.

    Auch wenn man den Roman "Widerstand" an seinem eigenen Anspruch misst, wird inhaltlich Einiges verschenkt. Denn Joe Stretch beschreibt nicht, worin der Kick seiner "Spaßabtreibungen" für seine Figuren eigentlich liegt. Der Vorgang bleibt, vielleicht dankenswerterweise, eine absolut abstrakte Sprechblase. Es geht aber nicht nur um den "Kick". Das Motiv, sich zum Gott zu machen und noch einmal ein schuldloses Wesen zu erschaffen, also einen paradiesischen Zustand herzustellen, dieses philosophisch-theologische Motiv geht in der ermüdenden Aneinanderreihung von Sex-Szenen und den Hasstiraden auf die Spaßgesellschaft einfach unter.

    Debüts zu bewerten ist so reizvoll wie zweifelhaft. Wahrscheinlich muss der Autor mit seinem Erstling gewissermaßen das ganz hohe Fis anpeilen – aber dann fragt sich eben, welche Töne darauf folgen, was danach kommt. Die Wut, die aus dem Roman "Widerstand" spricht, hat im Unterschied etwa zu David Foster Wallace etwas Gefälliges, im Tonfall fast Selbstverliebtes. Und das analytische Potenzial dieser Wut hält sich in Grenzen. Stretch belässt es bei der Deskription eines kleinen Ausschnitts der Gesellschaft. Sein Interesse gilt den situierten, indifferenten, enthemmten youngsters. Das liest sich glatt herunter. Wenn hier etwas provoziert wird, ist es vor allem eins: Übersättigung.

    Joe Stretch: Widerstand. Roman. Aus dem Englischen von Volker Oldenburg. Rowohlt-Verlag, 400 Seiten, 19,90