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Entnazifizierung nach 1945
Blütenweiß ins Wirtschaftswunder

Rette sich, wer kann in die neue Zeit - das war 1945, nach zwölf Jahren Nazi-Herrschaft, die Devise von Millionen Deutschen, die vor "Spruchkammern" Rechenschaft ablegen mussten über ihr Verhalten in der NS-Zeit. In welch großem Stil dabei gerechtfertigt, beschönigt und gelogen wurde, zeigt Niklas Frank in seinem neuen Buch "Dunkle Seele, feiges Maul".

Von Otto Langels | 06.02.2017
    Winifred Wagner (l) neben ihrem Verteidiger Dr. Fritz Meyer während der Verlesung der Anklage vor der Spruchkammer II in Bayreuth am 25. Juni 1947.
    Winifred Wagner (l) neben ihrem Verteidiger Fritz Meyer während der Verlesung der Anklage vor der Spruchkammer II in Bayreuth am 25. Juni 1947. Die Schwiegertochter von Richard Wagner taucht auch in Niklas Franks Auswahl auf. (picture-alliance / dpa)
    Der Lehrer Michael Meyer trat am 1. Dezember 1932 der NSDAP bei, weil er glaubte, so steht es in seiner Entnazifizierungsakte, durch die Zahlung von einer Reichsmark Mitgliedsbeitrag mithelfen zu können, einen bevorstehenden Bürgerkrieg zu verhindern. Eine abenteuerliche Begründung. Aber offenkundig ließ sich die Spruchkammer davon beeindrucken: Sie stufte den Lehrer in die Gruppe IV der Mitläufer ein, die zweitniedrigste Kategorie.
    Der Fall des Grundschullehrers, Niklas Frank nennt ihn einen "wunderbar hinterfotzigen Menschen", ist eines der Verfahren, die der Autor für sein Buch ausgewählt hat. Von den über drei Millionen Akten in deutschen Archiven hat er wahllos 3.000 herausgegriffen und durchforstet. 170 markante Fälle stellt er in seiner Publikation vor.
    "Für mich war eben wichtig, nicht die üblichen Prominenten sondern einfach mal so ins tiefe nationalsozialistische Volk hinein zu greifen. Und das war sehr spannend."
    "Als Parteigenosse hielt ich trotz der bekannten strengen Vorschriften meine Beziehungen zu den jüdischen Mitbürgern aufrecht und behandelte diese genauso wie andere Mitbürger..." rechtfertigte sich ein Metzgermeister vor der Spruchkammer.
    "Ich weigerte mich, ein Schild anzubringen "Juden werden nicht bedient", hielt die Geschäftsverbindung zu der als Judenbank verschrienen Commerzbank aufrecht und brachte in Aussprachen offen meine antinationalsozialistische Gesinnung zum Ausdruck, was bekannter Weise immer Gefahren in sich barg."
    Feigheit und Scheinheiligkeit feiern Triumphe
    Trotz des wenig glaubhaften Auftretens stufte die Spruchkammer den Mann, wie gewünscht, als Mitläufer ein.
    Neben unbekannten NSDAP-Mitgliedern wie dem kleinen Metzgermeister tauchen in Niklas Franks Auswahl auch einige prominente Fälle auf, darunter Lina Heydrich, Emmy Göring, Winifred Wagner und die Mutter des Autors, Brigitte Frank. Sie alle traten als harmlose, unpolitische und ahnungslose Opfer auf, mit den Worten Emmy Görings: "Ich habe versucht zu helfen, wo ich konnte."
    Feigheit und Scheinheiligkeit feierten vor den Spruchkammern Triumphe, lautet eine bittere Erkenntnis Niklas Franks; und eine weitere: Die ehemaligen Parteigenossen kamen damit meist durch. "Es ist teilweise eine unglaubliche Groteske, die da stattgefunden hat. Das Grundmuster war, dass sie eigentlich dagegen waren. Es gibt nur zwei, drei Fälle, wo einer sagt, ich gebe zu, ich war bis zum Schluss ein idealistischer Parteigänger."
    "Persil-Scheine" für das "Große Vergessen"
    Nun ist es keine neue Erkenntnis, dass die Entnazifizierung keinen durchschlagenden Erfolg hatte. Die im Volksmund so genannten "Persilscheine" wurden zum Synonym für entlastende Zeugenaussagen zu Gunsten Beschuldigter. Der Historiker Norbert Frei spricht von der Sehnsucht nach dem "großen Vergessen", sein Kollege Lutz Niethammer von der "Mitläuferfabrik".
    Niklas Franks Publikation beeindruckt indes durch ihre Materialfülle. Er verzichtet auf ein wissenschaftliches Vorgehen und den historisch-distanzierten Blick. Sein Buch lässt jede inhaltliche Struktur vermissen, Quellen- und Literaturhinweise, Gliederung und Register sucht der Leser vergeblich. Ein Steinbruch einzelner Geschichten fügt sich zu einem deprimierenden Gesamtbild: die Entnazifizierung als ein "Sumpf von Lug und Trug".
    "Die absurdeste Begründung, die ich für eine SA-Mitgliedschaft gefunden hab, da sagt nämlich einer: Im Dezember 1932 trat ich als Zahnarzt in die SA ein, um die Gebissverhältnisse der SA in Behandlung zu führen. Einer, der sagte, obwohl er selber Nazi war, um seinen öffentlichen Widerstand gegen die Nazis zu dokumentieren, sagt er: Ich bin wiederholt in Seitenstraßen eingebogen, um die SA nicht grüßen zu müssen."
    "Balken-biegend gelogen"
    Die Aussagen der ehemaligen Parteigenossen sind peinlich, empörend, bisweilen auch unfreiwillig komisch. Im Grunde sprechen sie für sich selbst. Doch Niklas Frank kann der Versuchung nicht widerstehen, sie zum Teil ausgiebig zu kommentieren, und dies in einem derben und mitunter vulgären Ton. So wie er früher schonungslos mit seinen Eltern abgerechnet und sie als "Jubelwichser", "törichte Schleimer" und "gnadenlos beschränktes Schweineweib" bezeichnet hat, beschreibt er jetzt ähnlich hemmungslos die deutschen "Kreidefresser beiderlei Geschlechts".
    "Bei ihren Verhandlungen äugelten die meisten Betroffenen die Spruchkammer hündisch aus Husky-Augen an. Dazu logen sie balkenbiegend und meineideten eiskalt - deutsche Schweinsköpfe eben."
    Nicht nur die Mitläufer selbst bemühen sich eifrig, ihre NS-Vergangenheit in einem harmlosen Licht erscheinen zu lassen, auch die Entlastungszeugen fallen durch bizarre Eingaben auf, etwa wenn im Verfahren gegen Emmy Göring ein protestantischer Pfarrer ein gutes Wort für sie einlegen will, indem er ein Treffen in Hermann Görings Berliner Villa schildert:
    "Als Hermann Göring das Zimmer verließ und ich darauf aufmerksam machte, dass dies seit Jahren die ersten zehn Minuten gewesen waren, die ein Reichsminister für einen Pfarrer ausgerechnet während eines Krieges auf Tod und Leben übrig gehabt hatte, brach Frau Göring in Tränen aus, auch aus tiefster Erschütterung über den Abgrund, in dem das ganze System einschließlich ihres Mannes gesunken war."
    Erst Gestapo- und dann Stasi-Denunziant
    Der Pfarrer, ausgerechnet ein Angehöriger der bekennenden Kirche, vergaß nicht zu erwähnen, dass Emmy Göring zu jedem Osterfest 75 Fotos von sich und ihrem Gatten mit eigenhändiger Unterschrift an seine Konfirmanden verteilen ließ.
    Niklas Frank hat sich bis auf zwanzig Fälle aus Thüringen auf die Entnazifizierung im Westen konzentriert. In Weimar stieß er auf einen äußerst ungewöhnlichen Vorgang. "Ich habe einen einzigen Fall gefunden, wo einer, der dann in der DDR in ein Entnazifizierungsverfahren kam, weil der sehr viele Menschen verraten hat an die Gestapo, der hat sehr ernsthaft ein Bedauern ausgedrückt. Es täte ihm sehr leid. Aber als zwei Jahre später seine eigene Tochter nach Hamburg fliehen wollte, hat er sie bei der Stasi verraten."
    Niklas Franks Bilanz nach fünfjähriger Recherche und dem Blick in Tausende von Akten: Die Entnazifizierung war ein Fehlschlag. Es wurde in großem Stil gelogen, verfälscht, verharmlost, um Verständnis und Mitleid gebettelt, um sich selbst und andere zu entlasten.
    Niklas Frank:
    "Dunkle Seele, feiges Maul. Wie skandalös und komisch sich die Deutschen beim Entnazifizieren reinwaschen"
    J.H.W. Dietz Verlag, Bonn 2017, 584 Seiten, 29,90 Euro