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"Er ist zu keinem Zeitpunkt ideologisch übergeschäumt"

Der Literatur-Redakteur des Deutschlandfunks, Hubert Winkel, ist der Meinung, dass Friedrich Christian Delius mit dem Georg-Büchner-Preis 2011 ausgezeichnet wurde, weil er "immer einen humanen, sanften, milden, abwägenden Ton" gefunden hat, auch wenn er direkt den Kapitalismus angegriffen habe.

Hubert Winkel im Gespräch mit Stefan Koldehoff | 18.05.2011
    Stefan Koldehoff: Es ist wohl die wichtigste Auszeichnung für Literatur, die in Deutschland vergeben wird, und das in diesem Jahr schon zum 60. Mal. Den Georg-Büchner-Preis der Akademie für Sprache und Dichtung 2011 erhält der 68 Jahre alte Schriftsteller Friedrich Christian Delius, dessen Vornamen der Betrieb seit Jahren vertraulich mit F. C. abkürzt. Und weil zu einem Preis immer eine Begründung gehört, sei sie an dieser Stelle auch zitiert: "Ein kritischer, findiger und erfinderischer Beobachter sei Delius", so heißt es, "der in seinen Romanen und Erzählungen die Geschichte der deutschen Bewusstseinslagen im 20. Jahrhundert erzählt." - Im Studio mein Kollege Hubert Winkels, Literaturredakteur des Deutschlandfunks. An ihn die Frage: Herr Winkels, so eine Begründung würde auch auf einen Soziologen zutreffen oder einen Historiker, zumal es an anderer Stelle auch um historische Tiefendimensionen oder um humane Sensibilität geht. Das alles sagt über die literarischen Qualitäten des Geehrten noch nicht allzu viel aus. Helfen Sie uns weiter bitte.

    Hubert Winkels: Ja, Sie sind auf der richtigen Spur, wenn Sie sagen, dass Chronist einer Zeit zu sein nicht ausreicht, um einen als Schriftsteller wirklich zu qualifizieren. Man muss aber erst mal sagen: Herzlichen Glückwunsch, Herr Delius, Sie sind eine respektable literarische öffentliche Person, der man seit fast 40 Jahren gerne folgt. Das sei hier mal vorausgeschickt.

    Wenn man aber fragt, wo ist der Literat im emphatischen Sinne, F. C. Delius, wird man sehr bald merken, dass er sich immer bemüht hat, nicht in der Rolle des politisch-historischen Berichterstatters und Erzählers zu verharren, sondern diesem einen literarischen Unterschliff zu geben. Diese Formulierung selber - da sträubt sich einem ja, glaube ich, schon so ein bisschen das Fell -, die soll auch schon andeuten, dass es ihm nicht wirklich immer gelungen ist.

    Das Problem ist eigentlich, dass er seine politischen Implikationen nicht aus dem erzählten Stoff und aus der Erzählhaltung und aus der Psychologie entwickelt hat, sondern man durch die Bank immer den Eindruck hat, er nimmt sich ein Thema, er hat auch eine Haltung zu diesem Thema, und dann setzt er Mittel ein, um seinem Vorhaben gerecht zu werden. Das tut er manchmal fast avantgardistisch. Bei dem Buch "Die Birnen zu Ribbeck", glaube ich, heißt es, über die quasi den Osten überrollenden Westler, ist es ein einzelner Satz, der fast, könnte man sagen, versifiziert ist über fast 100 Seiten, ein einziger, in schönen Perioden dahinschwingender Satz. Da merkt man, es ist jetzt ein Kunstwollen umgesetzt.

    Und bei verschiedenen anderen Techniken ist es auch so. Also man kann ihn nicht damit, finde ich, abtun, dass man sagt, das ist dieser sozusagen politische Bänkelsänger, den wir in den 60ern hervorgebracht haben - da gibt es ein paar davon wie Peter Schneider und so -, der literarisch nichts kann. Das ist nicht der Fall.

    Aber den Einwand würde ich machen: Seine Bemühen, als Literat sozusagen einen Stoff vollkommen zu durchdringen, sind manchmal etwas äußerlich, und es gibt aber einige wenige Fälle, die eine Ausnahme dazu bilden, und das sind meines Erachtens die, wo er über sich selber und seine eigene Geschichte beziehungsweise Familiengeschichte schreibt.

    Koldehoff: Geben Sie ein Beispiel bitte.

    Winkels: Mein Lieblingsbuch, das ist "Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde". Da kriegt man überhaupt mal raus, wie er überhaupt geworden ist. Eigentlich versteht man von da alles. Ich will es jetzt nicht ausführlich machen, nur sagen: er war das Kind eines hoch mögenden evangelischen Pfarrers, der mit donnernden Worten von der Kanzel jeden Sonntag seine Gemeinde erschreckt hat, und sein Sohn stand völlig unter dem Bann dieses wortgewaltigen, streng moralischen Vaters, und er war ein großer Stotterer, mit Schuppenflechte behaftet, ein hinschmelzendes Nichts von einem Jungen. Und der schöne Witz, die schöne Pointe ist, dass seine Emanzipation, seine Befreiung beim Endspiel Fußballweltmeisterschaft 1954 in Bern gegen Ungarn stattfindet, aber nicht durch die Spielweise, sondern durch die Stimme des Kommentators Zimmermann, das heißt wieder durch eine andere Stimme.
    Als ich ihn kennen lernte, F. C. Delius, vor 25 Jahren, da stotterte er noch, oder hatte sehr starke Sprechprobleme, und man merkte, wie er sich im Grunde als Autor ein Leben lang aus einer Dominanz einer Überstimme herausgearbeitet hat. Und da, wo diese Elemente aufgegriffen werden, wo diese Not spürbar wird, dann ist er gut. Selbst "Das Amerikahaus", das Buch über eine große Demonstration 1966, die er selber auch miterlebt hat, gegen die Amerikaner, hat in diesen Teilen der Selbstemanzipation dieses Studenten auch sehr gute Züge.

    Diese Bücher, finde ich, die zeigen alle, dass F. C. Delius eigentlich ein guter Autor ist, wenn ich es böse sagen würde, sein könnte, wenn er sich weniger plakativ-programmatisch an die Sachen heranarbeiten würde.

    Koldehoff: Nun ist das, was Sie gerade als ein dominierendes Element seiner Literatur beschrieben haben, die Haltung, etwas, was viele Literaturkritiker-Kollegen von Ihnen in der zeitgenössischen Literatur vermissen. Könnte es also sein, dass die Akademie da auch ganz plakativ so entschieden hat, um ein Zeichen oder eine Forderung zu formulieren?

    Winkels: ... würde ganz gegen Ihre bisherige Linie verstoßen. - Nein, nein, das ist schon die Anerkennung von jemandem, der 40 Jahre auch als Verführter, wenn man so will - ich meine, er ist seit 1966 dabei in Berlin gewesen und er war selbst in der härtesten Phase (und er hat ja auch drei Bücher über die RAF indirekt, sagen wir mal, über den Herbst 1977 geschrieben), er war sehr nahe dran. Man muss ihm wirklich zugute halten, dass er zu keinem Zeitpunkt sozusagen ideologisch übergeschäumt ist und immer einen humanen, sanften, milden, abwägenden Ton gefunden hat, auch wenn er direkt den Kapitalismus angegriffen hat, immer noch mit abwägenden, vorsichtigen, humanen Mitteln. Das ist ihm hoch anzurechnen und das ist sicherlich auch mit ein Grund für diese Auszeichnung.

    Koldehoff: Der Büchner-Preis an Friedrich Christian Delius. Hubert Winkels war das. Vielen Dank.