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Entstehung von Erdbeben
"Das ist ein chaotischer Prozess"

Mittelitalien erlebt das zweite schwere Erdbeben innerhalb weniger Jahre - und wieder hatten Experten es nicht vorhergesehen. In diesem Bereich gebe es keine Fortschritte, sagte der Seismologe Frederik Tilmann im Deutschlandfunk. Und das werde wohl auch so bleiben.

Frederik Tilmann im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 25.08.2016
    Ein Erdbeben wird am 22.12.2015 in Düsseldorf (Nordrhein- Westfalen) auf einem Computer-Monitor angezeigt. Die Erde hat um fast genau 7.00 Uhr am Dienstag nördlich von Bergheim im Rhein-Erft-Kreis gebebt.
    Auch in Deutschland gibt es immer wieder Erdbeben. (picture alliance / dpa / Frederico Gambarini)
    Die Entstehung von Erderschütterungen sei ein teilweise "chaotischer Prozess", sagte der Wissenschaftler vom Geoforschungszentrum Potsdam. "Das ist einfach die Erdbebenphysik." Die Spannung zwischen Erdplatten steige so lange an, bis sie reiße. Mit dieser Unvorhersehbarkeit müsse man leben.

    Das Interview in voller Länge:
    Tobias Armbrüster: Es sind traurige Bilder und traurige Zahlen, die wir da seit gestern bekommen aus Mittelitalien. Nach wie vor ziehen die Rettungsmannschaften Tote aus den Trümmern nach dem schweren Erdbeben gestern Morgen. Viele Menschen trauern um ihre Angehörigen. 247 - das ist die aktuelle Zahl von Toten, die aus Italien gemeldet werden, 247 Todesopfer nach diesem schweren Beben. Viele Menschen in der Region haben die Nacht in Zelten verbracht. Nach wie vor gibt es allerdings auch immer noch Hoffnung, dass noch Überlebende aus diesen Trümmern gezogen werden.
    Über dieses Unglück, über dieses Erdbeben können wir jetzt sprechen mit dem Seismologen und Erdbeben-Forscher Frederik Tilmann vom Deutschen Geoforschungszentrum in Potsdam. Er ist jetzt bei uns am Telefon. Schönen guten Morgen, Herr Tilmann.
    Frederik Tilmann: Guten Morgen.
    Armbrüster: Herr Tilmann, viele Menschen fragen sich das seit gestern: Wieso sind wir, vor allen Dingen wir in Europa, in diesem hoch entwickelten Kontinent, in Italien nicht in der Lage, solche Beben zumindest einigermaßen vorherzusagen?
    Tilmann: Ja das ist einfach die Erdbebenphysik. Solche Beben kündigen sich meistens nicht an, sondern die Spannung in der Erde steigt und steigt, bis sie irgendwann bricht. Aber der genaue Zeitpunkt ist nicht vorherzusagen und man hat nur selten Vorbeben oder andere Anzeichen.
    "In der genauen Vorhersagbarkeit hat es keinen wirklichen Durchbruch gegeben"
    Armbrüster: Wie weit ist man denn da in der Forschung? Kommt man da irgendwie etwas näher, oder kann man da schon sagen, wir sind an einem Punkt angelangt, wo wir eigentlich nicht mehr weiter forschen können, was die Vorhersagbarkeit angeht?
    Tilmann: Es gibt immer noch Ansätze. Aber man muss ehrlich sagen, dass es in der genauen Vorhersagbarkeit, dass man Zeit und Ort und Größe recht eng eingrenzen kann, keinen wirklichen Durchbruch gegeben hat. Und es ist auch immer noch nicht geklärt, ob das überhaupt präzise möglich ist oder ob es ein teilweise chaotischer Prozess ist, wo man immer mit einer Unvorhersagbarkeit leben wird können.
    Armbrüster: Wir reden, wenn wir uns diese Lage ansehen, ja immer über diese zwei Kontinentalplatten: einmal über die afrikanische und dann über die eurasische, die sich da genau auch in diesem Erdbebengebiet treffen beziehungsweise die dort übereinander liegen. Kann man denn sagen, wie groß die Spannung zwischen diesen Platten ist?
    Tilmann: Ja, das kann man abschätzen, welche Spannungen sich aufbauen, einfach aus der Höhe. Das sind die Alpen, die von dieser großen kontinentalen Kollision aufgebaut werden, und man kann gewisse Abschätzungen machen. Aber Erdbeben bauen auch immer nur einen Teil dieser Spannungen ab, sodass das nicht direkt hilft, die Erdbebengrößen einzugrenzen.
    "Das ist eine sehr erdbebengefährdete Region"
    Armbrüster: Das heißt, man kann auch nicht sagen, dass hier in dieser Region Erdbeben in der Zukunft wahrscheinlicher werden als beispielsweise in anderen Regionen der Welt auf anderen Kontinentalplatten, die übereinander liegen?
    Tilmann: Das war schon immer oder ist eine sehr erdbebengefährdete Region, und wir haben ja auch schon leider häufig Erdbeben wie das gestrige in der Vergangenheit sehen müssen. Vor sieben Jahren das L’Aquila-Beben, 50 Kilometer Entfernung zum jetzigen, mit einer ähnlichen Größe und ähnlichen Folgen, wie das jetzt aussieht, leider auch im Sinne der Zahl der Todesopfer. Es wird auch in der Zukunft in der Gegend wieder Erdbeben geben. Das steht außer Frage.
    Armbrüster: Wenn Sie die Spannungen von solchen Platten, von solchen tektonischen Verschiebungen messen, wie gehen Sie da vor?
    Tilmann: Da gibt es verschiedene Methoden. Man kann sich anschauen, welche Spannungen abgebaut werden in Erdbeben, aber das ist immer nur ein Teil der Gesamtspannung. Und man kann eine Bilanz machen der gesamten Kräfte, die wirken: Wie hoch sind die Berge? Wie stark drücken die Kontinente? Wie stark ziehen abtauchende Platten im Ozean? Das ist ein recht aufwendiger Prozess. Aber letztendlich kommt man dann zu Spannungen, die Gesteine bersten können.
    "Die absolute Größte der Spannung lässt sich nicht direkt messen"
    Armbrüster: Das heißt, wird da auch in die Erde oder in das Mittelmeer reingebohrt?
    Tilmann: Ja da ist es Teil der Forschung, verschiedene Bohrungen zu machen. Aus denen lässt sich oft leichter erkennen, in welche Richtung die Spannung geht, was wir auch aus den Erdbeben selber ablesen können. Aber wirklich die absolute Größe der Spannung festzulegen, die absolute Größe zu messen, lässt sich nicht direkt machen. Man kann sich auch angucken, wie viel Wärme generiert wird von Erdbeben, was dann auch wieder bedeutet: Je größer der Druck ist, desto mehr Wärme wird erzeugt durch die Reibung in Erdbeben. Das sind aber alles letztendlich indirekte Betrachtungen und es ist leider nicht direkt messbar.
    Armbrüster: Wir werden nicht so häufig heimgesucht von solchen Katastrophen. Haben Sie den Eindruck, dass hier bei uns in Europa besonders viel getan wird, um so etwas zu erforschen?
    Tilmann: Ja, es wird schon. Die seismologischen Institute in Europa, auch in Italien natürlich, aber in Deutschland auch, da gibt es schon viel Aktivität, was sich dann auch weltweit anwenden lässt. Natürlich gibt es auch viel Forschung in anderen Ländern, Japan, USA. Ja, es wird dort viel erforscht.
    "In Deutschland ist die Erdbebengefährdung geringer als in Italien"
    Armbrüster: Herr Tilmann, wie hoch meinen Sie denn ist die Gefahr für ein Erdbeben hier bei uns in Deutschland, ein besonders drastisches Erdbeben?
    Tilmann: In Deutschland ist die Erdbebengefährdung geringer als in Italien natürlich, aber ist nicht zu vernachlässigen und wir hatten durchaus auch schon Erdbeben der Größe wie jetzt in Italien. Die sind schon in Deutschland vorgekommen. 1911 im Süden Deutschlands gab es ein Erdbeben auch der Stärke 6,1, also nur geringfügig kleiner als das, was wir jetzt in Italien hatten. Die gefährdeten Gebiete sind letztendlich die Alpenvorländer und entlang des Rheingrabens, kölnische Bucht. Das sind so die Zonen, wo man erhöhte Gefährdung hat, während in Norddeutschland ist die Gefährdung extrem klein.
    Armbrüster: Das heißt, ein Erdbeben wie das, was wir jetzt da in Italien erlebt haben, das wäre in den kommenden Jahren durchaus auch bei uns in Deutschland möglich?
    Tilmann: Ja. Es kommt seltener vor in Deutschland, aber es ist durchaus möglich.
    "In der Vorbereitung hätte man mehr machen können"
    Armbrüster: Welchen Eindruck haben Sie denn? Sie beschäftigen sich ja sehr häufig mit solchen Katastrophen. Haben die italienischen Behörden da in den vergangenen Jahren nach dem Erdbeben in L’Aquila angemessen reagiert, was die Schutzvorrichtungen vor Erdbeben angeht?
    Tilmann: Eine Sache, die man sagen kann, ist, dass die direkte Antwort, das Bringen von schwerem Gerät zur Bergung, dass das wohl recht gut funktioniert hat beim aktuellen Erdbeben. In der Vorbereitung kann man sagen, man hätte immer mehr machen können, aber man muss auch sehen, dass in dieser Gegend besonders viel historischer Baubestand ist, der nur sehr aufwendig erdbebensicher gemacht werden kann, oder teilweise gar nicht und nur durch Neubau erneuert werden kann, und deswegen ist das schwierig, das in kurzer Zeit hinzubekommen.
    Armbrüster: … sagt hier bei uns im Deutschlandfunk der Seismologe und Erdbebenforscher Frederik Tilmann vom Deutschen Geoforschungszentrum in Potsdam. Vielen Dank für diese Einschätzungen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.