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Er forderte Vermenschlichung der sozialen Beziehungen durch Herzensgüte

In Deutschland gilt Charles Dickens als ein humoristischer Volksschriftsteller mit sozialkritischen Ansätzen. Am 7. Februar 2012 ist der 200. Geburtstag von Charles Dickens. Aus diesem Anlass hat der emeritierte Literaturwissenschaftler Hans-Dieter Gelfert seine wichtigsten Stationen zusammengetragen.

Von Joachim Hildebrandt | 06.02.2012
    Der jüngste Bruder von Charles Dickens, Augustus, erhielt schon bald den Kosenamen Moses, nach einer Figur in Oliver Goldsmith Roman Der Pfarrer von Wakefield. Als das Kind zu reden anfing, sprach es diesen Namen als Boz aus. Von diesem Moment an war das Pseudonym entstanden, unter dem Dickens die ersten literarischen Arbeiten veröffentlichte, die ihn weltberühmt machten. Er nannte sich selber ironisch "Der Unnachahmliche", seitdem ihm sein erster Schullehrer, William Giles, aus Bewunderung eine silberne Schnupftabakdose mit der Gravur The inimitable Boz (der unnachahmliche Boz) geschenkt hat. Zu dieser Zeit waren lediglich die Skizzen von Boz auf dem Markt.

    Hans-Dieter Gelfert geht ausführlich auf die Kindheit und Jugend von Dickens ein, seinen ersten Ruhm und die großen Erfolge. Besonders betont Gelfert in seiner Biografie, dass Dickens seine traumatischen Erfahrungen als zwölfjähriger Hilfsarbeiter dichterisch verarbeitete. Der Roman David Copperfield ist in der Ich-Form gehalten. Das folgende Fragment daraus liefert uns den biografischen Schlüssel zur eigenen Kindheit und manchen späteren Verhaltensweisen des englischen Erzählers. Als symbolische Kulisse taucht dieser szenische Aufbau wiederholt in seinen Romanen auf.

    Es ist mir unbegreiflich, wie man mich in so zartem Alter so leichthin fallen lassen konnte. Es ist mir unbegreiflich, dass, nachdem ich seit unserer Ankunft in London bereits zu einem Packesel geworden war, niemand genug Mitgefühl mit mir aufbrachte - mit einem Kinde von einzigartigen Gaben, aufgeweckt, lebhaft, zart und verletzlich an Körper und Geist - um auch nur vorzuschlagen, mich auf eine gewöhnliche Schule zu schicken. Die Mittel dafür hätten sich finden lassen.

    Tatsächlich konnten seine Eltern das Schulgeld nicht mehr für ihn aufbringen. Sie ergriffen den rettenden Strohhalm, den ihnen ein Verwandter anbot, und schickten den zwölfjährigen Charles in dessen Fabrik, wo er für einen Wochenlohn von sechs oder sieben Shilling Etiketten auf Schuhwichsflaschen klebte. Dickens empfand das als außergewöhnliche Erniedrigung.

    Charles Dickens lebte in der viktorianischen Zeit. Von Demokratie war noch keine Rede. Kinderarbeit war üblich, auch Frauenarbeit in Bergwerken. Aber es gab schon Proteste der Arbeiter, die in den Märschen der Blanketeers 1819 zum Ausdruck kamen, benannt nach den blankets, den Wolldecken, welche die Arbeiter vor den Polizeiknüppeln schützen sollten.

    Dickens begann seine "Karriere" als zweiundzwanzigjähriger Parlamentsreporter mit humoristisch-kritischen Charakterbildern und Episoden, die er in Londoner Zeitungen veröffentlichte. Und hier verwendete er zum ersten Mal das Pseudonym Boz. Gleich zu Beginn wird sein Talent deutlich: Der junge Dichter versteht es meisterhaft, menschliche Schwächen und gesellschaftliche Übel zu entlarven. Übel, die aus der Sicht des Autors den englischen Alltag im Leben der Großstadt um 1830 kennzeichneten. Da sind bereits die Kunstmittel zu erkennen, die später Dickens Werke auszeichnen sollten. Zum Beispiel weisen die Namen der Figuren auf eine jeweils charakteristische Eigenart hin. Wenn jemand Nicodemus Dumps, Ebenezer Scrooge, Watkins Tottle heißt, dann entsteht in der Fantasie des Lesers auf schwer zu erklärende Weise eine unverwechselbare Gestalt, die wir nicht mehr so leicht vergessen können. Ein weiteres Merkmal ist die Technik der Anhäufung von Details beim Beschreiben von Menschen oder einer Landschaft. Eine Person wird meist steckbriefartig in die Handlung eingeführt und das Erscheinungsbild der Figur durch ähnliche Details intensiviert, bis eine atmosphärische Verdichtung im Hintergrund entsteht, in der die Innenwelt einer Figur oder eines Ereignisses widergespiegelt wird. Ein Beispiel dazu ist die Erzählung Die Tuggses in Ramsgate:

    Vor Zeiten lebte in einer engen Straße auf der Surrey-Seite des Flusses, nur drei Minuten Fußweg von der alten London Bridge, Mr. Joseph Tuggs - ein kleiner Mann mit dunklem Teint, glänzendem Haar, zwinkernden Augen, kurzen Beinen und einem Körper von beträchtlicher Dicke. Die Figur der liebenswürdigen Mrs. Tuggs war entschieden gemütlich; und auch die Gestalt ihrer einzigen Tochter, der wohlerzogenen Miss Charlotte Tuggs, reifte sichtlich zu jener luxuriösen Rundlichkeit heran, die in früheren Jahren das Auge von Mr. Tuggs bezauberte und gefangen nahm. Mr. Simon Tuggs, sein einziger Sohn, war an Gestalt ebenso verschieden vom Rest der Familie, wie er sich in seiner geistigen Konstitution von ihr unterschied. Die Länge seines gedankenvollen Gesichts und seine zur Schwäche neigenden interessanten Beine sprachen unmissverständlich für einen großen Geist und eine romantische Gemütsverfassung.

    Hier werden Leute beschrieben, die durch eine Erbschaft reich geworden sind, sich nun für Angehörige der oberen Gesellschaftsschichten halten und in das vornehme Seebad Ramsgate reisen. Die Satire besteht darin, dass die im "Rang" sich Aufspielenden von richtigen Hochstaplern betrogen werden und am Ende nicht reicher als zuvor sind.

    Deutlich wird in Hans-Dieter Gelferts Biografie, dass in den Romanen von Dickens die Hauptfiguren von Anfang an in einem ererbten Schicksalsnetz gefangen sind, aus dem sie mühsam versuchen, sich zu befreien. Sie fühlen sich einer Fremdbestimmung ausgesetzt, die sie überwinden wollen, und häufig gibt es zwei weitere Symbole, die in einem Grundmuster verflochten sind: das Gefängnis und das Wasser. Dickens zeigt sie in diesem Zusammenhang oft als innerlich verhärtete oder als haltlos treibende Menschen. Dann gibt es noch den moralisch gefestigten Menschen bei Dickens, der die beiden Extrempole miteinander verbindet. Der hartherzige Geizhals Scrooge zum Beispiel im Weihnachtslied in Prosa lässt sich durch Geistererscheinungen in der Nacht vor Weihnachten zu einer inneren Umkehr bewegen und gibt seine Panzerung gegenüber menschlichem Leid schließlich auf.

    Auch der Schauerroman ist bereits bei Dickens angelegt, wie er als Gothic novel im 18. Jahrhundert aufkam. - Die Bücher von Dickens sind voller Komik und skurrilem Humor, sie bieten bunte Serien von Abenteuern. Aber immer schwingt bei Dickens auch die Sozialkritik an den Missständen seiner Zeit mit, wie Gelfert deutlich macht. Er kritisiert das Armengesetz von 1834 sowie das Erziehungssystem in den Schulen. Gleichzeitig bekennt er sich zum viktorianischen Wertemodell und ist ein Teil des Establishments, wenn er ruhelos dem bestmöglichen finanziellen Gewinn für seine Bücher hinterherjagt.
    Hans-Dieter Gelfert

    "Während ihn die inhumanen Arbeitsbedingungen in den Fabriken moralisch empörten, waren ihm die ökonomischen Theorien, die gesellschaftliches Handeln nach Gesichtspunkten der Effizienz zu quantifizieren versuchten, kulturell zuwider. Er sah darin wie Marx eine Entfremdung des Menschen, nur mit dem Unterschied, dass er nicht bereit war, das System gegen sich selbst zu kehren und die politische Ökonomie als ein Instrument zur Humanisierung der Gesellschaft einzusetzen. Was er als Mittel gegen die Entfremdung forderte, war nicht die Veränderung der Produktionsverhältnisse, sondern die Vermenschlichung der sozialen Beziehungen durch Herzensgüte und menschliche Wärme."

    Die Biografie des Literaturwissenschaftlers Hans-Dieter Gelfert ist für den Fachmann wie auch für den interessierten Laien ein großer Gewinn. In den übersichtlich angeordneten Kapiteln kann er sich das heraussuchen, was ihn am meisten von dem humorvollen und empfindsamen Erzähler der Weltliteratur gefangen nimmt. Das Gefühl der Entfremdung, das ein Ansporn für das Schaffen von Dickens war, ist auch ein Lebensgefühl der Moderne geworden. Es führt Dickens weit aus der Welt des 19. Jahrhunderts hinaus bis in unsere Gegenwart.

    Hans-Dieter Gelfert
    Charles Dickens, "Der Unnachahmliche"
    C.H. Beck München, 2011, 375 Seiten mit 70 Abbildungen, Euro 29,95