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Endspurt für REACH

Die EU ist ehrgeizig: Mit einer neuen Chemikalienpolitik will sie die Wirtschaft für den globalen Wettbewerb stärken und gleichzeitig Mensch und Umwelt besser vor gefährlichen Substanzen schützen. Im Kern des Projektes steht REACH. Diese Abkürzung steht für "Registration, Evaluation and Authorisation of Chemicals", also für das neue Anmelde-, Bewertungs- und Zulassungsverfahren für Chemikalien, das Umweltkommissarin Margot Wallström und Wirtschaftskommissar Erkki Liikanen vor fast einem Jahr - am 29. Oktober - gemeinsam vorstellten. Reinhard Schulte-Braucks von der Generaldirektion Unternehmen:

Von Ralph Ahrens | 12.09.2004
    Das Konzept der nachhaltigen Entwicklung hat bei Erarbeitung der REACH-Verordnung Pate gestanden. Es ist ein Konzept, das aus drei Säulen besteht: der wirtschaftlichen, der Umweltsäule und der sozialen Komponente. Unserer Auffassung nach sind alle drei Säulen gleichberechtigt und müssen gleichzeitig verwirklicht werden.

    Doch die Meinungen über REACH sind geteilt. Umwelt- und Verbraucherschützern zum einen gehen die von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Regeln nicht weit genug. Unternehmen und Verbände hingegen - nicht nur in der Chemieindustrie, sondern in der ganzen Wirtschaft - sehen unnötige Kosten und Bürokratie auf sich zukommen. Klaus Mittelbach vom BDI, dem Bundesverband der Deutschen Industrie:

    REACH wird alle Stoffe betreffen und Produkte bestehen aus Stoffen. Und insofern sind alle Produkte, die in der Wirtschaft hergestellt werden, betroffen. Und wenn man Stoffe nur noch begrenzt einsetzen kann oder die Gefahr besteht, dass man Stoffe nicht mehr benutzen kann, wird auch die Innovationsfähigkeit der Wirtschaft betroffen sein und möglicherweise können nicht mehr alle Produkte so hergestellt werden wie man sich das heute noch vorstellt.

    Und die Sorgen in der Wirtschaft sind groß: Eine Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelstages zeigte, dass knapp jeder zweite von 1.800 befragten Herstellern, Händlern oder Anwendern von Chemikalien von sinkenden Umsätzen ausgeht. Eine Studie der Beraterfirma Arthur D. Little aus Wiesbaden sagt für die nächsten 20 Jahren einen Produktionsrückgang in der Chemie - allein aufgrund von REACH - von fast 25 Prozent voraus.

    Worum geht es eigentlich bei REACH? Andreas Ahrens vom Institut für Ökologie und Politik in Hamburg

    Das eine, was an REACH wirklich neu ist, ist, dass man sagt, man will über jeden Stoff, der auf den europäischen Markt kommt, einen Mindestbestand an Informationen haben.

    Rund 30.000 so genannte "alte Stoffe" sollen auf Risiken für Mensch und Umwelt geprüft werden. Diese Altstoffe sind Chemikalien, die seit mehr als 20 Jahren in der EU vermarktet werden. Das heißt, so Uwe Lahl vom Bundesumweltministerium:

    Es wird ein Sicherheitscheck durchgeführt und das führt dazu, dass problematische Stoffe erkannt werden und auch verboten werden und die weniger problematischen Stoffe bleiben. Dadurch wird natürlich Chemie sicherer.

    Der Sicherheitscheck wird schrittweise erfolgen: Drei Jahre nach Inkrafttreten von REACH - also etwa im Jahr 2009 - müssen Hersteller und Importeure jene rund 2.600 Stoffe registrieren, von denen sie mehr als 1.000 Tonnen jährlich in der EU herstellen oder hierher importieren. Und die rund 20.000 Altstoffe, von denen ein Betrieb jährlich zwischen 1 bis 10 Tonnen herstellt beziehungsweise einführt, müssen erst elf Jahre nach Inkrafttreten - also 2017 - registriert werden. Für diese kleinvolumigen Stoffe ist nur ein Mindestdatensatz nötig.

    Neu ist auch, dass Hersteller und Importeure bekannt geben müssen, wie ihre Chemikalien eingesetzt werden dürfen. Andreas Ahrens

    Der Hersteller des Stoffes soll sich darauf festlegen, für welche Zwecke sein Stoff geeignet ist. Und zwar nicht nur in technischer Hinsicht - das macht jeder Betrieb, dass er in seine technischen Merkblätter rein schreibt, wofür man den Stoff einsetzen kann -, sondern dass künftig auch unter Umwelt- und Gesundheitsgesichtspunkten die Hersteller von Stoffen schlichtweg sagen müssen, für die und die Anwendung glauben wir, dass der Stoff sicher handhabbar ist und bei der und der Anwendung halten wir den Stoff für nicht sicher anwendbar und deshalb vermarkten wir ihn in diese Bereiche auch nicht mehr hinein.

    In der Regel müssen weiterverarbeitende Betriebe keine Chemikalie registrieren:

    Derjenige, der aus existierenden registrierten Stoffen ein Reinigungsmittel macht und damit seine guten Geschäfte macht, der muss dieses Reinigungsmittel - auch wenn er Hersteller dies Reinigungsmittel ist - nicht registrieren, weil er nicht Hersteller der Stoffe ist, die ins Reinigungsmittel kommen.

    Doch wenn beispielsweise eine Firma eine Chemikalie anders einsetzt als Hersteller oder Importeur es vorgeben, dann muss er diese Anwendung nachmelden. Uwe Lahl


    Das finde ich auch richtig, weil der Mittelständler, der was Neues mit Stoffen macht, muss ja auch selber wissen, ob er - wenn das zum Beispiel in Verbraucherprodukt ist - das verantworten kann. Das ist die zentrale Last, die der Mittelstand hat.

    Dass die Wirtschaftsunternehmen jetzt in Eigenverantwortung Testdaten ermitteln und bewerten müssen, hält Uwe Lahl für einen großen Fortschritt:

    Das ist ein großer Unterschied zu früher. Früher hatten wir irgendwo was mitbekommen als Chemiezuständige - manchmal auch über die Medien -, haben Informationen gesammelt, haben dann die Industrie befragt und die Industrie hat nur immer das herausgelassen, was sie für ihre Interessen noch gerade als mitzuteilen angesehen hat. Und das war so dieser Prozess, jemandem die Würmer aus der Nase zu ziehen. Das wird sich grundlegend ändern. Die Industrie muss jetzt selbst für ihre Sicherheitsdaten sorgen.

    Dabei soll allerdings nicht der 'Bock zum Gärtner' gemacht werden

    Man muss, wenn man solch moderne Instrumente nimmt, schon in einem gewissen Umfang Vertrauen haben. Aber es gibt auch einen alten Spruch, Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Deswegen haben wir auch Kontrollmöglichkeiten, das heißt stichprobenartig wird das, was registriert wird, auch überprüft. Und gerade bei höheren Tonnagen werden auch richtige behördliche Verfahren durchgeführt.

    Die Behörden werden auch die Registrierung der rund 1.500 'besonders gefährlichen Substanzen' einzeln prüfen. Als 'besonders gefährlich' gelten Stoffe, die krebserregend sind oder das Erbgut verändern, die Fortpflanzung stören oder die langlebig sind und sich in Tier oder Mensch anreichern. Der Einsatz dieser Stoffe bedarf künftig außerdem - ähnlich wie bei Pflanzenschutzmitteln - einer Zulassung.

    Das Testen, das Bewerten, das Erstellen der Registrierdossiers und - bei Stoffe ab einer Tonnage von 10 Tonnen - der Stoffsicherheitsberichte kosten jedoch Geld und Zeit.
    Gerd Romanowski vom Verband der Chemischen Industrie nennt Zahlen

    REACH wird für die Chemische Industrie selbst Kosten in der Größenordnung mehrere Milliarden Euro verursachen. Über die genauen Kosten streitet man sich zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Gutachten. Es wird neben den Kosten für die Chemische Industrie, wird es erhebliche Belastungen für die nachgelagerten Industriezweige geben, die auf die Verarbeitung und Verwendung von Chemikalien angewiesen sind. Diese Kosten lassen sich derzeit noch nicht genau beziffern. Aber sie liegen sicherlich in zwei- bis dreistelliger Milliardenhöhe.

    Hersteller und Importeure werden diese Kosten teilweise auf den Preis der Chemikalien umlegen. Das heißt, Chemikalien werden teurer werden und damit auch die Fertigprodukte. Hans Pfeil von den Ford-Werken in Köln nennt ein mögliches Szenario:

    Ein Auto besteht aus 10 bis 20.000 Teilen und erhält etwa 6 bis 7.000 verschiedene Substanzen. Das heißt, eine Preiserhöhung bei verschiedenen Substanzen, die sich aus den Testkosten von REACH ergeben würde, würde sich natürlich in einem Auto summieren - ich weiß nicht, ob man hier Zahlen nennen darf -, aber es würde so im 100 Euro-Bereich liegen, die sich ein Fahrzeug dann verteuern würde.

    Nicht nur das:

    Da alle großen Firmen wie auch Ford global ihre Ausschreibungen machen, das heißt, wenn wir zum Beispiel - ein ganz konkretes Beispiel - eine Schraube beschichtet haben wollen mit einem bestimmten Lack, dann wird das ausgeschrieben und wenn der Lieferant in Thailand oder Taiwan zwei Cent billiger pro Schraube ist bei der Beschichtung, bekommt er den Auftrag und nicht der Beschichter um die Ecke im Bergischen Land.

    Über die Höhe der Prüfkosten und damit auch über das Ausmaß der Folgen wird jedoch gestritten. Gerd Romanowski

    Die Registrierkosten im untersten Volumenbereich - im Bereich 1 bis 10 Jahrestonnen - belaufen sich nach unseren Schätzungen auf ungefähr 50.000 Euro.

    Und das für jede Chemikalie. Reinhard Schulte-Braucks von der Generaldirektion Unternehmen hält diese Angabe jedoch für überzogen und betont, diese Summe könnte nur anfallen, wenn überhaupt keine Testdaten vorliegen würden:

    Das ist höchst unwahrscheinlich, denn schon bisher sind alle Unternehmen aus Gründen der Arbeitsplatzschutzgesetzgebung und aus Gründen der Gesetzgebung über die Einstufung und Kennzeichnung gezwungen, auch Stoffe in kleinen Tonnage zu testen, denn andernfalls kann die Einstufung und Kennzeichnung gar nicht erfolgen.
    Jedenfalls müssen wir bei unseren Kostenberechnungen ein verantwortlich handelndes Unternehmen, das bereits die jetzige Gesetzgebung einhält, zu Grunde legen. Wir können nicht davon ausgehen, dass die Industrie die bisherige Gesetzgebung missachtet.


    So rechnet die Europäische Kommission selbst mit Registrier- und Prüfkosten in Höhe von insgesamt 2,3 Milliarden Euro, die im Laufe von etwa elf Jahren anfallen.
    Und das seien 'Peanuts', meint Stefan Scheuer vom Europäischen Umweltbüro, dem Dachverband europäischer Umweltverbände mit Sitz in Brüssel:

    Wenn man mal diese große Umrechnung macht, diese direkten REACH-Kosten auf die Bevölkerung Europas umlegt, dann reden wir von 50 Euro-Cent pro Jahr pro Kopf. Das ist einfach ein sehr, sehr kleiner Betrag, der über alle Produkte, die wir konsumieren, die wir kaufen, verteilt werden würde. Diese Preiserhöhung, die würden wir ja nicht mal wahrnehmen.

    Hinzu kommt, dass insbesondere deutsche Chemikalienhersteller keine Probleme mit den Registrieranforderungen haben sollten, meint Uwe Lahl

    Aufgrund einer Selbstverpflichtung, die zu Zeiten der Umweltministerin Merkel geschlossen wurde, ist die deutsche Chemie in der Lage, für alle 20.000 Altstoffe im Vermarktungsbereich von 1 bis 10 Tonnen, die Fragen, die REACH stellt, schon zu beantworten. Die haben also quasi diese Informationen in der Schublade. Das gilt nicht für Italien, Frankreich und so weiter. Das heißt, es ist ein gewisser Wettbewerbsvorteil für die deutsche Industrie.

    Doch Chemievertreter Gerd Romanowski widerspricht:

    Die Kommission hat in ihrem REACH-Vorschlag vorgesehen, dass die Daten nach bestimmten Qualitätsmaßstäben, nach bestimmten Tests zu ermitteln sind, und nur diese Daten werden anerkannt. Und das Problem wird sein, dass viele der Mindestdaten, die die Unternehmen haben für die Stoffe eben nicht passen in dieses starre Schema der Kommission und das deswegen in vielen Fällen unnötige Kosten anfallen, die eigentlich vermeidbar wären, weil zwar die Informationen vorliegen, aber nicht in der von der Kommission gewünschten starren, schematischen Form.

    Doch das stimme nicht, betont Andreas Ahrens.

    Die REACH-Verordnung ist so angelegt, dass sie sehr flexibel ist. Das heißt, über die Anhänge ist die Frage, welche Tests für einen Stoff durchgeführt werden müssen, neu durchgeführt werden müssen, nicht starr - und damit sind auch die Kosten nicht starr. Sondern die Kriterien sind festgelegt, wie entschieden werden soll, welcher Test gemacht werden muss. Und dabei steht immer im Vordergrund, den Test nicht zu machen, sondern erst mal die verfügbaren Informationen zu nutzen.

    Die Industrie ist jedoch misstrauisch, ergänzt Ahrens:

    Die Industrie sieht die Flexibilität, die da drin steht, nimmt aber natürlich den "worst case" an, wie es der Kaufmann immer tut, und sagt, die Behörden werden das gegen uns auslegen. Die Behörden werden uns das Maximum an Information abfordern. Das heißt, wir haben von der Flexibilität nichts, sondern die Behörden werden uns sozusagen das Leben schwer machen.

    Doch Unternehmen könnten "gute" alte Daten problemlos nutzen, betont Uwe Lahl. Zurzeit wüssten aber nur die Chemieunternehmen selber, wie gut ihre Daten sind.

    Wenn die chemische Industrie nicht die Wahrheit gesagt hat, also wenn sie nicht die Selbstverpflichtung einhält, also alle Daten geliefert hat - wir haben die nie gesehen, das ist Teil der Selbstverpflichtung, dass das in den Schubladen der Chemie ist, aber nicht in unseren Schubladen - also, wenn diese Daten wirklich nicht da sind, dann gibt es in der Tat Kosten.

    Dennoch: Das Prüfen von Chemikalien auf Risiken für Mensch und Umwelt wird Geld kosten - wie viel auch immer. Einige Unternehmen beginnen daher heute schon damit, ihre Produktpalette zu durchforsten, um jene Chemikalien zu identifizieren, bei denen sich der Aufwand nicht rechnet. Gerd Romanowski

    Das führt dazu, dass viele dieser Stoffe vom Markt verschwinden werden - und zwar nach einem Kostenkriterium. Es werden also die Unternehmen die Stoffe vom Markt nehmen, die ein besonderes ungünstiges Verhältnis von Registrierkosten zu Umsatz oder Ertrag haben, und nicht die Stoffe mit dem höchsten Risiko. Und das kann weder im Sinne der Industrie sein noch im Sinne des Gesetzgebers.

    Das wird in erster Linie solche Chemikalien treffen, die in geringen Mengen hergestellt werden und geringe Gewinnmargen aufweisen. Damit kann etwa ein Stoff wegfallen, den eventuell ein Betrieb normalerweise in kleinen Mengen einem Lack zusetzt, um die Farb- oder Verlaufeigenschaften des Lacks gezielt zu verbessern. Und fehlt ein gleichwertiges Ersatzstoff, dann kann der Betrieb diesen Lack nicht mehr herstellen.
    Strittig ist aber, wie groß das Problem sein wird. Klaus Mittelbach vom BDI rechnet mit dem Schlimmsten:

    Wenn 20 bis 40 Prozent der Chemikalien am Markt verschwinden müssen, weil es sich nicht mehr rechnet, weil sie nicht mehr auf Akzeptanz stoßen oder aus anderen Gründen, dann wird schlicht und einfach das Innovationspotenzial massiv reduziert. Das heißt, wir werden in der Zukunft schlechtere Produkte haben, wir werden teurere Produkte haben. Und die Frage ist, welchen Nutzen das für Umwelt und Gesundheit wirklich hat.

    Die Europäische Kommission geht hingegen nur von einer Marktbereinigung bis zu zwei Prozent aus. Und wenn diese Stoffe in erster Linie solche wären, deren Anwendung Mensch und Umwelt gefährdet, dann hat sich REACH schon gelohnt.
    ((Stefan Scheuer spricht daher von Panikmacherei der großen Industrieverbände.

    Das ist ja eine Behauptung und eine Erpressung, die überhaupt nicht haltbar ist. Ein Markt ist ein flexibles System, welches nach Angebot und Nachfrage funktionieren soll und auch muss letztlich. Wenn also die Nachfrage nach einem Stoff da ist, dann wird auch dieser Stoff in Zukunft produziert werden - auch mit den erhöhten Sicherheitsanforderungen durch REACH.

    Und REACH bringe der Industrie auch Vorteile. Vor allem dadurch - so Reinhard Schulte-Braucks , dass Stoffe, die das Registrierungs- und Bewertungsverfahren der REACH-Verordnung durchlaufen haben, als 'sicherere', als 'nachhaltige' Chemikalien gelten:

    Es hat vor allem für die nachgeschalteten Anwender Vorteile. Diese werden in Zukunft nachhaltige Chemikalien verlangen. Sie werden verlangen, dass die Hersteller nachweisen, dass die Chemikalien den Anforderungen von REACH entsprechen. Andere Chemikalien werden keinen Markt mehr finden.

    REACH wird sich auch auf den Außenhandel auswirken. Neue Regeln in der EU, dem größten Wirtschaftsraum der Welt, beeinflussen den Handel weltweit - auch den Handel mit Fertigprodukten wie Kleidung, Möbel oder Spielzeug. Alex Föller von TEGEWA, dem Industrieverband von Firmen, die Spezialchemikalien wie Hilfsmittel für die Leder- und Textilindustrie herstellen, gibt ein Beispiel:

    Bis eine Rindshaut zum Leder geworden ist, hat sie oft einen weiten Weg hinter sich über verschiedene Fertigungsstufen. Wird sie vollends in der EU gefertigt, müssen sämtliche da zum Einsatz kommende Chemikalien registriert sein - zukünftig. Wird sie in Pakistan, der Türkei oder in Indien gefertigt, also gegerbt, nachgegerbt und gefinisht, das heißt entsprechend nachbehandelt, so können dies Chemikalien sein, die nicht registriert sind. Jedenfalls nicht nach EU-Vorgaben.

    Das heißt, Hersteller von Lederbekleidung außerhalb der EU können Chemikalien einsetzen, die nicht registriert werden müssen .....

    Das bedeutet aber, dass der Nicht-EU-Hersteller des Leders einen weiteren Wettbewerbsvorteil bekommt. Weiter deshalb, weil er jetzt schon einen hat wegen der günstigeren Lohnkosten und sonstiger Produktionskosten. Und hier käme ein weiterer Wettbewerbsvorteil hinzu, der der hiesigen Lederwirtschaft natürlich einen Nachteil bringt.

    Die Europäische Kommission kennt zwar das Problem, eine Lösung hat sie jedoch nicht. Denn es sei nicht praktikabel, an den Grenzen der EU jedes einzuführende Produkt auf seine chemische Zusammensetzung zu untersuchen. Reinhard Schulte-Braucks:

    Die riesige Zahl der importierten Fertigprodukte erlaubt es nicht, diese alle einzeln auseinander zu nehmen und alle darin enthaltenen Chemikalien zu testen. Es gibt keine Behörde der Welt, die diese Aufgabe würde übernehmen können, schon gar nicht die Zollbehörden. Außerdem würden entsprechende Tests und Nachforschungen sehr wahrscheinlich den Regeln der Welthandelsorganisation widersprechen.

    Die Kommission glaubt aber nicht, dass hieraus große wirtschaftliche Nachteile für die EU entstehen. Schulte-Braucks erklärt das an dem Beispiel eines Klebstoffs in einem Tisch:

    Was der Fall sein könnte ist, dass der entsprechende Klebstoff als solcher im Ausland um einige Pfennige billiger produziert werden kann, weil dessen Ingredienzien selbst nicht nach der REACH-Verordnung angemeldet zu werden brauchen. Dass das den Tisch letztlich soviel billiger machen wird, dass die europäischen Verbraucher nur noch in Drittländern produzierte Tische kaufen werden, halten wir für unwahrscheinlich.

    Zweifellos: REACH ist ein auf lange Zeit angelegtes ehrgeiziges Projekt der EU. Aber viele Fragen bleiben noch offen. Werden Stoffe wirklich teurer? Welche Chemikalien verschwinden vom Markt? Diese und andere Fragen verunsichern vor allem kleine und mittelständische Unternehmen - und somit den Motor der Wirtschaft. Die Politik weiß das und handelt. Uwe Lahl vom Bundesumweltministerium:

    Um diese Verunsicherung zu reduzieren, hat man sich in Europa entschlossen, von der ansonsten üblichen Verfahrensweise abzuweichen. Das heißt, es wird jetzt im Augenblick Gesetz und Konkretisierung parallel erarbeitet. Diese Konkretisierung läuft unter dem Kürzel RIP: R, I, P. Und da arbeiten viele Leute, auch Industrievertreter und Umweltgruppen zusammen, um dieses Thema voranzubringen.

    Und in Pilotprojekten - wie im Herbst 2003 in Nordrhein-Westfalen - wird REACH auf seine Alltagstauglichkeit geprüft. Dasselbe Ziel haben Untersuchungen wie die aktuelle Studie 'Kosten und Nutzen der neuen EU-Chemikalienpolitik' des Umweltbundesamtes. Das Ergebnis solche Projekte sind immer wieder Verbesserungsvorschläge, um REACH praxistauglicher zu gestalten. Dass bei diesen Projekten Vertreter von Behörden und der Wirtschaft - zum Teil auch von Umweltverbänden - zusammenarbeiten, das freut Uwe Lahl vom Bundesumweltministerium:

    Ich finde es ganz wichtig, dass man sich in dieses Schwarz-Weiß-Denken nicht so sehr einlässt. Auch der Bundesumweltminister - und das gilt für die ganze Bundesregierung - wir haben kein Interesse, unsere Chemie irgend etwas Böses zu tun. Das ist eine unser zentralen Wirtschaftsfaktoren und von da ausgehend geht es nur darum, Wege zu finden, Chemie sicherer zu machen.

    Noch hat die Industrie eine Schonfrist bis hinein in das Jahr 2006, um sich auf die neuen Richtlinien einzustellen. Erst dann wird das europäische Gesetzgebungsverfahren beendet sein, die erste Lesung im neu gewählten Parlament ist für den kommenden Sommer geplant.