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Erdbeben in Italien
Nichts gelernt aus der Vergangenheit

Nach den schweren Erdbeben in Italien hat die Regierung den Menschen versprochen, dass schnell mit dem Wiederaufbau begonnen wird. Geologen raten davon aber ab. Da weitere schwere Beben zu befürchten seien, sollten erst einmal die noch stehenden, gefährdeten historischen Gebäude gesichert werden.

Von Thomas Migge | 13.11.2016
    Ein Foto der italienischen Feuerwehr zeigt das vom Erdbeben getroffene Dorf Castelluccio di Norcia in Umbrien am 31. Oktober 2016.
    Das vom Erdbeben getroffene Dorf Castelluccio di Norcia in Umbrien. Geologen raten von einem schnellen Wiederaufbau ab. (ANSA / Italian Fire Department / dpa picture alliance)
    "Auch wenn wir in diesen Tagen zu Tränen gerührt sind, dürfen wir nicht vergessen, dass wir eine moralische Pflicht haben, diese Ortschaften für die jetzt obdachlos geworden Menschen wieder aufzubauen". Das erklärte Italiens Regierungschef Matteo Renzi mehrfach in diesen Tagen.
    Renzi verspricht viel. Zu viel, meinen jene Geologen, die nach den Gründen für die vielen starken Beben suchen. Seit August haben die Erdbeben etwa 200.000 Gebäude zerstört und mehr als 22.000 Menschen obdachlos gemacht. Rund 5.000 Kulturgüter, historische Bauten und Kirchen sind nach vorläufigen Angaben des Kulturministeriums schwer bis komplett zerstört worden. Ortschaften wie Norcia, Amatrice oder Castelluccio wurden nahezu vollständig verwüstet; von ihrer historischen Bausubstanz ist kaum etwas übrig geblieben.
    Unersetzlich für die kulturelle Identität der Region
    Die Kunsthistorikerin Marica Mercalli gehört zum Team des Kulturministeriums, dessen Aufgabe es ist, den ganzen Umfang der Schäden zu ermitteln:
    "Wir haben noch viel zu tun, weil einige Ortschaften immer noch unerreichbar sind. Ganz generell können wir sagen, dass die beschädigten und zerstörten Kulturgüter aus der Zeit des späten Mittelalters und des Frühbarock stammen. Die meisten Fresken in Kirchen, fast alle aus dem 15. und 16. Jahrhundert, der Periode intensiven Kunstschaffens in der Region, sind stark beschädigt".
    Auch wenn es sich dabei nicht um die weltberühmten Werke der italienischen Kunstgeschichte handelt, also nicht um Fresken von Giotto oder Gemälde von Tizian oder Skulpturen von Bernini: Die Experten des Kulturministeriums schätzen die zerstörte Kunst als sehr bedeutend ein und unersetzlich für die kulturelle Identität der Region.
    Das Geld für die versprochene Rekonstruktion historischer Orte und Bauwerke kann sicherlich nicht vom Kulturministerium kommen, das mit einem einzigen bescheidenen Prozent am Gesamthaushalt der Regierung über lächerlich geringe Finanzmittel verfügt.
    Neubau lohnt noch nicht
    Regierungschef Renzi plant etwa sieben Milliarden Euro Gesamtkosten für den Wiederaufbau ein - Mittel, die aus dem neuen Haushalt für 2017 kommen sollen. Doch der wird von der EU in Brüssel heftig kritisiert: Zu viele Neuausgaben, heißt es von den EU-Beamten. Renzi besteht aber auf seinem Haushalt – und verweist, nicht zu Unrecht, auf die vielen Extraausgaben, die Italien wegen der Unterbringung der vielen Flüchtlinge aus Nordafrika und jetzt auch wegen der andauernden Zerstörungen durch Erdbeben hat. Renzi setzt deshalb alles auf eine Karte: Sollte die EU seine Extraausgaben nicht genehmigen, dann, erklärte er, müsse Italiens Präsenz in der Union überdacht werden.
    Doch lohnt sich überhaupt ein kompletter Neuaufbau? Im Moment nicht, meint Carlo Doglioni, Präsident des Nationalinstituts für Geophysik:
    "Was am 24. August mit der Zerstörung von Amatrice begann, scheint nichts anderes zu sein als die Fortsetzung eines Erdbebens, dass l’Aquila 2009 erschütterte. Alle weiteren Beben sind Folgeerscheinungen des vor 17 Jahren begonnenen Auseinanderbrechens der Erdplatte".
    Weitere Erdbeben werden kommen
    Den Experten zufolge wird dieses Auseinanderbrechen andauern. Weitere schwere Erdbeben werden die Folge sein. Statt einen Wiederaufbau zu planen, fordert der Geologe Doglioni, sich lieber darauf zu konzentrieren, die noch unbeschädigten historischen Monumente in den italienischen Erdbebengebieten endlich erdbebensicher zu machen. Das ist bis heute nur zum Teil geschehen – und das, obwohl man nicht erst seit Kurzem weiß, dass in Italien eine akute Erdbebengefahr besteht.
    Dem Kunsthistoriker Vittorio Sgarbi zufolge wurden bisher weniger als 30 Prozent aller italienischen Kulturgüter erdebensicher gemacht. In Rom beispielsweise verfügt keines der wichtigsten historischen Gebäude über technische Strukturen, die ein Erdbeben abfedern könnten. Eine Folge dieses Desinteresses seitens der politisch Verantwortlichen: Das letzte schwere Beben am 30. Oktober im Apenningebiet ließ auch Roms historische Bauten so sehr erzittern, das einige von ihnen jetzt bedenkliche Risse aufweisen: so etwa die kunsthistorisch bedeutenden Kirchen Sant’Eustacchio und Sant’Ivo. Die meisten Politiker in Italien scheinen aus der Vergangenheit noch immer nichts gelernt zu haben.