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Entführungen in Nigeria
"Der Rädelsführer habhaft werden"

Nigeria sei trotz Terror und Entführungen junger Mädchen kein verlorener Staat, sagte Hartwig Fischer, Präsident der Deutschen Afrika-Stiftung, im Deutschlandfunk. Die Ursachen für die Instabilität des Landes seien hausgemacht. Der Regierung gelinge es nicht, die Menschen an der wirtschaftlichen Entwicklung teilhaben zu lassen.

Hartwig Fischer im Gespräch mit Thielko Grieß | 09.05.2014
    Hartwig Fischer, Präsident der Deutschen Afrika-Stiftung
    Hartwig Fischer, Präsident der Deutschen Afrika-Stiftung (dpa / picture-alliance / Uwe Anspach)
    Um Nigeria zu stabilisieren, müsse man mit den Nachbarländern Benin, Niger, Kamerun und Mali partnerschaftlich zusammenarbeiten, sagte Hartwig Fischer, Präsident der Deutschen Afrika-Stiftung, im Deutschlandfunk. Ziel dieser Kooperation sei es, den Einfluss der fundamentalistischen Sekte Boko Haram, die den wirtschaftlich schwachen Norden Nigerias terrorisiert, einzudämmen. Benin sei in diesem Zusammenhang ein positives Beispiel. Dort könnten die religiösen Fundamentalisten von Boko Haram nicht Fuß fassen.
    Anführer der Sekte festsetzen
    Hartwig Fischer ist der Meinung, dass der Terror und die Entführungen junger Frauen erst aufhörten, wenn die "Rädelsführer festgesetzt" würden. Das sei aber besonders schwierig. "Die Terroristen führen tagsüber ein normales Leben und marodieren nachts durchs Land", so Fischer. Da sei es eine Herausforderung, ihrer habhaft zu werden. Langfristig lasse sich der Terror in Nigeria erst dann stoppen, wenn es der Regierung gelinge, die Menschen an der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes teilhaben zu lassen.
    Hartwig Fischer, geboren am 14. November 1948, ist seit 2010 Vorsitzender der Deutschen Afrika Stiftung. Der CDU-Politiker gehörte von 1984 bis 2002 dem CDU-Landesvorstand in Niedersachsen an. Darüber hinaus war er zwischen 1986 und 2002 Generalsekretär der Landes-CDU. 1982 gelang Fischer als Direktkandidat der Sprung in den Niedersächsischen Landtag in Hannover. Seit 2002 war Hartwig Fischer Mitglied im Deutschen Bundestag, für den er 2013 nicht mehr kandidierte. Er war Mitglied zahlreicher Ausschüsse und Arbeitsgruppen, die sich mit wirtschaftlicher Zusammenarbeit und Entwicklung befassten, seine Arbeit stand oft in Zusammenhang mit dem afrikanischen Kontinent. Seit 2011 ist er außerdem Präsident des Deutschen Jagdverbandes.

    Das Interview in voller Länge

    Thielko Grieß: Verkauf, Versklavung, Zwangsverheiratung – das sind die Vokabeln des Chefs der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram in Nigeria. In einem im Internet veröffentlichten Video hat er angekündigt, was er und seine Kämpfer mit mehr als 200 entführten Schülerinnen planen.
    O-Ton Boko Haram: "Ich habe ein paar Mädchen, die westlich erzogen wurden, gefangen genommen, und das regt nun alle auf. Ich sage, Mädchen, hört auf mit dieser schändlichen westlichen Erziehung und heiratet. Ich habe diese Mädchen entführt und ich werde sie auf dem Markt verkaufen. Gott hat mir befohlen, die Mädchen zu verkaufen."
    Grieß: Der Boko-Haram-Anführer. – Und zusätzlich haben Schergen dieser Organisation im Norden Nigerias in einem Dorf ein Massaker angerichtet mit mehr als 100 Toten in dieser Woche. – Am Telefon ist jetzt Hartwig Fischer von der CDU, ein früherer Abgeordneter im Deutschen Bundestag, heute Präsident der Deutschen Afrika-Stiftung, einer Organisation, die unter anderem wissenschaftliche Arbeiten über verschiedene Länder des Kontinents fördert. Hartwig Fischer war mehrfach in Nigeria, zuletzt vor gut einem Jahr. Einen schönen guten Morgen, Herr Fischer.
    Hartwig Fischer: Guten Morgen, Herr Grieß.
    Grieß: Ist Nigeria ein failing state, ein zerfallender Staat, dem es nicht mehr gelingt, eine grundlegende Ordnung aufrecht zu erhalten?
    Fischer: Nein, es ist kein failing state, aber hat zwei große Problembereiche. Das ist das Niger-Delta, wo es ethnische, aber auch wirtschaftliche Konflikte gibt, und es gibt den religiösen Fundamentalismus von Boko Haram im Norden des Landes, der wegen der Größe des Landes fast nicht einzudämmen ist wegen des verdeckten Arbeitens dieser Sekte, wenn man das so sagen darf.
    Grieß: Das sind negative Aussichten?
    Fischer: Das sind sehr negative Aussichten, vor allen Dingen, weil sie so arbeiten, dass sie tagsüber wie normale Menschen in ihren Familien leben und nachts dann tätig werden und man deshalb ihrer sehr schwer habhaft werden kann und deshalb wirklich spezielle Ermittlungsmethoden notwendig sind. Das kann man nicht einfach nur mit einer groß angelegten Militäraktion machen.
    Grieß: Wenn der religiöse Fundamentalismus im Norden Nigerias nicht einzudämmen sei, wie Sie sagen, warum würden Sie dann nicht von einem zerfallenden Staat sprechen?
    Fischer: Weil ich der festen Überzeugung bin, dass in den nächsten Jahren, wenn man gemeinsam mit den Nachbarländern Benin, Niger, Kamerun und Mali arbeitet, dass man dann eine Chance hat, dort aufzuklären. Aber das ist kein kurzfristiger, sondern ein langfristiger Prozess, wie wir aus Ländern wie Somalia, die failing states sind, erlebt haben.
    Grieß: Wenn Sie Somalia ansprechen – von Somalia aus schwappt die Gewalt immer wieder nach Kenia über. Sie haben Mali erwähnt – Mali wird erschüttert von eigenen inneren Unruhen. Die Stabilitätsanker, auf die Sie eine Hoffnung werfen, die sind nicht besonders stark, scheint mir.
    Fischer: Nein, ich würde sie auch nicht als Stabilitätsanker, sondern einfach als Partner sehen. Ich bin vor einigen Jahren in Benin gewesen, als es begann, dass Boko Haram von Nigeria aus von dem Norden in Benin auch anfing, und Boni Yayi, der Präsident, hat dort sehr gezielt sich eingesetzt in seinem Land und hat damit erreicht, dass Boko Haram nicht richtig Fuß fassen konnte. Wenn man gemeinsam mit diesen Ländern, den Nachbarländern – aber Sie wissen, Tschad gehört auch noch dazu – arbeitet, kann man Aufklärungsarbeit betreiben. Aber das ist ein langfristiger Prozess.
    Grieß: Boko Haram ist nicht erst in diesen Tagen auf die Bühne getreten, grausam auf die Bühne getreten, sondern das läuft seit vielen Jahren, seit 2009. Da könnte man den Beginn sozusagen eines Aufstandes festmachen. Sind die Ursachen dafür in Nigeria hausgemacht?
    Fischer: Die Ursachen sind in Nigeria deshalb zu einem Teil hausgemacht, weil die Armut im Norden und die Entwicklung des Landes vollkommen auseinanderdriftet und man damit den Nährboden findet, neue Kämpfer für Boko Haram zu finden, die man dann im Ausland insbesondere, so unsere Erkenntnisse, ausbildet als Terroristen. Und solange man nicht versucht, das ist eine der Aufgaben des Regierungschefs mit seiner Regierung, die wirtschaftliche Prosperität des Südens auch zu versuchen, in Teilbereichen zu übertragen, dann wird man scheitern. Das ist ja einer der Gründe auch gewesen, warum unser früherer Bundespräsident Horst Köhler in den Norden gereist ist, nach Kano, um damit auch ein Signal zu setzen im Jahr 2008.
    Grieß: Nigeria ist ökonomisch eigentlich stark, hat jüngst nach jüngsten Zahlen sogar Südafrika überholt als größte Volkswirtschaft des Kontinents. Warum gelingt es der nigerianischen Führung nicht, daraus Kapital zu schlagen, die Armut auch im Norden des Landes, wie Sie sagen, zu bekämpfen? Ist das Fahrlässigkeit oder Unfähigkeit?
    Fischer: Ich glaube, es ist in großen Teilen Unfähigkeit und die nicht Überschaubarkeit des riesigen Staatsapparates. Ich habe das gerade bei meinem letzten Besuch erlebt, dass Makoko, ein Teil von Lagos, ein riesengroßes Finanzzentrum gebaut wird auf aufgeschwemmten Lagunen und gleichzeitig Tausende von Menschen in Pfahlbauten einfach drei Tage vorher erfahren, dass sie ihre Heimat verlieren. Wenn dort nicht eine Kommunikation stattfindet mit Perspektiven für die Menschen, dass sie Teilhabe an der wirtschaftlichen Entwicklung haben, dann wird es nicht beim Niger-Delta und nicht bei Boko Haram im Norden bleiben, sondern dann werden wir in Lagos, einer Stadt mit rund 20 Millionen Einwohnern, den nächsten Krisenherd dort in Nigeria haben. Ich weiß aus einem persönlichen Gespräch auch mit dem Regierungschef, das wir am Rande des Besuchs der Bundeskanzlerin geführt haben, dass er sehr bemüht ist. Aber eine solche Regierung in einem solchen Vielvölkerstaat – das ist es ja – mit vielen Ethnien, da ist das ein Prozess, der dringend Transparenz braucht und die Demokratie aufbaut, um die Menschen mit zu beteiligen, denn diese Menschen müssen mit beteiligt werden.
    Grieß: Die Bemühungen sind ja offenkundig nicht ausreichend. Jetzt haben die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Frankreich, China und Kanada Hilfe angeboten eher militärischer Art, um sich auf die Suche zu machen nach den entführten Schülerinnen. Ist es das, was Nigeria jetzt braucht?
    Fischer: Ich glaube, dass Nigeria eine Hilfe braucht bei der Suche, aber das darf nicht eine militärische mit offener Präsenz sein, sondern das muss eine Suche sein, um die Anführer festzusetzen. Aber es muss gleichzeitig einen Prozess geben, der den Menschen im Norden eine Perspektive gibt, erstens mittelfristig Sicherheit zu erreichen und zweitens dann auch die Lebensgrundlage selbst erwirtschaften zu können, und dazu wäre Nigeria, wenn es mit einer guten Regierung und gemeinsam mit den Regionalregierungen Prosperität will, durchaus in der Lage, bei dem Reichtum, den man durch Öl und andere Rohstoffe hat.
    Grieß: Herr Fischer, es gibt einen deutschen Bundesaußenminister, eine Verteidigungsministerin, auch einen Bundespräsidenten, die öffentlich gesagt haben, Deutschland müsse sich stärker engagieren. Wo in dieser Krise in Nigeria ist jetzt Deutschland?
    Fischer: Deutschland ist dort mit einer hervorragenden Botschafterin, Frau Janetzke-Wenzel, beteiligt. Wir unterstützen auch Aktionen, wie wir sie mit dem Afrika-Preis gemacht haben. Es gibt nach meiner Überzeugung auch interne Aufklärungsarbeit, bei der Deutschland unterstützt. Ich glaube, wir müssen vor allen Dingen Menschen ausbilden in dem Bereich Demokratie, wie wir das auch in einigen Ministerien in anderen Ländern getan haben und wie wir es im Kofi Annan Peacekeeping Center machen, dass die Afrikaner mit ihren eigenen Mitteln in der Lage sind, solcher Probleme Herr zu werden.
    Grieß: Entschuldigung, Herr Fischer. Das sind ja die klassischen Instrumente der Entwicklungszusammenarbeit. Das hat ja bislang nicht dazu geführt, dass wir über Nigeria kein Interview führen müssen.
    Fischer: Nein. Ich glaube, dass wir im Bereich der inneren Sicherheit helfen müssen, dass Aufklärungsarbeit auch im eigenen Land geleistet wird. Wir wissen, wie schwierig das ist von El-Kaida. Wir wissen es aus Afghanistan und wir wissen es aus Somalia. Deshalb, glaube ich, ist die Wurzel, wie kann man intern Aufklärung machen, um dann der Rädelsführer in solchen Organisationen habhaft zu werden, und da reicht es eben nicht, wenn Goodluck Jonathan jetzt vor wenigen Tagen beim Weltwirtschaftsforum dann eine Erklärung abgibt, wir wissen, wo die jungen Mädchen sind. Wenn dann nicht sofort mit Taten versucht wird, sie zu befreien, dann verliert er damit die Glaubwürdigkeit, und deshalb glaube ich, die Aufklärungsfrage, wie kann man an diese Gruppen herankommen, und wie kann ich die totale Armut und Gegensätzlichkeit gegenüber dem Süden versuchen zu bekämpfen, ist, glaube ich, die Grundfrage.
    Grieß: Die schwierige Situation in Nigeria, die schwierige Situation nach der Entführung von mehr als 200 Schülerinnen und der Terror von Boko Haram – das war Hartwig Fischer von der CDU, früherer Bundestagsabgeordneter und aktuell Präsident der Deutschen Afrika-Stiftung, hier bei uns im Deutschlandfunk. Danke, Herr Fischer.
    Fischer: Alles klar! Viel Erfolg am heutigen Tag und Hoffnung für Nigeria.
    Grieß: Richten wir aus. Danke schön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.