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Erbkrankheit in Zellkultur

Um Krankheiten besser zu verstehen setzen Wissenschaftler zunehmend auf Methoden aus der Stammzellenzüchtung – vor allem auf die sogenannte Reprogrammierung. Mit dieser Methode konnten Bonner Forscher nun eine seltene Erbkrankheit in einer Zellkultur erforschen.

Von Michael Lange | 24.11.2011
    Im Alter von 30 bis 40 Jahren beginnt die Krankheit meist mit Bewegungsstörungen. Das Gehen fällt den Betroffenen schwer, ihr Orientierungssinn schwindet. Etwa einer von 100.000 Menschen ist von der seltenen Erbkrankheit betroffen. Sie heißt: Machado-Joseph-Erkrankung.

    "Wir sagen hier: Die spinocerebelläre Ataxie Typ 3. Das ist der wissenschaftliche Ausdruck dafür."

    Philipp Koch vom Institut für Rekonstruktive Neurobiologie der Universität Bonn hat diese Krankheit gemeinsam mit Kollegen untersucht. Auch Neurologen der Bonner Universitätsklinik gehörten zum Team.

    "Die Krankheit dient uns eigentlich als Modell für eine große Gruppe von Erkrankungen. Und diese Erkrankungen sind die sogenannten Polyglutamin-Erkrankungen, zu denen zum Beispiel auch die Huntington-Krankheit gehört."

    Durch einen genetischen Fehler entstehen in den Nervenzellen der Patienten Proteine mit vielen hintereinander gereihten Aminosäuren vom Typ Glutamin. Das führt dazu, dass sich die Proteine falsch falten. Es kommt zu Ablagerungen im Innern der Zellen. Die Nervenzellen vor allem im Bewegungszentrum des Gehirns werden nach und nach immer stärker geschädigt. Um diesen Prozess genauer zu untersuchen, haben die Bonner Forscher das Gehirn der Patienten gewissermaßen in die Zellkulturschale gebracht. Allerdings nicht die alten, kranken Zellen des Patienten, sondern jugendliche Zellen. In der Zellkultur laufen die Prozesse ab, mit denen die Krankheit einst begann.

    Das gelang durch eine Methode aus der Stammzellenforschung: die Reprogrammierung. Sie beginnt, erklärt Philipp Koch, in dem die Forscher bei einem Patienten nach dessen Einwilligung eine Hautprobe entnehmen.

    "Es wird eine Stanze genommen. Das heißt: Man muss richtig eine kleine, zwei Millimeter tiefe Wunde erzeugen. Das ist nicht sehr schlimm. Ich habe das auch bei mir selber gemacht."

    Die Zellen der unteren Hautschicht werden im Labor vermehrt und dann mit Viren zu künstlichen Stammzellen gemacht. Die so entstandenen reprogrammierten Zellen sind regelrechte Alleskönner. Die Bonner Forscher konnten sie zu Nervenzellen weiterentwickeln.
    Bei der Untersuchung dieser Zellen fanden Philipp Koch und Kollegen heraus, dass die Machado-Joseph-Krankheit nur in aktiven Nervenzellen voranschreitet. Sobald eine Nervenzelle erregt wird, kommt der molekulare Krankheitsprozess in Gang.

    "Was wir jetzt können: Wir können den Prozess von Beginn an nachvollziehen und Schlüsselenzyme erforschen, die diesen Prozess vermitteln, und auch natürlich eingreifen."

    Die Forscher haben Enzyme entdeckt, die im Krankheitsprozess eine Rolle spielen. Indem man sie hemmt, könnte man den Krankheitsprozess unterbrechen.

    Der Leiter der Arbeitsgruppe und des Instituts für Rekonstruktive Neurobiologie in Bonn Oliver Brüstle sieht Anwendungsmöglichkeiten dieser Technik – weit über die Machado-Joseph-Erkrankung hinaus.

    "Das ist vor allem für Organe, für die kein Zugang besteht zu Primärgeweben, beim Gehirn, Herzmuskel oder insulinbildende Zellen, ein riesengroßer Vorteil – eben nicht nur für die Krankheitserforschung, sondern auch für die Wirkstoffentwicklung."

    Oft fehlen Wissenschaftlern kranke Zellen der Patienten, um Krankheiten zu erforschen und Medikamente zu testen. An das Gehirn oder das Herz eines Patienten kommen sie einfach nicht heran, meint Oliver Brüstle. Deshalb sei es so wichtig kranke Zellen im Labor neu zu züchten.