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Energie-Armut als neues soziales Risiko
Von der Stromsperre in den Ruin

Die Energieversorger in Deutschland klemmen immer häufiger wegen ausstehender Zahlungen den Strom ab. Die Stromsperre trifft vor allem arme Haushalte - und führen zu exorbitanten Folgekosten. Was hinter dieser Entwicklung steckt, haben Forscher der Universität Siegen untersucht.

Von Mirko Smiljanic | 18.08.2016
    Ein Mann steckt in Berlin einen Stecker in eine Steckerleiste.
    Energiesperren treffen vor allem ärmere Haushalte (dpa)
    Der Gesetzestext ist ebenso nüchtern wie eindeutig: Wer mit mindestens 100 Euro bei seinem Energieversorger in der Kreide steht, muss nach mehreren Mahnungen mit einer Stromsperre rechnen. Paragraf 19 der "Stromgrundversorgungsverordnung" legt dies so fest, er ist Grundlage für das, was die Bundesnetzagentur "Unterbrechung der Stromlieferung an Privathaushalte" nennt: Wohn- und Kinderzimmer bleiben dunkel, die Küche kalt. 2011 waren davon 312.000 Haushalte betroffen, 2014 schon 352.000 - Tendenz weiter steigend! Wer verbirgt sich hinter diesen Zahlen? Frank Luschei, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Politikwissenschaft der Universität Siegen, erklärt:
    "Also, es sind in der Regel besonders betroffen Ein-Personen-Haushalte, die auch alleine wohnen und dann häufig auch ein geringes Einkommen haben, zum Beispiel in Phasen, in denen man im beruflichen Aufbau steht, aber auch zum Beispiel Rentnerhaushalte, die mit einer relativ knappen Rente auskommen müssen. Und zum Zweiten sind es dann Familienhaushalte, in denen es in der Regel nur ein Einkommen gibt."
    Frank Luschei ist Mitautor der Studie "Energiearmut als neues soziales Risiko?". Betroffen seien arme Haushalte, so Luschei, zu denen aber keinesfalls nur Bezieher von Arbeitslosengeld und Hartz IV zählten.
    "Das haben wir relativ dezidiert untersucht und wir konnten halt zeigen, dass es im Grunde genommen einen ganz großen Übergangsbereich von Beschäftigten gibt, die halt ebenso von der Energiearmut betroffen sind. Und das ist ein riesen Dilemma, weil halt dieses Versprechen, lernt einen Beruf, erzielt ein Einkommen, dass das ein Versprechen darauf ist, ein eigenes Einkommen zwar zu erzielen, das dann aber auch nicht notwendigerweise dazu führt, dass man sich so etwas wie Energie in einem ausreichenden Maße leisten kann."
    Parallel zum niedrigen Budget kommt eine weitere Entwicklung: Die Energiekosten sind in den letzten Jahren drastisch gestiegen. Laut Berechnungen des Bundeswirtschaftsministeriums haben sich die Strompreise in den letzten 25 Jahren mehr als verdoppelt, der Preis für Heizöl sogar verdreifacht.
    Christoph Strünck, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Siegen und Leiter der Studie "Energiearmut als neues soziales Risiko?":
    "Es gibt durchaus bemerkenswerte Preissteigerungen und Energie ist im internationalen Vergleich in Deutschland relativ teuer, das ist richtig, wir haben in unserem Projekt allerdings auch herausgefunden, dass die Energiekosten der Haushalte, auch der energiearmen Haushalte, nicht exorbitant hoch sind, also, es gibt kein spezifisches Ausgabenproblem. Es ist tatsächlich so, dass es eher ein Einkommensproblem ist. Die meisten Haushalte, die betroffen sind, haben zu wenig Geld für Energie, und Energie kann man auch nicht so einfach beeinflussen, man kann nicht so einfach auf Energie verzichten, wie das vielleicht bei dem einen oder anderen Konsumprodukt ist."
    Womit Christoph Strünck ein wirtschafts- und sozialpolitisches Grundproblem in Deutschland anschneidet. Die Schere zwischen niedrigen und hohen Einkommen klafft immer weiter auseinander. Ein Drittel aller bundesdeutschen Haushalte hat keine finanziellen Rücklagen, schlimmer noch, viele seien verschuldet. Eine defekte Waschmaschine reicht, um solche Haushalte in den finanziellen Ruin und damit in die Stromsperre zu treiben. Nun hat der Gesetzgeber vor diesem letzten Schritt Hürden eingebaut, ein vergleichsweise langes Mahnverfahren etwa, außerdem darf in Haushalten mit Schwangeren, chronisch Kranken oder Behinderten die Energie gar nicht gekappt werden. Trotzdem bleibt auch in solchen Haushalten der Herd mitunter kalt. Frank Luschei:
    "Man könnte das Ganze auch als Versorgungsunfall bezeichnen, also zum Beispiel die Information, dass es sich um einen geschützten Haushalt handelt, diese Information müsste der Stromversorger ja erst einmal haben. Die hat er in der Regel aber gar nicht, und dieses Problem könnte gelöst werden, wenn der Stromverbrauchen mit seinem Versorger in Kommunikation tritt, wo man eben diese Probleme besprechen kann und dann auch Lösungswege finden kann."
    Wichtigstes Ziel sollte sein, die Sperre zu verhindern! Dabei haben die Siegener Sozialwissenschaftler weniger die Unannehmlichkeiten der Kunden im Blick, in ihren Untersuchungen deckten sie vielmehr einen ausgesprochen unangenehmen Effekt auf: Energiesperren haben exorbitante Folgekosten. Mahn- und Verwaltungsgebühren fallen an, richtig teuer wird's, wenn Inkassounternehmen das ausstehende Geld eintreiben, hinzukommt, dass die ohnehin finanziell am Limit operierenden Haushalte in die teure Grundversorgung fallen. Und wegen des negativen Schufa-Eintrags können sie kaum zu einem günstigeren Energieversorger wechseln. Der Kostenberg wächst und wächst! Und noch etwas ist ihnen versperrt: der Kauf energiesparender Elektrogeräte. Immerhin versuchen einige Versorger dieses Problem zu lösen - so der Siegener Politikwissenschaftler Christoph Strünck:
    "Die modernen energieeffizienten Geräte sind teuer, das wissen wir alle, und es gibt auch dort einige Modellversuche, zum Beispiel von Stadtwerken gemeinsam mit der Verbraucherzentrale, diese Geräte auf Raten den Leuten anzubieten und quasi zu sponsern, damit auch arme Haushalte von solchen effizienten Geräten profitieren können."
    Letztlich lasse sich das Problem "Energiearmut als soziales Risiko" über diesen Weg aber nicht grundlegend lösen. Die betroffenen Haushalte brauchen einfach mehr Geld, so Frank Luschei:
    "Na ja, das gibt es ja unterschiedliche Überlegungen. Das setzt auf der einen Seite an bei Überlegungen, die Kosten für Energie insgesamt zu senken, es gibt zum Beispiel das Modell, so etwas wie einen Sockelbetrag für Energie von den Stromversorgern kostenlos zur Verfügung zu stellen, die sogenannten Sozialtarife, aber eben auch die Überlegungen, den Zugang zu ohnehin bestehenden Hilfsleistungen, den zu verbessern."
    Das sozialpolitische Instrument "Wohngeld" sei dafür ideal geeignet, seine Hürden - formal wie bürokratisch - seien aber so hoch, dass nur wenige vom Wohngeld profitierten.
    Einen weiteren Lösungsweg, die Maximalforderung, propagiert der "Bund der Energieverbraucher": Energie sei ein Menschenrecht und dürfe niemandem vorenthalten werden! Stromsperren wären damit komplett vom Tisch.

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