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Epigonales Raunen

In Frankfurt wurde "Kullervo", die vierte Oper des finnischen Komponisten Aulis Sallinen, neu inszeniert. Sie greift eine Geschichte aus dem Nationalepos "Kalevala" auf: Es geht um Bruderzwist, tödliche Rache und deren Folgen für die nächste Generation.

Von Christoph Schmitz | 06.06.2011
    Aulis Sallinens "Kullervo"-Szenen aus dem altfinnischen Epos Kalevala weckten zahlreiche Erinnerungen an die rauen Sitten und rachsüchtigen Fehden im mittelhochdeutschen Nibelungenlied. Hier wie dort bekämpfen sich die Sippen bis aufs Blut.

    Sallinens Titelfigur Kullervo wirkt aber auch etwas wie der finstere Bruder des blonden Strahlemannes Siegfried in Richard Wagners Ring-Tetralogie. Wie Siegfried sehnt sich Kullervo nach seiner Mutter, streunt und prügelt sich durch die Welt, verloren, alleine. Und wie Siegfried verlöscht er am Ende im Feuer. Dieser Kullervo erinnert zugleich an Georg Büchners und Alban Bergs gepiesackten Soldaten Wozzeck. Wie ein Sklave wird Kullervo gehalten, verachtet und gedemütigt. Wie Wozzecks Kind am Schluss auf seinem Steckenpferd einsam durch die Stube hüpft, hüpft auch Kullervos wahnsinniger Freund über die Bühne. Die Psychologie von Sallinens selbst verfasstem Libretto ist dabei so schlicht wie die literar- und musikhistorischen Anleihen: Der Junge lernte keine Weisheit, weil er so falsch erzogen wurde, heißt es an einer Stelle; der früh Verwaiste wird böse und tötet alles und sich, weil er nie geliebt wurde. Zur Küchenpsychologie gesellt sich die Sprache: Weinend wird das Gras verwelken. Sätze wie aus dem Poesiealbum.

    Die Frankfurter Oper hätte das Stück besser im finnischen Original singen lassen sollen und damit auch die falschen Silbenbetonungen beim Gesang vermieden.

    So sehr Aulis Sallinen sein kompositorisches Handwerk an Arnold Schönberg und Alban Berg geschult hat, so überdeutlich saugt er seine musikalische Substanz aus dem späten 19. Jahrhundert und der Jahrhundertwende.
    Im düsteren Raunen, mit dem Chor und Pauken unterlegt sind, klingt Richard Wagners "Rheingold"-Vorspiel nach, in der Feuersbrunst am Ende taucht es wie in der "Götterdämmerung" wieder auf. Die Rhythmen des Schmiedemotivs im "Ring" schlagen im "Kullervo" durch, wenn der finstere Held über die Waffen seiner Rache grübelt. Aber auch die Intervalle von Richard Straussens Agamemnon-Ruf der Elektra scheut sich Sallinen nicht zu kopieren, was bei ihm aber kein augenzwinkerndes Zitat ist, sondern die epigonale Vereinnahmung eines bewährten Effekts. Wie sein Landsmann Jean Sibelius, aber auch der Norweger Edvard Grieg und der Tscheche Leos Janacek tradiertes Volksliedgut ihrem Schaffen eingewoben haben, so scheinen auch bei Sallinen Elemente der finnischen Musikfolklore auf, was den besonderen Reiz seiner Arbeit ausmacht. Der stilistische Bruch im Zentrum der Oper wirkt dadurch aber umso schmerzhafter, zumal er weder inhaltlich noch musikalisch auch nur ansatzweise begründet ist. Ein Blinder Sänger erscheint in Kullervos Traum und singt ihm das Lied von der "Schändung der Schwester" - in Form einer Pop-Ballade.

    Dieser Auftritt eines Michael Jackson-Verschnitts war der Tiefpunkt der Frankfurter "Kullervo"-Premiere. Regisseur Christof Nel konnte hier nichts retten. Aus dem rabenschwarzen Trivialdrama insgesamt hat er zumindest ein paar intensive Bilder beklemmender Familien- und Provinzverhältnisse von heute machen können. Im verkohlten Gerippe eines Mehrfamilienhauses belauern sich die Protagonisten gegenseitig. Ashley Holland sang einen ordentlichen Kullervo, herausragend Heidi Brunner als Kullervos Mutter. Das Orchester unter dem Dirigenten Hans Drewanz bot alle seine Kunst auf, um dieser Oper Leben einzuhauchen. Aber wenn zur Mutterliebe die Flöte säuselt, zum Weinen die Klarinetten klagen, zur Sehnsucht die Celli schwelgen und das Schicksal mit Paukenschlägen auftritt, dann kann auch ein gutes Orchester nicht mehr bieten als triviale Filmmusik.