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"Er ist ein sogenanntes kleines Licht"

Der Leiter der Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen, Kurt Schrimm, wundert sich über die öffentliche Aufmerksamkeit, die dem mutmaßlichen NS-Kriegsverbrecher John Demjanjuk zuteil wird. Demjanjuk sei ein "kleines Licht". Er habe als gebürtiger Ukrainer am Ende der Befehlskette im KZ Sobibor gestanden. Gleichwohl rechnet Schrimm mit weiteren NS-Ermittlungen.

Kurt Schrimm im Gespräch mit Jasper Barenberg | 12.05.2009
    Jasper Barenberg: An der Ermordung von mindestens 29.000 Juden soll John Demjanjuk mitgewirkt haben, 1942 als Aufseher im Vernichtungslager Sobibor im von Deutschland besetzten Polen. Heute haben die USA den 89-Jährigen an Deutschland ausgeliefert. An Bord einer Sondermaschine ist er heute Vormittag auf dem Flughafen München gelandet. Der Mann, der sich heute John Demjanjuk nennt, er wurde am 3. April 1920 unter dem Namen Iwan Nikolajevic Demjanjuk in einem Dorf in der Ukraine geboren, wurde im Zweiten Weltkrieg Soldat der Roten Armee, 1942 nahm ihn die Wehrmacht gefangen, seine Taten soll er als sogenannter Hilfswilliger der SS begangen haben. Nach dem Krieg wanderte er in die USA aus, arbeitete beim Autobauer Ford und erhielt die US-Staatsbürgerschaft. Dort hat ihn aber in den 80er-Jahren die eigene Vergangenheit eingeholt. Zum Lagerpersonal im Vernichtungslager Sobibor gehörten etwa 30 SS-Männer, als Wach- und Sicherheitspersonal wurden allerdings auch - wir haben es gerade gehört - etwa 100 sogenannte Trawniki eingesetzt, Hilfswillige der SS. Zu ihnen soll eben auch John Demjanjuk gehört haben, und dazu hat der Historiker Wolfgang Benz heute Morgen hier im Deutschlandfunk erläutert:

    Wolfgang Benz: "Sie hatten die schmutzigste Aufgabe überhaupt, die im Vernichtungslager Ankommenden in die Gaskammern zu treiben, sie vorher ihrer Kleider und ihrer Habe zu berauben, dann die Gasmaschinerie anzustellen, also die niedrigsten Henkersdienste. Von politischer Verantwortung kann da gar keine Rede sein, wohl aber von Beihilfe zum Mord und von Mord selbst, denn die wenigen Überlebenden der Vernichtungslager beschreiben diese Trawniki-Männer - meist wurden sie auch Ukrainer pauschal genannt - als ganz erheblich brutal, als sadistisch, als bösartig."

    Barenberg: Der Historiker Wolfgang Benz heute Morgen hier im Deutschlandfunk. - Informationen über mögliche NS-Täter trägt seit Jahrzehnten die sogenannte Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg zusammen. Dort werden Vorermittlungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen gebündelt und dann an die jeweils zuständige Staatsanwaltschaft abgegeben - so auch im Fall Demjanjuk. Vor der Sendung hatte ich Gelegenheit zu einem Gespräch mit dem Leiter der Zentralstelle in Ludwigsburg. Ich habe Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm gefragt, ob es sich bei dem Verfahren gegen Demjanjuk um eines der letzten großen Verfahren in Deutschland handeln wird?

    Kurt Schrimm: Das lässt sich sehr schwer beurteilen. Wenn Sie mich vor Jahresfrist gefragt hätten nach einem Verfahren gegen Demjanjuk, dann hätte ich Ihnen sagen müssen, ich weiß nicht, was daraus wird. Dass das Verfahren eine solche Bedeutung erlangt, das hat sich auch erst im Laufe der Ermittlungen herausgestellt. Tatsache ist, dass wir hier in Ludwigsburg weiter ermitteln. Wir sind zwei weiteren Männern auf der Spur, die durchaus Parallelen zu Herrn Demjanjuk aufweisen. Ich weiß nicht, was aus diesen Verfahren werden wird, aber ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass es noch ein oder zwei weitere Verfahren geben wird.

    Barenberg: Ein oder zwei weitere Verfahren, sagen Sie. Aber insgesamt geht die Zeit der Strafverfolgung von NS-Verbrechen in Deutschland seinem Ende zu?

    Schrimm: Das ist ganz selbstverständlich. Wir haben heute keinen Täter mehr oder mutmaßlichen Täter mehr, der jünger als 80 Jahre ist. Unsere Chancen verschlechtern sich natürlich Jahr für Jahr. Das ist ganz klar, das ist eine biologische Frage. Die Chance einer Verurteilung - das muss man ganz offen sagen -, die tendiert gegen null. Dennoch werden wir weiter ermitteln. Wir haben noch einiges vor in diesem Jahr und auch möglicherweise in den nächsten Jahren. Die Tatsache, dass die Chancen sinken, heißt für uns nicht, dass wir unsere Ermittlungen einstellen.

    Barenberg: In welche Richtung führen denn Ihre Ermittlungen?

    Schrimm: Das ist sehr unterschiedlich. Wir arbeiten sehr viel in Archiven, beispielsweise in Archiven der ehemaligen Sowjetunion. Hier suchen wir nach Akten, nach Prozessakten aus den 40er-Jahren, als damaligen Kriegsgefangenen oder Kollaborateuren der Prozess gemacht wurde, und aus diesen Akten erhoffen wir uns Informationen für unsere eigenen Ermittlungen, oder wir ermitteln beispielsweise in Südamerika. Nachdem wir erkannt haben, dass viele NS-Verbrecher mit einem einheitlichen Ausweisdokument dort eingereist sind, suchen wir in den Einwanderungsbehörden oder Einbürgerungsbehörden nach solchen Dokumenten, um dann zu fragen, was steckt hinter dem Mann, der mit einem solchen Dokument eingereist ist.

    Barenberg: Erhalten Sie auch noch aus anderen Quellen Hinweise heutzutage auf mögliche Täter?

    Schrimm: Das ist ganz selten. Das muss als Ausnahme bezeichnet werden. Deswegen haben wir unsere Ermittlungen auch umgestellt. Früher wurde hier nicht systematisch ermittelt, sondern wie bei jeder Staatsanwaltschaft. Das heißt, wenn auf irgendeine Art und Weise ein Anfangsverdacht an uns herangetragen wurde, sei es durch gezielte Anzeige, sei es durch eine Zeugenaussage, oder sei es auch durch eine Zeitungsmeldung, dann wurde konkret in diesem Fall ermittelt. Das ist heute ganz selten der Fall und deswegen, wie ich Ihnen sagte, suchen wir heute systematisch aus eigenem Antrieb in den Archiven nach.

    Barenberg: Wie schwierig ist es denn, heutzutage solche Ermittlungsverfahren, solche Vorermittlungen, Recherchen gegen mutmaßliche NS-Täter überhaupt noch durchzuführen?

    Schrimm: Es ist relativ einfach noch, neue Sachverhalte zu finden und auch Hinweise auf Tatverdächtige zu bekommen, aber es ist dann sehr, sehr schwierig und man braucht große Routine und natürlich auch das berühmte Quäntchen Glück, um dann die Person, die man dann irgendwann namentlich ermittelt, dann auch noch zu finden, und dann kommt die größte Schwierigkeit: Das ist die Beweisfrage. Sie wissen, wir leben in einem Staat, in dem der Staatsanwalt dem Beschuldigten die Schuld nachweisen muss und nicht umgekehrt, und das ist natürlich nach 60 Jahren sehr, sehr schwierig.

    Barenberg: Warum ist das so? Warum ist das schwierig?

    Schrimm: Weil oftmals nur Zeugenaussagen vorliegen von Zeugen aus dem Ausland, die 60 Jahre zurückliegen. Selbst wenn der Name des Zeugen bekannt ist, der damals irgendwo in der Ukraine oder in Moskau aussagte, diesen Zeugen heute wiederzufinden, das ist ganz schwierig.

    Barenberg: Im Fall Demjanjuk beispielsweise ist die Rede davon, dass es überhaupt nur einen einzigen Überlebenden und möglichen Zeugen aus dem Lager Sobibor, um das es geht, gibt. Ist das eine typische Situation?

    Schrimm: Typisch würde ich nicht sagen. Es gibt immer wieder andere Fälle, die hiervon abweichen. Ein solches Verfahren, das ich in Stuttgart geführt habe, dort konnten 450 Zeugen vernommen werden.

    Barenberg: Sie sagen, Sie verfolgen mit Nachdruck noch die Informationen, die Sie bekommen, die Sie haben, die Sie recherchieren. Gilt das, weil es sich bei Ihnen ja um die Zentralstelle handelt - Sie geben die Fälle dann in der Regel an örtliche Staatsanwaltschaften ab, insgesamt für die Strafverfolgungsbehörden in Deutschland, dass dort noch mit großem Nachdruck recherchiert und verfolgt wird?

    Schrimm: Davon gehe ich aus. Ich kenne natürlich nicht alle Staatsanwaltschaften, aber ich kenne sehr viele Schwerpunktstaatsanwaltschaften wie beispielsweise in Dortmund, wie in Stuttgart, wie auch in München, wo sehr, sehr erfahrene Kollegen sitzen. Ich weiß, in einigen Landeskriminalämtern - so beispielsweise in Baden-Württemberg - gibt es Ermittlungsgruppen, vielköpfige Ermittlungsgruppen, die sich ausschließlich mit nationalsozialistischen Gewaltverbrechen befassen, und ich bin der Auffassung, dass das nach wie vor mit gebührendem Nachdruck verfolgt wird, wobei ich wie gesagt natürlich nicht für alle Kollegen sprechen kann.

    Barenberg: Manche Beobachter werfen nicht nur der Politik, sondern auch der Justiz in Deutschland vor, zumindest wenn man die vergangenen Jahrzehnte insgesamt in den Blick nimmt, dass es große Versäumnisse gegeben hat bei der juristischen Aufarbeitung. Wo haben diese Kritiker Recht?

    Schrimm: Es wurden ganz objektiv Fehler begangen. Es wurde anfänglich nicht mit dem genügenden erforderlichen Nachdruck ermittelt. Das ist ganz klar. Es wurden Versäumnisse bekannt, die zurecht getadelt werden. Ich wehre mich allerdings dagegen, dahinter Absicht oder bösen Willen ausschließlich zu suchen. Es ist eine einmalige Angelegenheit in der modernen Geschichte, dass ein Staat seine eigenen Versäumnisse oder eigenen Verbrechen aufklärt. Es war ein Novum in den 50er-Jahren. Es wurden anfangs Fehler gemacht, zweifellos, aber wie gesagt, ich wehre mich dagegen, da Absicht oder Böswilligkeit zu unterstellen.

    Barenberg: Zum Schluss, Herr Schrimm. Wundert es Sie, welche Bedeutung, welche Aufmerksamkeit der Fall Demjanjuk in der Öffentlichkeit erhält?

    Schrimm: Ja, da bin ich schon etwas erstaunt - das muss ich ganz offen sagen -, denn Demjanjuk ist natürlich verdächtig, an schweren, sehr schweren Verbrechen beteiligt gewesen zu sein, aber es führt auch kein Weg daran vorbei: Er steht schließlich am unteren Ende der Befehlskette, er ist ein sogenanntes kleines Licht. Deswegen wundert mich die Aufmerksamkeit an und für sich schon.

    Barenberg: Im Deutschlandfunk Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm, Leiter der sogenannten Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg zur Aufklärung von NS-Verbrechen.