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"Er allein hat nicht die Statur eine Partei zu gründen"

Thilo Sarrazins kontroversen Thesen zur Integration von Migranten haben hohe Wellen geschlagen. Viele Beobachter meinen, er könnte eine erfolgreiche Partei gründen. Über diese Stimmung in Deutschland spricht der Psychologe Stephan Grünewald vom Rheingold-Institut in Köln.

Stephan Grünewald im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 08.09.2010
    Tobias Armbrüster: Am Telefon bin ich jetzt verbunden mit dem Meinungsforscher Stephan Grünewald vom Rheingold-Institut in Köln. Schönen guten Morgen, Herr Grünewald.

    Stephan Grünewald: Guten Morgen, Herr Armbrüster.

    Armbrüster: Herr Grünewald, wenn wir jetzt nur mal auf die eher zornigen E-Mails, auf die zornigen Meinungsäußerungen zu sprechen kommen, für wie bedeutend halten Sie diese Stimmung, die sich da äußert?

    Grünewald: Es klingt in dieser Stimmung an, dass eigentlich noch so eine Art Metathema mitverhandelt wird, was den Leuten sehr bedeutsam ist. Es geht, glaube ich, um die Frage: Was ist eigentlich die deutsche Kultur, was können wir zulassen, was müssen wir abweisen. In der ganzen Debatte geht es nicht nur um Muslime, sondern es geht um die eigene Identität. Das ist das, was die Leute innerviert, weil das eine Frage in der globalen Welt ist, die immer wieder hochpopt. Allerdings wird die Frage in sehr verkürzter Manier in der Debatte behandelt.

    Armbrüster: Haben da die deutschen Politiker irgendwas verpasst in den letzten Jahren?

    Grünewald: Die deutschen Politiker haben sicherlich nicht im Blick gehabt, wie stark in einer globalen Welt der Wunsch ist nach klaren Identitäten. Das greift Herr Sarrazin auf, allerdings in eher der Logik eines Gegenbildes. Er zeichnet ja drastisch überspitzt einen muslimischen Kopftuchstaat, in dem die Menschen vom Muezzin geweckt werden. Das ist eine Negativvision. Das weckt so das Gefühl, so wollen wir nicht leben. Aber die eigentliche Frage, wie wir leben wollen, die wird nicht behandelt und die ist obsolet.

    Armbrüster: Reden wir denn, wenn wir über diese allgemeine Stimmung sprechen, über breite Bevölkerungsschichten, bei denen sich so was kundtut, oder ist das ein ganz besonderes Segment unserer Gesellschaft?

    Grünewald: Nein. Die Debatte erfasst eigentlich im Moment alle und die psychologisch interessante Frage ist ja: Wieso hält sich diese Debatte so unendlich lange. Und wenn man mal analysiert, was in dieser Debatte passiert, dann spürt man, dass letztendlich alle einen psychologischen Gewinn aus dieser Debatte ziehen.

    Wenn ich das mal kurz aufrollen darf? – Die Sarrazin-Gegner, die beziehen jetzt ihre Identität durch die Abgrenzung von allem, was rassistisch, fremdenfeindlich ist. Sie entlarven Sarrazin als Rassisten und positionieren sich als geläuterte Deutsche, die aus der Vergangenheit gelernt haben. Das heißt, hier wird auf der einen Seite ein Kampf für eine moralische Verantwortung geführt, und daraus beziehen jetzt die Sarrazin-Gegner ihre Identität.

    Bei den Befürwortern ist es etwas anders gelagert. Sie kämpfen nicht für moralische Verantwortung, sondern sie kämpfen für Gedankenfreiheit. Sie haben das Gefühl, sich von den Fesseln der politischen Correctness zu emanzipieren, sie erleben sich als aufrechte, als liberale Demokraten und sie haben wirklich das Gefühl, eine Integrationsleistung zu vollbringen, weil sie integrieren das scheinbar tabuisierte. Das heißt, beide beziehen aus der Debatte eine eigene Identität, als Kämpfer für die Gedankenfreiheit oder als moralisch verantwortungsvolle.

    Armbrüster: Das heißt aber auch, dass wir diese Debatte wahrscheinlich noch einige Zeit weiterverfolgen können?

    Grünewald: Die Debatte wird weiterverfolgt. Diese Chancen, diese Potenziale, die in der Debatte drin sind, sind aber, glaube ich, noch überhaupt nicht genutzt worden. Gerade diese Verkürzung, die wir erleben, jetzt auf statistische Fragen, auf Gene, die wird der eigentlichen Kulturfrage nicht gerecht. Wenn wir davon ausgehen, die Unterschiede, die die Menschen zum Teil beunruhigen, dass wir wirklich einen hohen Anteil an Muslimen, an Türken in Deutschland haben, diese Unterschiede sind ja kulturbedingt. Das heißt, wir müssen uns damit auseinandersetzen: Was ist unsere Kultur, welche Spielregeln sind in unserem Gemeinwesen wichtig. Diese Auseinandersetzung erfolgt aber nicht, wenn man das auf Gene reduziert. Damit wird man zwar dem Wunsch der Menschen gerecht, Unterschiede irgendwie fassbar zu machen, aber das sind ganz banale Erklärungskonstruktionen, Gene oder Rasse, die eigentlich mehr verdecken als sie erklären.

    Armbrüster: Hätte denn Ihrer Meinung nach Thilo Sarrazin Chancen mit einer eigenen Partei?

    Grünewald: Ja und nein. Die demoskopischen Werte werden natürlich hoffnungslos, zum Teil hoffnungsvoll auch überschätzt. Man merkt Sarrazin, glaube ich, eine gewisse Hilflosigkeit in der Argumentation an. Darum springt man ihm zur Seite. Diese hohen Werte sind auch Ausdruck, dass man eigentlich froh ist, dass da was in Gang gekommen ist. Aber er alleine hat nicht die Statur, eine Partei zu führen.

    Armbrüster: Wie sollten denn die Parteien stattdessen auf das Ganze reagieren?

    Grünewald: Die große Gefahr ist ja, dass jetzt diese Debatte nach einigen Tagen wieder langsam verpufft, ohne gravierende Änderungen. Sie hat sich dann in den Scheingefechten erschöpft. Man sieht sich dann als Kämpfer für die Gedankenfreiheit oder für die moralische Verantwortung. Eigentlich ist das ein Langfristthema, die Frage, was ist die Zielrichtung unserer Gesellschaft, wofür stehen wir ein. Im Moment ploppen ja andere Debatten an über die Verlängerung der Atomkraft. Da war eigentlich in unseren Analysen spürbar, dass die Deutschen im letzten Jahr das Gefühl haben, wir sind, gerade weil wir das Land auch der Dichter und Querdenker sind, Vorreiter in der Entwicklung neuer Technologien. Hier raus kann man natürlich auch eine Identität beziehen. Das sind natürlich Themen, die jetzt wieder abgebremst werden, aber die Kernfrage bleibt: was ist das Bild unseres Lebens, wie erziehen wir unsere Kinder, was sind die Bildungsschwerpunkte, die wir in der deutschen Gesellschaft implementieren wollen. Diese Fragen ploppen leider nur ab und zu am Rande auf und versinken dann wieder.

    Armbrüster: Und da fühlen sich viele Deutsche verunsichert?

    Grünewald: Da fühlen sich viele Leute verunsichert, weil sie eigentlich das Gefühl haben, so was wie eine geschichtliche Läuterung bereits erlebt zu haben, seit der WM im eigenen Lande, wo große Ängste da waren, wenn die Begeisterung mit uns durchgeht, die Leidenschaft uns übermannt, dass dann wieder das fiese Deutschland erwacht. Aber wir haben damals das Kunststück fertig gebracht, charmante Deutsche zu sein, wunderbare Gastgeber, dennoch aber auch patriotisch und Fahne schwingend, und dieses neue deutsche Selbstbewusstsein, das will mit Inhalten, mit klaren Leitlinien gefüllt werden.

    Armbrüster: Bei uns hier heute Morgen im Deutschlandfunk der Meinungsforscher Stephan Grünewald, Geschäftsführer des Rheingold-Instituts in Köln. Vielen Dank, Herr Grünewald, für das Gespräch.

    Armbrüster: Ich habe zu danken, Herr Armbrüster.


    Hinweis

    Das Buch des Bundesbankvorstands Thilo Sarrazin hat die Diskussion um das Thema Integration neu entfacht.
    Themenportal Integrationsdebatte