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Energieversorgung in Zeiten des Internets

Der Ökonom und "Berufsvisionär" Jeremy Rifkin formuliert in seinem neuen Buch eine Blaupause für den Umbau zu einer Epoche ohne Atomstrom und ohne Kohle. Es geht darum, die erneuerbaren Energien mit der Technologie des Internets zu einer Infrastruktur der "Dritten Industriellen Revolution" zu verbinden.

Von Conrad Lay | 07.11.2011
    Jeremy Rifkin verleiht dem Übergang zu einem postnuklearen und postfossilen Zeitalter klare Konturen. Der amerikanische Soziologe formuliert geradezu eine Blaupause für den Umbau zu einer Epoche ohne Atomstrom und ohne Kohle. Das neue wirtschaftliche Paradigma, das Rifkin in einer umfassenden sozialen und wirtschaftlichen Vision bündelt, nennt er "Die dritte industrielle Revolution". Rifkin schreibt:

    Bei meinen Forschungen bin ich zu der Erkenntnis gekommen, dass die großen wirtschaftlichen Revolutionen der Geschichte durch das Zusammentreffen neuer Kommunikationstechnologien und neuer Energiesysteme bedingt waren.

    Schenkt man Rifkin Glauben, dann stehen wir heute wieder vor solch einem gravierenden wirtschaftlichen Einschnitt: Diesmal geht es darum, die erneuerbaren Energien mit der Technologie des Internets zu einer Infrastruktur der "Dritten Industriellen Revolution" zu verbinden. Jeremy Rifkin:

    Im 21. Jahrhundert werden Hunderte von Millionen Menschen ihre eigene grüne Energie erzeugen - in ihren Häusern, in Büros, in Fabriken - und diese mit anderen über intelligente dezentrale Stromnetze - sogenannte "Internetze" - teilen, so wie die Menschen heute ihre eigenen Informationen erstellen und über das Internet mit anderen teilen.

    Anders als die erste industrielle Revolution im 19. Jahrhundert und anders als die zweite im 20. Jahrhundert, die durch Fließband und Massenarbeit gekennzeichnet war, wird die "Dritte Industrielle Revolution" nicht mehr durch eine hierarchische Arbeitswelt und die zentralistische Struktur großer Konzerne gekennzeichnet sein, sondern durch dezentrale Beziehungen und horizontale Netzwerke.

    Rifkin stellt sich vor, dass die Energiekonsumenten zugleich Energieerzeuger sind und mittels Internet mit den anderen Energiekonsumenten in Verbindung treten und ihnen Energie anbieten bzw. von ihnen kaufen. Das bestehende Stromnetz wäre dafür zu einem Info-Energie-Netz umzubauen. Fünf zentrale Merkmale charakterisieren laut Rifkin diese zukünftige Wirtschaftsform:

    1) der Umstieg auf erneuerbare Energien
    2) die Umwandlung des Baubestands aller Kontinente in Mikrokraftwerke, die erneuerbare Energien vor Ort erzeugen
    3) der Einsatz von Wasserstoff- und anderen Energiespeichern in allen Gebäuden zur Speicherung von unregelmäßiger Energie
    4) die Nutzung der Internettechnologie, um das Stromnetz auf jedem Kontinent in ein Energy-Sharing-Netz, ein sogenanntes Intergrid, zu verwandeln
    5) die Umstellung der Transportflotten auf Steckdosen- und Brennstoffzellenfahrzeuge, die Strom über ein intelligentes und interaktives kontinentales Stromnetz kaufen und verkaufen können.


    Nach Rifkins Darstellung baut dieses anspruchsvolle Programm Schritt für Schritt aufeinander auf: Jeder Schritt ergänzt den vorherigen, so dass sich in der Summe ein neues Energie- und Kommunikationssystem herausbildet. Rifkin hatte die Idee eines intelligenten Stromnetzes schon früh verfolgt, 2002 war dies das zentrale Thema in seinem Buch "Die H2-Revolution"; in der Folge hatte er eng mit Firmen wie IBM und Cisco Systems zusammengearbeitet.

    Doch heute ist Rifkin schon einen Schritt weiter: Die Netz-Informationstechnologien der heutigen Generation seien inzwischen soweit, das ökonomische Gleichgewicht der Kräfte zu verschieben, weg von den alten, zentralisierten Energieträgern hin zu neuen, dezentralen, erneuerbaren Energien. Sein Szenario umschreibt Rifkin folgendermaßen:

    Die Konzerne geben einen Teil ihrer traditionellen hierarchischen Kontrolle über Angebot und Übertragung von Elektrizität auf, um - wenigstens partiell - Teil eines Elektrizitätsnetzes mit tausenden von kleinen Energieproduzenten zu werden. Die Rolle des Versorgungsunternehmens als Stromlieferant tritt in den Hintergrund, die als Dienstleister dafür umso stärker hervor. Der Konzern wird zum Manager eines Info-Energie-Netzes.

    So wie das Energienetz seinen Charakter vollständig verwandeln soll, so möchte Rifkin auch die Pkw- und Lkw-Flotten umstellen: Elektro- und Brennstoffzellenfahrzeuge sieht er als "rollende Mikrokraftwerke" an, die sich ins interaktive Stromnetz einklinken können und ihren ungenutzten Strom wieder ans Netz abführen.

    Es sind also sehr weitgehende Visionen, die dem weltweit gefragten Berater vorschweben. Das Ziel eines neuen Energie- und Kommunikationssystems hat Rifkin eindeutig und klar umrissen: Er weiß, worauf er hinaus will. Das ist vielleicht der größte Vorzug dieses Buches. Nun stellt sich als nächstes - nicht ganz unbedeutend - die Frage der Realisierbarkeit. Und da scheint Rifkin den Unterschied zwischen vollmundigen Proklamationen und tatsächlicher politischer Umsetzung nicht zur Kenntnis zu nehmen. Seine Hoffnungen auf die EU-Kommission, für die er über Jahre als Berater tätig war, fasst er in dem Satz zusammen:

    Die EU-Kommission stellt sich praktisch als einzige "Regierung" weltweit die großen Fragen über eine künftige Lebensfähigkeit unserer Spezies auf dieser Welt.

    Wenn es wirklich so wäre, wäre es geradezu tragisch, dass die EU zwar die großen Menschheitsfragen des Klimawandels und des Umbaus des Energie- und Kommunikationssystems mit dem Ziel einer grünen Ökonomie anpackt, aber an solchen "Kleinigkeiten" wie den diversen Staatsverschuldungen scheitert. Nein, wie schon im Jahr 2004 anlässlich seines Buches "Der europäische Traum" so liegt Rifkin auch jetzt mit den Lobeshymnen auf Europa daneben. Er will eben seinen amerikanischen Mitbürgern klar machen, dass die Umstellung auf eine grüne Ökonomie möglich ist, und dazu dient ihm Europa als oft allzu leuchtendes Vorbild.

    Immer, wenn es um die großen Ziele einer grünen Ökonomie geht, formuliert der Autor stark und überzeugend. Bei der Umsetzung seiner Ziele wird das Buch dagegen schwammig, stellenweise sogar geschwätzig. Insgesamt fällt es auf, dass Rifkins konkrete Beispiele für eine "Dritte Industrielle Revolution" - ob aus Texas, Monaco oder Italien - relativ schwach ausfallen.

    Dies zeigt, dass das letzte Jahrzehnt eine Zeit war, in der die Verwirklichung von Rifkins Zielen nicht recht vorangekommen ist. Er selbst jedoch, und das ist dann wieder sympathisch, verliert seinen Optimismus nicht, sondern setzt sich weiterhin für die Vision einer atom- und kohlestofffreien Ära ein. Wie die großen, strategischen Linien dafür aussehen könnten, hat er in dem vorliegenden Buch überzeugend nachgezeichnet. Jetzt stehen die Mühen der Ebene an.

    Jeremy Rifkin: "Die dritte industrielle Revolution: Die Zukunft der Wirtschaft nach dem Atomzeitalter".
    Campus Verlag, 304 Seiten, 24,99 Euro.
    ISBN: 978-3-593-39452-7