Freitag, 19. April 2024

Archiv

Entschädigung für Heimkinder
Bleibendes Leid

Erzwungene Tablettengaben, Spritzen zur Beruhigung: Über Jahrzehnte waren Kinder in ost-und westdeutschen Heimen Gewalt ausgesetzt. Eine neu gegründete Stiftung will unter anderem auch die Opfer psychiatrischer Einrichtungen entschädigen. Ehemalige Insassen von Sonderheimen sollen davon allerdings ausgeschlossen sein.

Von Isabel Fannrich | 04.05.2017
    ARCHIV - Ein Besucher steht am 07.11.2009 vor der Line mit der Aufschrift «Ausziehen hier» in einem Raum des ehemaligen Geschlossenen Jugendwerkhofes Torgau in der heutigen Gedenkstätte in Torgau (Sachsen). Seit zwei Jahren können ehemalige DDR-Heimkinder, denen Unrecht geschah, Hilfen aus einem Entschädigungsfonds erreichen, am 30. September endet die Frist. Foto: Peter Endig/dpa (zu dpa «Land gibt 1,5 Millionen für Aufstockung des DDR-Heimkinder-Fonds» vom 12.08.2014) | Verwendung weltweit
    Besucher im Jugendwerkhof Torgau - inzwischen eine Gedenkstätte. Auch hier wurden zu DDR-Zeiten Kinder und Jugendliche systematisch misshandelt und gedemütigt. (dpa-Zentralbild)
    "Bereits in der Psychiatrie Pfafferode werden mir Tabletten verabreicht, die den Schluss zulassen, dass sie Versuche an mir durchgeführt haben. Als ich nach den Tablettengaben Kopfschmerzen und Magenschmerzen bekomme und weitere Tablettengaben verweigere, werde ich brutal im Bett fixiert und nur noch für das Verrichten der Notdurft losgemacht. Als ich eine Situation nutze und abhauen will (ich bin 10 Jahre und habe keine Sachen zum Anziehen), werde ich, nachdem sie mich wieder eingefangen haben, nicht einmal mehr auf die Toilette gelassen. Zur Strafe bekomme ich Spritzen, welche schmerzhaft brennen."
    Ralf Weber kämpft seit vielen Jahren dafür, dass Unrecht beim Namen genannt und Betroffene entschädigt werden.
    Als er selbst im Alter von zehn Jahren wochenlang in die Psychiatrie Pfafferode in Thüringen kam, hatte er bereits vier Jahre im geschlossenen Heimsystem hinter sich.
    Ohne jegliche medizinische Grundlage seien ihm dort eine latente Epilepsie und ein hirngenetischer Defekt attestiert worden – Grund genug, ihn für weitere Jahre in das Brandenburger "Kombinat der Sonderheime für Psychodiagnostik und pädagogisch-psychologische Therapie" für die vorgeblich besonders Schwer-Erziehbaren zu sperren.
    "Ich habe von 1965 bis 1970 massiv Medikamente erhalten, wobei es sich bei mir um eine Tablette oder eine Pille gehandelt hat, die nicht genau zu definieren ist, aber ich kann augenscheinlich des Erlebten sagen, dass ich Kinder erlebt habe, die haben fünf, zehn, 15 Tabletten täglich eingeworfen bekommen. Und ich kann Ihnen versichern, ich habe Kinder gesehen, die mit Schaum vor dem Mund zusammengebrochen sind, ohnmächtig wurden, die weggeschleift wurden wie tote Tiere, die ich hinterher nie wieder gesehen hab."
    Ausgleich auch für die Opfer aus dem Bereich Psychiatrie und Behindertenhilfe
    Ralf Weber hat bereits Entschädigung bekommen: Vom "Fonds Heimerziehung", gegründet, nachdem bekannt wurde, welcher Gewalt Kinder in ost- wie westdeutschen Kinderheimen über Jahrzehnte oft ausgesetzt waren. Die nun neu gegründete "Stiftung Anerkennung und Hilfe" will auch für die Opfer der psychiatrischen und Behindertenheime Ausgleich schaffen. Mit rund 24.000 Antragstellern aus dem Bereich Psychiatrie und Behindertenhilfe rechnet die neue Stiftung bis Ende 2019, ungefähr ein Viertel der schätzungsweise 97.000 Betroffenen könnte sich melden.
    Allerdings läuft die Arbeit insbesondere im Osten nur schleppend an. Anfang Mai lagen der Geschäftsstelle in Bochum 218 Anträge vor, davon zwei aus dem Gebiet der früheren DDR. Anders als im Westen eröffnen die Beratungsstellen hier erst nach und nach, in Berlin zum Beispiel erst im Laufe des Monats.
    In Potsdam haben sich seit dem 1. April mehr als 100 Menschen gemeldet, erzählt die Leiterin der dortigen Anlaufstelle, Silvana Hilliger.
    "Zu einem aus meiner Sicht nicht geringen Teil sind das Langzeitpatienten aus der Psychiatrie, die schon in frühen Kindesjahren in die Psychiatrie gekommen sind und dort ihre gesamte Kindheit und Jugend verbracht haben – mit all den Folgen, die das für ihr Leben bedeutete, teilweise Analphabetismus, weil die Schule in den Psychiatrien sehr begrenzt war, maximal bis zur 6. Klasse, wenn sie überhaupt so lange in die Schule gehen durften oder konnten, zum Beispiel durch die starken Nebenwirkungen der Medikamente, die sie bekommen haben."
    Kinder aus schwierigen Familien seien damals ebenso in die psychiatrischen Großeinrichtungen der DDR eingewiesen worden wie Jugendliche mit einer Krise oder Menschen mit geistiger Behinderung.
    "Ein Betroffener erzählte, dass immer, wenn er mal lauter geworden ist, weil er mit der Situation unzufrieden war, er erzählt von ganz großen schmerzhaften Spritzen, die er in den Po gekriegt hat und dann hat er geschlafen. Oder mir wurde berichtet vom stundenlangen in der Ecke stehen, nackt, bis man sich wieder beruhigt hatte. So typische Strafen, die in der Zeit auch in der Heimerziehung verbreitet waren."
    Nicht entschädigen will die neue Stiftung die rund 2.500 ehemaligen Insassen des Kombinates der Sonderheime – mit dem Argument, dies sei eine Einrichtung der Jugendhilfe gewesen, und die Betroffenen hätten sich an den Heimfonds wenden können.
    Disziplinierung und Medikamentierung von Kindern und Jugendlichen
    Ralf Weber, der als Betroffenenvertreter die Stiftung mit vorbereitet hat, protestiert dagegen. In den über Brandenburg verteilten vier Psychiatrie-ähnlichen Sonderheimen seien die Kinder und Jugendlichen stärker noch als in den Spezialkinderheimen und Jugendwerkhöfen diszipliniert und medikamentiert worden.
    "Und es gibt keine Ausschlussklausel für Betroffene aus dem Kombinat der Sonderheime, keine. Und ich werde mich tunlichst an den deutschen Bundestag wenden, weil das nicht nur ein Vertrauensbruch ist, sondern ein Abstandnehmen von der politischen Agenda, die 2011 im Juli auf den Weg gebracht wurde, nämlich Opfern der Psychiatrie, der geschlossenen Psychiatrie und der Behindertenhilfe zu helfen."
    Unterstützung bekommt Ralf Weber von der CDU in Brandenburg. Dieter Dombrowski, Landtagsabgeordneter und Vorsitzender des Opferverbandes UOKG fordert Land und Bund dazu auf, das Kombinat der Sonderheime zu berücksichtigen.
    "Auch wenn die Stiftung im Moment es nicht als notwendig ansieht, diesen Personenkreis miteinzubeziehen, ist das ja nicht in Stein gemeißelt. Es läuft nochmal eine kleine Anfrage, wir werden Psychologen zu Rate ziehen, die auch in weiteren Gutachten das belegen. Und ich kann mir auch vorstellen, dass wir auch die Klage eines Betroffenen exemplarisch unterstützen werden, dann muss, wie in anderen Fällen auch, ein Gericht für Rechtsordnung sorgen."