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"Er ist gebürtiger Sachse und lebt als Marxist in Preußen"

In einzelnen unverbundenen Handlungssträngen erzählt der Lyriker Karl Mickel Episoden aus dem Leben seiner Helden: Jede der drei Personen ist selbst Zentrum eines beweglichen Kreises. Wo treffen sie zusammen, die Dreie? Es ist ein "wunderschön" zu lesendes Buch, das sich mit der deutschen Geschichte auseinandersetzt: vor allen Dingen der sechziger, siebziger, achtziger Jahre.

Von Katrin Hillgruber | 16.08.2006
    "Erzählt wird die Geschichte dreier Männer; ihre Lebenswege streben auseinander, dennoch bleiben sie Freund. Der eine heißt Bär, der andere Günter Hammer, der dritte Eckart Immanuel Lachmund. Merkwürdige Frauen und rührende Mädchengestalten streifen und kreuzen ihre Bahnen oder schwenken auf sie ein. Jede dieser Personen ist selbst wieder Zentrum eines beweglichen Kreises. Wo treffen sie zusammen, die Dreie? Dort, wo der Luftkreis zu stocken scheint, im Auge des Taifuns, am Ort, da die Wirbelstürme untersucht werden."

    Drei Freunde sollen sie nicht nur sein, sondern bleiben es auch über 600 Seiten lang: Das ist eine der wenigen eindeutigen Aussagen, die man über "Lachmunds Freunde" treffen kann, den einzigen Roman des Lyrikers Karl Mickel. Den an Jean Paul gerichteten Vorwurf, er dichte wie ein streunender Hund, lässt sich auch auf dessen Bewunderer Mickel anwenden. Das Motto des Romans entleiht er Jean Pauls "Titan": "Ja, wir haben keine Gegenwart, und die Vergangenheit muss ohne sie die Zukunft gebären."

    In der erzählten Gegenwart des 17. Juni 1953 jedoch beginnt die Geschichte dreier junger Dresdner, die allerhand politische Schieflagen zu überstehen haben. Alle drei sind Spiegelungen des Autoren-Ichs: Der Abiturient Bär, der sich in seinem besten Anzug in die Hauptstadt aufmacht und dort in eine Aufstandssituation gerät, die er naiv schlichten will und dabei Bewusstsein und Garderobe verliert; der wie Bär kunst- und musiktheoretisch im Höchstmaß versierte Boxer Eckart Immanuel Lachmund; sowie der Student Günter Amboß, der sich in "Hammer" umbenennt. Eine erfrischende Kompromisslosigkeit ist ihnen zu eigen.

    "Er zählte 20 Jahre. Alt und Jung galten ihm als stockverschieden wie Mann und Weib; Übergänge lagen außerhalb seines Wissens, Mittellagen außerhalb seines Empfindens."

    In einzelnen unverbundenen Handlungssträngen erzählt Mickel Episoden aus dem Leben seiner Helden, vor allem wenn besagte "merkwürdige Frauen und rührende Mädchengestalten" deren Wege kreuzen. Das beginnt mit Bär und der großgewachsenen Ingrid aus dem FDJ-"Aufklärungslokal". Praxisbezogen erklärt er ihr Mozarts "Don Giovanni" als Abfolge weiblicher Orgasmen. Der zweite Teil des Romans verlagert sich in ein fiktives Königreich Sachsen, eine von Walter Ulbricht genehmigte Enklave. Lachmund bekleidet nun die Stelle eines Hofrats, was auch eine "Clubkarte für das Gynäkeum" beinhaltet. Männerträume dieser Art wertet der Herausgeber Klaus Völker als "subversive Energie der Sexualität":

    "Er hatte eine Sympathie oder einen Hang zu sogenannten Kalauern. Und über die Qualität von Kalauern kann man immer lange streiten. Der eine trifft hundertprozentig und der andere ist dann ein bisschen nichts. Aber das reizte ihn immer, solche Kalauer zwischendurch zu notieren."

    Mehr als fünf Gedichte pro Jahr bringe er nicht zu Papier, hatte der lyrische Klassizist Mickel einmal bekannt. In der Prosa kannte er diese Selbstbeschränkung nicht. Sicherlich auch deshalb, weil ihm bewusst war, dass seine anarchisch-sächsische Freiheitsphantasie keine Chance auf Veröffentlichung in der DDR hatte. Ab 1965 sammelte er Episoden, Lesefrüchte und Aperçus für sein großes Projekt. 1991 erschien "Lachmunds Freunde I" innerhalb Mickels Werkausgabe zu Lebzeiten. Einzelne Kapitel aus dem Fortsetzungsband konnte er noch in Zeitschriften wie "Sinn und Form" publizieren, doch über das unvollendete fünfte Kapitel kam er nicht mehr hinaus. Am 20. Juni 2000 schloss sich für Karl Mickel mit knapp 65 Jahren allzu früh der "unersättliche Kreislauf Leichen und Laich", von dem sein berühmtestes Gedicht "Der See" handelt.

    "Wahrscheinlich wird L II nicht fertig werden. Darum keine Panik. Aber auch keine Nachlässigkeit", heißt es in den Notaten "Milleniums Ende", die den Roman ergänzen. Diese Erkenntnis angesichts der fortgeschrittenen Krankheit veranlasste ihn, den befreundeten Kollegen Klaus Völker mit der Herausgabe des Lachmund-Fragments zu beauftragen. Der damalige Rektor der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch meint heute:

    "Gemessen an großen Romanschreibern des 20. Jahrhunderts ist Mickel sicher erst mal ein Lyriker. Aber trotzdem ist das ein wichtiges und wunderschön zu lesendes Buch, was deutsche Geschichte angeht, also vor allen Dingen der sechziger, siebziger, achtziger Jahre. Und der Roman endet halt mit dem Ende der DDR."

    Karl Mickel, Arbeitersohn aus Dresden, studierte in Berlin Volkswirtschaftsplanung und Wirtschaftsgeschichte bei seinem Lehrmeister Hans Mottek. Ihm setzt er ebenso wie dem Philosophen Jürgen Kuczynski ein diskursives Denkmal. Dabei geht es um das Grundproblem aller Ideologien:

    "Das Menschenwerk fügt sich den Formeln nicht. Es sträubt sich mit Händen und Füßen. Auf eine elegante Lösung dürfen wir nicht hoffen."

    Bis 1971 war Mickel Assistent und Dozent an der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst, später Redakteur der Zeitschrift "Junge Kunst" und Dramaturg am Berliner Ensemble. "Er ist gebürtiger Sachse und lebt als Marxist in Preußen" beschrieb Rainer Kirsch seinen Weggefährten aus der "Sächsischen Dichterschule". Sie belebte nicht zuletzt die Tradition des Göttinger Hainbunds neu. Diese geistigen Strömungen reflektiert auch der Roman. Gerade im zweiten Teil gleicht er einem Gedankenpanorama, das vielfältige Einblicke in Mickels poetische Werkstatt gewährt. Das aber kostet gehörig Zeit und Geduld: Bei dieser Lektüre kann man nicht Hammer, sondern nur Amboss sein. Klaus Völker zieht Parallelen zu Hermann Kants "Aula", dem DDR-Erfolgsroman schlechthin.

    "Das ist das Jahr, in dem der 19-jährige Bär nach Berlin kommt, genau zu dieser Zeit des 17. Juni. Das ist schon auch eine Geschichte der DDR, dieses "Lachmunds Freunde". Der im Westen erfolgreichste Roman, in der DDR sowieso, der diese Zeit relativ vergnüglich und oft sehr ärgerlich oberflächlich beschrieben hat, ist das Buch "Die Aula" von Hermann Kant. Und das sind ja auch Studenten in dem Alter, der Versuch, sich auseinanderzusetzen. Aber gleichzeitig, glaube ich, ist Kants Roman auch eine Drückebergerei, so lustig da vieles drin ist. So ein Buch schwebte Mickel überhaupt nicht vor, das ist eine Art Gegenentwurf gewesen. Und natürlich war unter den Verhältnissen und Gegebenheiten der DDR das als ständige Notatform möglich. Aber die zu publizieren, ist nicht möglich gewesen, weil er ja doch im Hintergrund eine DDR-Zeitgeschichte auch beschreibt. Und die kommen auch alle vor, von Ulbricht bis Lotte Ulbricht, und gleichzeitig sind es auch fiktive Figuren. Also man darf das nicht als 1:1 umsetzen, sondern das ist natürlich auf einem ganz anderen Level ein Roman und ein Versuch wirklich der Auseinandersetzung mit der geistigen und gesellschaftlichen Struktur und Befindlichkeit dieser Zeit und dieser Jahre. Und schön finde ich eben auch die Zeitsprünge, die möglich sind: Dass durchaus Figuren vorkommen, die eigentlich ins 18. Jahrhundert gehören und die gleichzeitig in der Gegenwart, also in dieser Zeit oder in unserer Zeit verankert sind. Und deswegen gibt es ja auch darin nicht die DDR, sondern den Versuch, ein Königreich Sachsen zu gründen."

    Kühnheit und Klassizität bildeten die Pole von Karl Mickels Autorschaft. Theoretisch außerordentlich versiert erarbeitete er sich die Überlieferung. Gerade die Utopisten des 18. Jahrhunderts ermöglichten ihm einen Höhenflug jenseits des "Zwergenstaats" DDR. Seine Orientierung an Goethe, Wieland und vor allem Friedrich Gottlieb Klopstock, dem Verfasser der "Deutschen Gelehrtenrepublik", verlieh seinen eigenen Arbeiten zuweilen etwas Sprödes, Gravitätisches. Ein großer Publikumsautor wurde er nie. Wie beurteilt Klaus Völker die Rezeptionslage?

    "Die Voraussetzung ist immer Interesse an der Sache. Literatur, die ein bisschen anspruchsvoller ist, setzt einige Bemühungen voraus. Und dann ist er mit einem viel direkteren Humor, das konnte er, also er hat wunderschön gelesen und seine Zuschauer immer mit den Sachen in Bann ziehen können und eher dann Streit vom Zaun gebrochen, der mit anderen Intellektuellen ausbrach über ästhetische Fragen oder politische Momente, wo man sich dann in schärfere Auseinandersetzungen begeben hat. Aber bei Lesungen hat ein Publikum, soweit ich das erlebt habe, immer einen großen Spaß gehabt an dem, was er machte. Also da war er doch, glaube ich, auch wirkungsbewusst und durchaus auch immer dem Leben zugewandt und ein sehr humorvoller Mensch. Das ist natürlich keine Schenkelklatscherei oder oberflächliche Art von Witzeleien, sondern das ist schon ein skurrilerer Humor."

    Klaus Völker hat die Herkulesaufgabe als Herausgeber von "Lachmunds Freunde" bravourös gemeistert. Allerdings fragt man sich, ob die vielen misogynen Altherrenwitze Mickels Nachruhm nicht beeinträchtigen. Doch er wollte ja unbedingt Ehrenbürger von Calau werden.