Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Opéra-bouffe "V’lan dans l’œil" in Paris
Surreales Spektakel

Der französische Komponist Hervé war ein Konkurrent von Jacques Offenbach. Lange stand er in dessen Schatten – bis er mit "V'lan dans l'œil" einen Triumph landete. 1867 wurde die Opéra-bouffe uraufgeführt. Jetzt ist sie im Pariser Théâtre du Châtelet zu sehen.

Von Stefan Frey | 21.06.2021
    Szene aus der Oper "V'lan dans l'œil" von Hervé am Théâtre du Châtelet in Paris.
    Regisseur Pierre-André Weitz wählte eine grelle Ästhetik mit Oktoberfest-Anleihen. (Eric Bouloumié)
    Ursprünglich hieß die Operette "L'Œil crevé", das durchbohrte Auge. Doch das war Alexandre Dratwicki dann doch zu makaber und so entschied er sich für den Untertitel, den Hervé selbst vorgeschlagen hatte: "V'lan dans l’œil". Dratwicki ist der künstlerische Leiter der Stiftung Palazetto Bru Zane, die sich dem vergessenem französischen Repertoire des 19. Jahrhunderts verschrieben und seit einigen Jahren auch Hervé wiederentdeckt hat.

    Alberne Texte – großer Spaß

    "Ich glaube, Hervé war der erste, der mit dem experimentiert hat, was wir heute Surrealismus nennen. In der Dekade von 1860 bis 70, bis zum preußisch-französischen Krieg, haben Offenbach, Hervé und einige andere wirklich die verrücktesten Dinge in der Operette gemacht. Verrückt zum Beispiel in der Art des Singens – nur hohe Noten für den Tenor! Dazu blödsinnige Texte, aber auf äußerst virtuose Musik, ähnlich der von Rossini.
    Letztlich sind das Kabarettszenen, die auch allein stehen könnten – ohne Handlung. So ist es ein fantastisches Experiment von Hervé, wenn im zweiten Finale von "V'lan dans l'œil", das wie bei Donizetti aufgebaut ist, plötzlich gefragt wird: 'Warum machst Du so einen Krach mit deinem Kochtopf?' Weil tatsächlich jemand mit einem Kochtopf auftritt. Das ist komplett bescheuert, macht aber total Spaß. Deshalb ist es auch unmöglich, die Handlung von "V'lan dans l'œil" zu erzählen, denn die Idee ist ja: Es gibt keine Handlung!"
    Ich versuche es trotzdem: V'lan dans l'œil – also: Flatsch im Auge – landet einen Pfeil beim großen Bogenschießwettbewerb des Marquis de Esprucprucpruck. Und zwar im Auge seiner Tochter, die er dem Sieger versprochen hat. Sie heißt Fleur-de-Noblesse, macht ihrem Namen alle Ehre und hat nur eine Leidenschaft: das Zimmererhandwerk. Und so will sie auch nur Ernest heiraten, einen guten Zimmermann, aber schlechten Schützen. Doch weil Fleur die Ziele manipuliert hat, trifft er ins Schwarze. Da erscheint der für seine Schießkünste berühmte Alexandrivoire. Als er schießt, verschiebt Fleur das Ziel, und der Pfeil landet – V'lan dans l'œil! – mitten in Fleurs Auge. Wie er da wieder rauskommt, ist allerdings eine andere Geschichte, nur so viel: Es ist Alexandrivoires Geliebter Dindonette zu verdanken, einer der vielen Hauptfiguren, die bisher unerwähnt bleiben mussten, weil sie für die Handlung eigentlich keine Rolle spielen – für Alexandrivoire aber schon.

    Ein durchgeknallter Komponist

    Eine wahnwitzige Geschichte, wahnwitzig vertont. Sowohl Libretto als auch Musik stammen von Hervé, der eigentlich Florimond Roger hieß, erst Kirchenmusiker war und sich selbst als "composituer toqué", als durchgeknallten Komponisten bezeichnet hat? Warum war er – im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen Jacques Offenbach – so lange vergessen? Und was macht den Unterschied zwischen beiden aus?
    Dazu Alexandre Dratwicki:
    "Das Problem bei Hervé ist, dass er vor allem Theater macht. Offenbach hingegen macht Musik. Das heißt nicht, dass die Musik von Hervé nicht gut ist, aber die gesprochenen Teile sind viel länger als bei Offenbach. Man braucht also Sänger, die wissen, wie man spielt. Und es ist schwierig, Leute zu finden, die beides können: Gesang und Schauspiel, besonders heute. Hervé hatte ja ein Ensemble, das er gut kannte und das sich kannte. Alle haben miteinander gespielt, nicht jeder für sich. Wir haben jetzt das Glück, ein Ensemble rund um den Regisseur Pierre-André Weitz gefunden zu haben, das so ähnlich funktioniert. Wenn man dann schon zwei andere Hervé-Operetten zusammen gemacht hat, muss man mit dieser Truppe weiterarbeiten. Denn es geht schließlich nicht nur um die Musik von Hervé, sondern um Schauspieler, die verrückte Dinge auf die Bühne bringen können."

    Überdrehte Kostüme in Varieté-Ästhetik

    Und das kann sie wirklich, die Truppe um den Regisseur Pierre-André Weitz. Er ist noch dazu sein eigener Ausstatter und bedient mit seinem Bühnenbild den grellen, surrealen Show-Charakter des Stücks. Da gibt es Max-Ernst-Landschaften und Glitzerglühbirnen, Schießscheibenmalerei und bunt überdrehte Kostüme. Für jeden Akt hat er einen anderen Jahrmarktsstand aufgebaut: Erst gibt es Süßes, dann eine Schießbude, und schließlich Saures in Form einer Geisterbahn. Dazu torkeln Jäger in Lederhosen über die Bühne, vergreifen sich an Dirndln mit Bärten – das Oktoberfest grüßt jodelnd von fern und haarige Perchten treiben ihr Unwesen. Das alles in einer farbenfrohen Varieté-Ästhetik, die wunderbar passt zum wirren Grand-Guignol des Stücks.
    Eine Opernszene mit einer stilisierten Zielscheibe im Hintergrund. Vorne steht eine Frau im türkisfarbenen Kleid, rechts von ihr ein Mann mit Armbrust, links von ihr ein andere Mann im Anzug.
    Die schöne Fleur-de-Noblesse (Ingrid Perruche) bekommt beim Bogenschießwettbewerb einen Pfeil ins Auge. (Eric Bouloumié)
    Ingrid Perruche war das, als herrlich widerborstige, bezopfte kleine Göre Fleur. Es ist zwar ihr Auge, das der Operette den Titel gibt, auftreten tut sie aber erst im zweiten Akt – mit diesem Couplet. Begleitet hat das Orchestre Pasdeloup – von Christophe Grapperon mit leichter Hand durch Hervés zwischen Oper und Kabarett schillernde Partitur geführt. Denn der Komponist versucht erst gar nicht, die stilistischen Brüche seiner Musik zu kaschieren, sondern stellt sie grell aus, besonders gern unterbricht er deren Fluss durch eingestreute Dialoge, Geräusche oder andere Naturlaute. Das wirkt ungeheuer modern und tatsächlich surreal – entspricht es doch dem Montageprinzip der Surrealisten.

    Surrealer Kosmos

    Auch die Schauspieler und Sänger fügen sich wunderbar ein ins Panoptikum dieser durch und durch schrägen Figuren. Nur die beiden großen Frauenrollen ragen etwas heraus. Ingrid Perruche war als Fleur-de-Noblesse alles andere als nobel, die Säge immer in der Hand, nicht nur fürs Holz, sondern auch für die Nerven. Und Lara Neumann hat als naiv bauernschlaue Dirne Dindonette alle Fäden in der Hand und befreit schließlich ihren geliebten Oberförster aus dem Gefängnis. Kein Wunder, denn wer jodelt schon so allerliebst! Der Tenor Damien Bigourdan spielt diese Figur so, als befinde sie sich im Dauerrausch und erwache nur zu gelegentlichen erotischen Annäherungen zum Leben. Wie alle Figuren Hervés hat er keine Psychologie, keine Entwicklung, sondern ist nur eine Puppe in dessen surrealem Kosmos.

    Vergnügliche Wiederentdeckung

    Und die Inszenierung von Pierre-André Weitz lässt die Puppen tanzen, zum Gaudium des Publikums im Corona bedingt nur halb besetzten Pariser Theatre Châtelet. Auch zu meinem – allerdings stießen meine Französischkenntnisse im Dialogfeuerwerk auf der Bühne doch deutlich an ihre Grenzen. Grenzen des guten Geschmacks gab es freilich keine. Die kennt Hervé zum Glück nicht, und das macht seine Wiederentdeckung durch das Palazetto Bru Zane so verdienstvoll wie vergnüglich. Es ist auch die Wiederentdeckung einer anderen, vergessenen Art der Operette, die unverkennbar vom Jahrmarkt kommt und im freiem Assoziationsraum von Musik, Sketch, Tanz und bildender Kunst irrlichtert. Ein Gesamtkunstwerk des Disparaten, völlig sinnfrei und gerade darum erhellend.