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Entstehung von Skandalen im Wandel

In seinem Buch "Der entfesselte Skandal" beschäftigt sich der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen mit der Entstehung und den Auswirkungen von Skandalen. Er ist überzeugt, dass im digitalen Zeitalter ein neuer Typus des Skandals entstanden sei – unter anderem durch Handys und Smartphones.

Bernhard Pörksen im Gespräch mit Adalbert Siniawski | 24.05.2012
    Ein Tag, Ende April 2006, in einem Nachtbus im chinesischen Hongkong. Ein älterer Mann telefoniert lautstark mit seinem Mobiltelefon. Ein junger Immobilienmakler fühlt sich gestört, klopft ihm auf die Schulter und bittet ihn, doch bitte etwas leiser zu sprechen. Der Herr am Handy reagiert genervt und steigert sich in einen sechs Minuten langen Wutausbruch hinein. Was die beiden nicht wissen: Ein Student auf dem Nebensitz filmt diese Szene mit einer Handykamera und stellt diesen Film nach der Fahrt auf eine Videoplattform im Internet. Dieses absolut banale Video wird der Renner im Netz und binnen weniger Tage von Millionen von Menschen angeklickt, die sich über den sogenannten Bus Uncle empören. Frage an Bernhard Pörksen: Warum ist dieser Fall aus Hongkong ein gutes Beispiel für den von Ihnen attestierten sogenannten "entfesselten Skandal"?

    Bernhard Pörksen: Weil es ein Skandal ist, der unter weltweiten Bedingungen rezipiert wird. Er findet – potenziell zumindest – vor einem globalen Publikum statt. Er vergeht und verweht nicht, wie dies noch im Papierzeitalter natürlich der Fall war, denn das Trägermedium – das Papier – es vergilbt, es altert. Und es ist natürlich eine charakteristische Asymmetrie, die diesen Fall auszeichnet: Eine Asymmetrie zwischen Anlass und Effekt, zwischen Ursache und Wirkung. Eine minimale Begebenheit, ein alltäglicher Wutanfall, löst ein weltweites Hassbeben aus.

    Adalbert Siniawski: Bernhard Pörksen, Medienwissenschaftler und Skandalforscher aus Tübingen. Welche Rolle spielt die Technik dabei?

    Pörksen: Sie sehen an diesem Fall etwas sehr Interessantes, nämlich, dass das Handy so etwas geworden ist, wie eine "indiskrete Technologie", um eine Formulierung des Techniksoziologen Geoff Cooper aufzugreifen. Er meint damit, dass das Handy, mit Kamera- und Videofunktion versehen, jene einst diskreten, jene einst getrennten Sphären – das Berufliche und das Private, das Alltägliche und das Nicht-Alltägliche – gleichsam schleift. Diese Grenzen werden gesprengt. Wer mit einem Handy unterwegs ist, könnte man sagen, benutzt eine Allzweckwaffe der Skandalisierung, der trägt sie gleichsam immer am Körper. Er nennt sie eben nur Handy oder Smartphone, aber er kann dieses Gerät blitzschnell hochreißen und einen anderen in einem peinlichen Moment fotografieren oder filmen und dann alles ins Netz stellen.

    Siniawski: Sie behandeln in ihrem neuen Buch mit dem Titel "Der entfesselte Skandal" auch prominentere Fälle – also Wikileaks, Zu Guttenberg und Abu Ghraib sind Stichworte. Ihr Fazit dieser Fallanalysen lautet: Im digitalen Zeitalter ist ein neuer Typus des Skandals entstanden, der Skandal ist entfesselt. Woran machen Sie das fest, im Gegensatz zu alten Skandalen?

    Pörksen: Es gab eine Normverletzung. Diese Normverletzung wurde bekannt. Eine Redaktion hatte entschieden, diese Normverletzung, diese moralische Verfehlung, bekannt zu machen. Und am Ende des Kommunikationsprozesses gab es ein Publikum – mehr oder weniger stumm, mehr oder weniger reaktiv –, das konnte sich allenfalls empören, zum Telefonhörer greifen, einen Leserbrief schreiben. Heute kehrt sich diese Logik tendenziell um: Wir haben also eine publikumsseitige Steuerung des Skandals und Empörungsgeschehens. Das Publikum selbst ist zum entscheidenden Player in der Erregungsarena der Gegenwart geworden. Es skandalisiert selbst, es unterbreitet Empörungsangebote, die dann von Massenmedien, klassischen Massenmedien, aufgegriffen werden.

    Siniawski: Kann man sagen: An Stelle der Skandalisierung durch professionelle Beobachter, nämlich die Journalisten, tritt nun so eine Art Skandalisierung durch den Internet-Mob – ohne feste Spielregeln?

    Pörksen: Ganz so scharf, ganz so hart, würde ich nicht formulieren. Es gibt ja nach wie vor die klassische massenmediale Enthüllung. Ich würde auch nicht nur von einem entfesselten, einem wütenden Mob sprechen, denn dieser entfesselte Skandal hat durchaus zwei Dimensionen. Natürlich, er ist auf der einen Seite oft ekelhaftes, oft grausames, oft sinnloses Spektakel, das sich um eine Banalität gruppiert. Aber auf der anderen Seite ist er auch Instrument der blitzschnellen Transparenz, der Aufklärung, der Sichtbarmachung von relevanten Informationen, von relevanten Geschichten. Denken Sie an Folterskandale. Denken Sie an die klugen Blogger im Arabischen Frühling. Denken Sie an all die Leute, die Plagiate entlarven. Die setzen ja Themen durchaus von gesellschaftlicher Relevanz und Brisanz auf die Agenda.

    Siniawski: "Die digitalen Überall-Medien", schreiben Sie, "haben eine mediale Allgegenwart erzeugt, in dem dem Einzelnen die Kontrolle über sein Image abhanden kommt", so ein Satz aus Ihrem Buch. Aber kann man die Präsenz in den neuen Medien doch auch steuern, also zum Beispiel nur bestimmte Inhalte publizieren oder sich gänzlich aus der digitalen Welt entziehen?

    Pörksen: Ich glaube, dass diese Form des Sich-Entziehens, der Totalverweigerung, eine Illusion ist. Jeder ist im Netz, ob er will oder nicht. Also, ich glaube, wir sind in einer Art mentalen Pubertät im Umgang mit unseren neuen Kommunikationstechnologien. Wir sind uns nicht klar darüber, was all diese Postings, Twittermeldungen, aber auch die Situation in der U-Bahn in jenem Nachtbus in Hongkong, dass die womöglich eines Tages womöglich vor einem Globalpublikum gespielt werden und sichtbar werden. Auf diese Situation von ständiger Sichtbarkeit sind wir innerlich und mental nicht vorbereitet – das ist unsere These.

    Siniawski: Da gibt es auch die Forderung: Das Internet sollte vergessen lernen, damit vielleicht Skandalopfer sozusagen rehabilitiert werden könnten mit der Zeit, und auch die Forderung nach mehr Privatsphäre im Netz. Stimmen Sie in diesen Chor der Warner ein oder sind Sie da skeptisch?

    Pörksen: Aus meiner Sicht sind wir derzeit umgeben von Überwältigungstheoretikern. Die einen sagen: Die Technologie ist furchtbar und Sie wird uns in den Abgrund reißen. Und die anderen sagen: Sie wird uns retten, sie wird die Demokratie rehabilisieren etc. pp. Beide Gruppen haben eines gemeinsam: Sie glauben an die Allmacht der Technik, an die Allmacht technischer Instrumente. Daran glaube ich keinen Moment. Ich glaube, wir stehen vor einer fundamentalen Reorientierung, einer Wiederentdeckung des mündigen Menschen, der eben jene Medien, eben jene Technologien, eben jene Kommunikationsinstrumente verwendet. Und ich frage mich ganz ernsthaft: Warum gibt es in den Schulen noch kein Fach, das da heißt "Leben im digitalen Zeitalter"? Warum ist in den Curricula der Schulen und Universitäten unseres Landes nicht längst der Journalismus als Element der Allgemeinbildung verankert? Muss sich nicht heute jeder – und davon bin ich überzeugt – jene Fragen stellen, die früher nur Journalistinnen und Journalisten vorbehalten waren, nämlich: Was ist eine seriöse Quelle? Welche Nachricht publiziere ich überhaupt? Und welches Gespür, welches emphatische, verantwortungsbewusste, aufklärerisch gestimmte Gespür für Medieneffekte entwickle ich?

    Siniawski: Wenn man wie Sie mit Interesse Skandalforschung betreibt – gibt es da nicht die Gefahr, dass man die Mechanismen und negativen Auswirkungen von Skandalen, die Sie beschrieben haben, reproduziert? Also zum Beispiel Opfer erneut ins Rampenlicht bringt?

    Pörksen: Das ist absolut die Gefahr und ich bin Ihnen sehr dankbar für diese Frage, weil wir uns dieser Gefahr immer bewusst sein müssen. Stellen wir nicht die Leute, nun unter den scheinbar aufklärerischen Vorzeichen eines Buches über Netzskandale, erneut an den Pranger? Wir haben einen eigenen akademischen Begriff erfunden, um diese Gefahr zu brandmarken, wir nennen es "Voyeurismus zweiter Ordnung". Das ist ein beliebtes Spiel, eine beliebte Technik der Medien, nach dem Motto: Unter der Rubrik der Aufklärung reproduzieren wir die Widerlichkeiten erneut. Uns hat das, diese Gefahr, dieses Risiko, im Schreiben selbst diszipliniert. Wir haben uns gefragt: Darf man das so machen? Wie erzählen wir die Geschichte spannend, aber wie erzählen wir die Geschichte gleichzeitig so, dass sie die Würde dessen, der da zu Unrecht oft für Empörung sorgt, nicht erneut gefährdet, nicht erneut verletzt?

    Siniawski: Sagt der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen. "Der entfesselte Skandal" heißt sein neues Buch, das er zusammen mit Hanne Detel geschrieben hat. Das Buch ist im Halem Verlag erschienen und die 248 Seiten kosten 19 Euro 80. Herr Pörksen, Dank für das Gespräch.

    Pörksen: Ich danke Ihnen.