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Entdeckung der Moderne

Mit Wilhelm Raabe hat in der deutschen Literatur die Moderne begonnen - eine Erkenntnis, die sich in der Germanistik durchzusetzen beginnt. Der Wilhelm-Raabe-Literaturpreis wird alle zwei Jahre an seinem Todestag, dem 15. November, verliehen. Geboren wurde Raabe am 8. September vor 175 Jahren.

Von Peter Schanz | 08.09.2006
    Die Hebamme hätte während der Taufe den Kopf des Säuglings gegen eine Kirchensäule gestoßen und gesagt: das wird einmal ein ganz Großer! Die Familie jedoch habe das gar nicht hören wollen.

    Am 8. September 1831 erblickte in Eschershausen im Weserbergland das erste Kind des örtlichen Kreisamtsgerichtsaktuars und der Holzmindener Kämmererstochter das Licht der deutschen Kleinststadtwelt.

    "Es stecken eine Menge Gegensätze in mir, und seit frühester Jugend habe ich mich selbstquälerisch mit ihrer Analyse beschäftigt."

    Nach dem frühen Tod des Vaters zog die fortan allein erziehende Mutter mit den Kindern nach Wolfenbüttel, wo die Verwandtschaft zu den Stützen der Gesellschaft zählte, der vierzehnjährige Wilhelm aber keinen Halt mehr fand und bald als Versager galt: er musste die Schule erfolglos verlassen, die anschließende Buchhändler-Lehre in Magdeburg brach er ab, kehrte doppelt gescheitert in die kleine Residenzstadt zurück, die honorige Umwelt geiferte.

    "Wieder einmal alles vergeblich!"

    Plötzlich dann der Aus- und Aufbruch in die Großstadt - ab nach Berlin: mit gerade 23 Jahren "die Feder angesetzt" und den ersten Roman verfasst: "Die Chronik der Sperlingsgasse" - ein durchschlagender Erfolg. Es folgte ein langes, ertragreiches Schriftstellerleben: über 70 Titel umfasst das Werk - Romane zumeist, Erzählungen, vereinzelte Gedichte, keine Dramen.

    "Man muss sich Zeit lasse, den Raabe zu lese, man darf net sage, o Gottogott, das versteh ich net, man versteht ihn schon, man muss ihn bloß langsam lesen, man muss sich Mühe machen, ihn zu verstehen und, ich denk immer, je mehr dass man von ihm liest und weiß, der Mensch, der war seiner Zeit viel mehr voraus wie alle anderen. "

    Ingrid Reuther, stellvertretende Samtgemeindebürgermeisterin der Raabestadt Eschershausen und Vorsitzende des Heimat- und Kulturvereins im Raabemuseum dortselbst.

    "Der Mensch soll aber ja nicht meinen, dass die Welt auf ihn wartet, während er, mit über die Ohren gezogener Nachtmütze im Bett liegend, schwitzt und Tee trinkt."

    Sein restliches Leben hat Wilhelm Raabe geschrieben: sechs Jahre in Wolfenbüttel, acht in Stuttgart, bald 40 in Braunschweig. Er hat nie einen anderen Beruf als den des Schriftstellers ausgeübt. Und er wurde gelesen: Der Hungerpastor. Die Gänse von Bützow. Der Schüdderump. Horacker. Stopfkuchen. Die Akten des Vogelsangs. Und – ein Nebenwerk eher: die in Schülerkreisen notorische Schwarze Galeere. Den größten Zuspruch erlebte Raabe jedoch in seinen letzten Lebensjahren als "Schriftsteller a.D.": es regnete Preise, Ehrungen und mancherlei bizarre Huldigung: Schwärmer wallten zu "Meister Raabe", wollten "Blicke aus seinem treuen Auge trinken" und "goldene Worte nach Hause tragen".

    "Unsere tägliche Selbsttäuschung gib uns heute."

    Nach dem Tod des Autors 1910 ist man auf dessen Einverständnis nicht mehr angewiesen. Ein paar wohlfeile Zitate sind schnell aus ihrem Zusammenhang geholt und schon wird gepredigt, was Raabe hier und heute gesagt hätte. Innerhalb von 30 Jahren hatte die sogenannte "Gesellschaft der Freunde Wilhelm Raabes" diesen durch Nachrede, Lüge und Verleumdung rückwirkend zu einem Wegbereiter des Nationalsozialismus vereinnahmen wollen – ausgerechnet Raabe, der zu Lebzeiten sich dezidiert vor Niemandes Karren hat spannen lassen – weder politisch noch weltanschaulich noch in Geschmacks- oder Glaubensfragen.

    "Man muss in den Dreck hineingeschlagen haben, um zu wissen, wie weit er spritzt."

    Wilhelm Raabe hat es geschafft, sein Leben lang sich und seine Familie als freier Autor - in Unabhängigkeit - zu ernähren. Er hat seinen Töchtern selbstverständlich Ausbildungen finanziert und ihnen ein eigenes Berufsleben ermöglicht. Er hat mit "Pfisters Mühle" einen Roman über Umweltverschmutzung geschrieben - gegen eine ausbeuterische Industrie, die Flüsse vergiftet und Trinkwasser verseucht. Und er hat als kritischer Chronist des Spießbürgertums seinen vielleicht wunderbarsten Roman verfasst: "Abu Telfan oder die Heimkehr vom Mondgebirge" - ein Buch über das Fremdsein zu Hause, über das Scheitern am deutschen Jägerzaun-Gemüt, über die Provinz in uns Allen -

    ""Die wohldressierten Beamten-Seelen."

    "Ich mag ihn, weil er Rotwein mochte und halt einfach weil der ganz anders gedacht hat. Und wenn Menschen so n bissl anders denken würden, so, in der heutigen Zeit, so jetzt wo wir leben, dann wär's schon bissl anders. Nicht so angepasst so schrecklich, ner. Wollnse noch was wisse?""

    Wilhelm Raabe ist ein Autor geblieben, dessen Modernität noch immer zu entdecken ist - mit allerbesten Referenzen: von Hermann Hesse nachdrücklich empfohlen, von Günter Grass hoch geschätzt, von Arno Schmidt mit Freuden studiert - auch wenn der verbreitete:

    "Raabe verträgt man erst richtig ab 50."