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Wer vor Kolumbus in Amerika gewesen sein muss

Auf einer jahrhundertealten Karte aus Kamelhaut ist die Ostküste Südamerikas erstaunlich präzise dargestellt. Diese Karte des osmanischen Generals Piri Re’is gilt als Beleg dafür, dass arabische Seefahrer schon vor Kolumbus das amerikanische Festland erreichten. Die Journalistin Susanne Billig hat den Forschungsstand in einem Buch zusammengetragen.

Von Jan Kuhlmann | 11.09.2017
    Diese Karte des osmanischen Generals Piri Re’is ist erstaunlich exakt.
    Diese Karte des osmanischen Generals Piri Re’is ist erstaunlich exakt. (imago stock&people)
    Der italienische Seefahrer Christoph Kolumbus entdeckte 1492 Amerika. Mit dieser Gewissheit sind in Europa ganze Generationen aufgewachsen. Historiker halten das Datum für einen Meilenstein in der Geschichte der Menschheit, auch weil damit die europäische Erkundung des amerikanischen Kontinents begann. Schon öfter ist jedoch hinterfragt worden, ob Kolumbus wirklich der Erste war. Dass Wikinger schon um das Jahr 1000 nach Amerika segelten, gilt als gesichert.
    Auch die Autorin Susanne Billig sät Zweifel an Kolumbus‘ Rolle als Pionier. Allerdings geht ihr Band mit dem Titel "Die Karte des Piri Re'is" weit über diese Frage hinaus. Das Buch ist vielmehr eine Geschichte der arabisch-islamischen Wissenschaften im Mittelalter und der frühen Neuzeit.
    Arabischer Beitrag für wissenschaftlichen Fortschritt
    Die Journalistin hat dafür die Arbeit des aus der Türkei stammenden Professors Fuat Sezgin akribisch ausgewertet. Der heute 92-Jährige leitete lange das Institut für die Geschichte der arabisch-islamischen Wissenschaften an der Universität Frankfurt. Sezgin geht es in seiner Forschung vor allem um eins, wie Billig schreibt.
    "Sein wichtigstes Anliegen besteht [...] darin, der arabischsprachigen Welt des Mittelalters und der frühen Neuzeit in der Universalgeschichte der Wissenschaften ihren gebührenden Platz einzuräumen."
    Der Westen ignoriert nämlich bis heute nach Sezgins Überzeugung den Beitrag, den die arabische Welt damals für den wissenschaftlichen Fortschritt leistete - ein blinder Fleck. Für Sezgin steht fest: Der Nahe Osten stand im Mittelalter nicht nur politisch im Zentrum, sondern erlebte auch eine Blütezeit der Wissenschaften.
    Verehrung des Wissens
    Astronomie, Geografie, Kartografie, Nautik - all das erforschten wissbegierige Araber mit enormem Eifer, angespornt von den Herrschern. Billig legt teils recht detailliert die Fortschritte der Araber zu jener Zeit dar. Der Islam habe das Wissen nicht behindert, sondern verehrt, schreibt die Autorin. Anders als später die katholische Kirche hätten religiöse Einrichtungen keine Denkrichtungen offiziell verurteilt:
    "Dass die arabisch-islamische Kultur seit dem 7. Jahrhundert Kenntnisse [...] anderer Kulturen sich nicht nur aneignete, sondern auch erheblich weiterentwickelte, ist einer entschlossenen staatlichen Förderung und einer enormen religiösen Toleranz zu verdanken, dazu einer erstaunlichen kulturellen Neugier, begünstigt durch das vorherrschende Islamverständnis der damaligen Zeit."
    Schon im 7. Jahrhundert seien die Araber so nicht nur mit der Vorstellung einer kugelförmigen Erde in Kontakt gekommen, schreibt Billig - sondern hätten sie ohne Widerstand angenommen.
    Muslimische Seefahrer
    Das Paradebeispiel des wissenschaftsbegeisterten Herrschers war später der abbasidische Kalif Ma'mun. Er ordnete im 9. Jahrhundert den Bau von Sternwarten in Bagdad und Damaskus an.
    "Der Kalif war persönlich stark an der Astronomie interessiert: Er ließ astronomische Instrumente konstruieren, ordnete Messungen und Beobachtungen an, nahm selbst an Forschungsarbeiten teil und kontrollierte sie - laut Überlieferung streng und auf höchste Perfektion bedacht."
    Zudem entwickelten die Araber viele astronomische und nautische Instrumente weiter. Vor allem eine ihrer Leistungen hat es Billig angetan: Die Araber seien schon Jahrhunderte vor den Europäern in der Lage gewesen, Längengrade und damit geografische Daten exakt zu messen. Nur mit dieser Fähigkeit lassen sich überhaupt brauchbare, weil genaue Karten erstellen - eine Kunst, in der die Araber über die Jahrhunderte große Fähigkeiten entwickelten. Womit das Buch zu seiner Kernfrage kommt: Waren arabische Segler schon vor Kolumbus in Amerika? Sezgin beantwortet die Frage laut Susanne Billig mit einem eindeutigen Ja:
    "Heute ist er davon überzeugt, dass muslimische Seefahrer schon etwa zu Beginn des 15. Jahrhunderts, möglicherweise schon früher, das amerikanische Festland erreichten. Sie taten dies vor Spaniern, Portugiesen und Italienern - sie waren es auch, die als Erste die Umrisse amerikanischer Küsten kartierten [...] Es gibt historische Belege, die so zwingend sind, dass für Fuat Sezgin eine andere Interpretation heute tatsächlich unhaltbar erscheint."
    Eindringliche Indizien
    Als Hauptbeweismittel dient die Karte des Piri Re'is, die dem Buch auch den Titel gibt. Piri Re'is war ein General des Osmanischen Reiches. Anfang des 16. Jahrhunderts erstand er die Karte von einem spanischen Seemann, der Kolumbus auf seinen ersten drei Reisen begleitet hatte. Sie war von einer einzigartigen Qualität. Dazu waren laut Sezgin nur die Araber in der Lage:
    "Die Karte präsentiert eine erstaunliche, für die Verhältnisse damaliger europäischer Seefahrer und Kartografen unvorstellbare Exaktheit. Vergleicht man die Karte des Piri Re'is mit den ältesten erhaltenen portugiesischen Karten [...] , so verraten portugiesische Darstellungen von Südamerika zwar eine gewisse Verwandtschaft mit der Darstellung des Piri Re'is, sind aber wesentlich ärmer und gröber [...] Die Karte (des Piri Re'is) aus dem Jahr 1513 konfrontiert uns mit einer Genauigkeit, wie sie die abendländische Kartografie vor dem 18. Jahrhundert gar nicht zu erzeugen wusste."
    Aus der Exaktheit der Karte und ihren Details zieht Sezgin zwei Schlussfolgerungen. Erstens: Sie muss auf die Araber zurückgehen, schließlich hätten allein diese dazu die nötigen Fähigkeiten besessen. Und zweitens: Die Karte konnte nur deswegen so detailliert ausfallen, weil es vor Kolumbus mindestens eine erfolgreiche Expedition der Araber nach Amerika gegeben habe. Die Beweisführung klingt plausibel. Es sind eindringliche Indizien, die Sezgin und Billig zusammengetragen haben. Allerdings: Definitive Belege haben sie nicht. Wobei sich die Frage stellt: Warum sind bisher keine anderen Zeugnisse entdeckt worden, wenn arabische Seefahrer tatsächlich schon vor Kolumbus Amerika erreicht hatten? Auch für sie muss eine solche Reise ein aufsehenerregendes Erlebnis gewesen sein.
    Europäische Entdecker, arabische Vorgänger
    Letztlich ist die Frage, wer zuerst in Amerika war, jedoch zweitrangig. Die Leistung des Buches liegt woanders: Sezgins Forschung macht deutlich, dass die wagemutigen Reisen der europäischen Seefahrer auf den Schultern ihrer arabischen Vorgänger standen, wie Billig schreibt.
    "Europas angebliche Entdecker konnten ihre Expeditionen nur verwirklichen dank der nautischen, technischen, astronomischen, geografischen und kartografischen Kenntnisse, die Europa in Jahrhunderten von den Arabern übernommen hatte [...] Es ist der Normalfall der Kontinuität des wissenschaftlichen Fortschritts, den wir hier vor Augen haben."
    Sezgin und Billig gliedern die arabisch-islamische Welt damit in die Kette ein, die von den alten Griechen in das moderne Europa reicht - und geben ihr so tatsächlich eine Stellung, die ihr im Westen bislang weitestgehend vorenthalten worden war.
    Susanne Billig: Die Karte des Piri Re’is. Das vergessene Wissen der Araber und die Entdeckung Amerikas
    C.H. Beck, 303 Seiten, 18, 95 Euro.