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Endlich mal erklärt
Ist die Regisseurin wichtiger als der Autor?

Regietheater gegen Werktreue, Interpretation gegen Text: Was auf die Bühne kommt, kann aus verschiedenen Gründen gar nicht immer genau das sein, was einst als Stück geschrieben wurde. Manchmal überlassen die AutorInnen die Umsetzung sogar ganz bewusst den RegisseurInnen.

Von Barbara Behrendt | 08.04.2020
Der Berliner Regisseur Dominik Büttner inszeniert die Dreigroschenoper am neuerbauten Theater in Samara.
Der Regisseur setzt um, was die AutorInnen schreiben: Dominik Büttner am Theater in Samara. (Deutschlandradio/Gabi Schlag)
Dass der Regisseur oder die Regisseurin am Theater heute weitaus mehr gilt als der Autor oder die Autorin des Stücks, lässt sich allein an der Organisation des Theaterbetriebs festmachen. Regisseure – auch Regisseurinnen, doch ihr Anteil beträgt nur 30 Prozent – sind die Chefs der Produktion. Sie treffen die Entscheidungen: vom Bühnenbild übers Kostüm, der Besetzung bis hin zu dem, was wie auf der Bühne gesagt und getan wird. Hat sich eine Regisseurin oder ein Regisseur einen Namen erarbeitet, wählt sie oder er auch das Stück aus und streicht. Oder entwickelt den Stoff gleich selbst.
Diese Machtfülle geht oft auf Kosten der Autorinnen und Autoren. Bei den Berliner Autorentheatertagen – einem Festival des Deutschen Theaters, das dezidiert Dramatikerinnen und Dramatiker ins Zentrum stellen möchte – hat vor zwei Jahren der Regisseur Sebastian Hartmann vom neuen, prämierten Stück eines Autors nur Fetzen übrig gelassen. Dadurch wurde der Sinn derart verkehrt, dass der Abend nicht mehr Uraufführung genannt werden durfte. Das sorgte für Aufruhr. Doch Hartmann wurde für die Inszenierung sehr gelobt. Das Ergebnis zählt, sagten viele.
Eigentlich nur Organisator
Um zu verstehen, wie es zu dieser Machtfülle kam, muss man sich die Anfänge des Berufs ins Gedächtnis rufen. Den Regisseur, wie wir ihn heute kennen, gibt es erst seit gut einhundert Jahren. Davor waren es oft die Autoren selbst, die ihre Stücke mit Schauspielerinnen und Schauspielern probten. Der Regisseur war reiner Organisator. Man spielte die Stücke vom Blatt und war überzeugt, dass man "werktreu" inszeniert. Ohne sich bewusst zu machen, dass ein Stück auf Papier umgesetzt auf der Bühne nur eine Interpretation darstellen kann. Die Aussage eines Stücks verändert sich, wenn der Hamlet 18 statt 30 Jahre jung ist, aufbrausend statt zaghaft. Es wird, solange es Menschen gibt, keine zwei identischen "Romeo und Julia"-Inszenierungen zu sehen geben.

Mit Max Reinhardt und Erwin Piscator hat sich der Beruf des Regisseurs in den 1920er-Jahren auch deshalb verändert, weil sich die Bühnentechnik mit Beleuchtung und Mechanik rasant entwickelt hat und zudem ein Bedürfnis nach realistischerer Darstellung entstanden war. Als Reinhardt die Schauspieler und alle Mittel auf eine einzige Interpretation verengte, sah man plötzlich eine große ästhetische Energie freigesetzt.
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"Interpretationstheater"
Es sind dies die Vorläufer des so genannten "Regietheaters" – ein problematischer Begriff, der in unterschiedlichen Zeiten ganz unterschiedliche Verwendung fand. Ursprünglich war mit Regietheater (sehr positiv!) das Interpretationstheater gemeint, mit dem Regisseure wie Peter Stein in den 1970er-Jahren die Berliner Schaubühne weltberühmt machten. Regietheater hieß bei Stein: dem Text fokussiert auf den Grund gehen. Mittel finden, die Intention des Autors oder der Autorin dem heutigen Publikum zugänglich zu machen.

Das Regietheater geriet in die Kritik, als es später immer selbstbezogener und willkürlicher wurde. In Opposition dazu entstanden in den 1980er- und 1990er-Jahren Theaterformen, die sich ganz vom Text abwandten – doch nicht weniger regie-willkürlich waren.
Heute, noch einmal 30 Jahre später, muss ein Gegenwartsautor erfreut sein, wenn eine Regisseurin sich überhaupt mit seinen Stücken beschäftigen möchte. Alle Macht der Regie – nur in Deutschland ist das derart extrem. In Ländern wie Frankreich und England hat der Autor, die Autorin am Theater einen deutlich höheren Stellenwert.
Existentiell oder exzentrisch
Selbstverständlich: Auch unter der Regie-Allmacht entsteht große Kunst. Um auf Sebastian Hartmann zurückzukommen: Er inszeniert stets lediglich Bruchstücke von Geschichten, spinnt sie collagenhaft weiter – im besten Fall gerät man mit ihm in einen großen Bilderrausch und dringt zu existenziellen Fragen vor. Im schlechtesten Fall aber bleibt das Gesehene nichts als exzentrisch und selbstreferenziell.
Viel zu häufig sind heute am Theater unerfahrene Regisseurinnen und Regisseure zu erleben, die lediglich das inszenieren, was sie derzeit zufällig gerade an einem Stoff interessiert. Oder sie schreiben selbst einen Text – der meist weit entfernt bleibt von der Qualität dessen, was ein professioneller Autor kreieren kann.
Der Autor ist der einzige Kreative am Theater, der nicht zum Betrieb gehört; der Themen von außen einbringt, und der zur Betriebsstörung werden kann – im besten Sinne. Stücke, an denen Autorinnen und Autoren ein Jahr lang arbeiten, beschreiben normalerweise komplexere Außenwelten als jene Schnellschüsse, die Regisseure sich innerhalb von wenigen Probenwochen erdenken. Die Pflege dieser Autorinnen und Autoren fehlt am Theater.