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Erdkunde

Memoiren

Guido Graf | 04.07.2002
    Wir sind hier festgeklebt, im Maßstab eins zu/Fünfundvierzig, die eine Hand im Schoß, die andere erhoben Euch zum Gruß. Wir stammen/aus der Heimarbeit, hier aus der Grenzstadt, Narva, der eine trägt den alten Jogginganzug/auf, der andere das übliche Touristenhemd, so

    fügen wir uns in das Diorama, der Grünstreifen,/die öffentliche Bank, der Parkplatz vor Mäc Do bei Sonnenuntergang um vier. Unsere Finger

    sind verklumpt, verboten rosa, auf den Gesichtern/liegt ein leichter Schwarzwaldschatten,/ die Schnauzer im Akkord gepinselt, alle etwas

    schmal, bei Winterlicht die Ausschußware. Tote/Insekten jede Menge um die Füße, ein bleiches/Auge und ein ausgeglühter Stummel, der zwischen

    unsichtbaren Lippen hängenbleibt. Auch Euch/erscheint die Welt am Ende krimsektfarben,/und wenn Ihr näherkommt, könnt Ihr uns murmeln

    hören: Gebt uns Klarnamen, gebt uns naturgetreuen/-lack, GEBT UNS EIN MITTEL GEGEN/MEMOIREN. Vergessenheit. Mundsoße, Crack: Geraten.

    Im Osten, im Osten Europas haben viele der neuen Gedichte Marcel Beyers ihren Resonanzraum. Hier, zum Beispiel in Narva, der Stadt an der Ostgrenze Estlands zeichnet er mit poetischen Mitteln eine Geographie der Erinnerung und der Gegenwart. Nichts darin verklärt, alles ist klar, alles, was ärmlich und schäbig ist und gar nicht pittoresk. Hier gibt es keinen Stoff für Memoiren, die Geschichte ist in all ihren Maskierungen gegenwärtig. Dieser Osten ist ein merkwürdiger, schöner, imaginärer Sehnsuchtspol und die Gedichte, die sich von ihm anziehen lassen, geraten zu einer Selbstlektion Die Reisen, die hinter vielen dieser Gedichte stehen, die Orte, die da auftauchen, die Spuren, die gesucht, gefunden oder auch nicht gefunden werden, scheinen immer wieder zurückzuführen auf den Ausgangspunkt, der nicht im Osten, sondern im Westen liegt. Beyer:

    Es ist halt für mich so: ich bin 1996 in den Osten gezogen, also nach Dresden. Und ich merke seitdem, dass sich meine Texte verändern, aber ich kann gar nicht beschreiben, wie sie sich verändern, was an ihnen anders ist, als an den Texten, die vorher entstanden sind. Das bezieht sich gerade auf Gedichte. Ich merke natürlich, dass Ortsnamen und bestimmte historische Bezüge und so etwas sich einfach verlagern, dass da einfach - ich denke, seit so Anfang der neunziger Jahre -, wo der Ort und auch Kulturraum Wien und Österreich für mich so wichtig waren, dass es dann eine Wanderbewegung gemacht hat nach Nordwesten hin, da wo ich her komme, und dann weiter in einem Dreh Richtung Osten. Aber dass jetzt die Gedichte in ihrer Grundkonstellation oder in etwas Grundsätzlichem, was darin steckt, sich verändert haben, seitdem ich in den Osten gezogen bin: da gehe ich von aus und würde ich auch immer behaupten, ohne aber erklären zu können, warum.

    Im Titelgedicht "Erdkunde" stellt das Ich keine Fragen, der Blick geht ins Dunkel, die Finger sind taub und dann heißt es: "Meine Ossifizierung, starre Augen." Das Wort "Ossifizierung" ist natürlich, zumindest ein wenig, ein Scherz. Beyer bezieht sich hier auf eine Zeile des irischen Dichters Seamus Heaney:

    Und als ich das las, da lebte ich schon in Dresden, und einfach gar nicht wußte, was "ossify" heißt, dachte ich: wie? 'ich ossifiziere mich' oder 'ich werde ossifiziert'. Ich dachte, das paßt eigentlich genau auf meine Situation und habe an dieses Verknöchern, was es natürlich wörtlich heißt, dabei gar nicht gedacht.

    Die im Westen erlernte und gelebte Selbstverständlichkeit geht im Osten verloren - das führen Marcel Beyers Gedichte eindrucksvoll vor: lakonisch, gelassen und genau, aufmerksam für die Fundsachen des Alltags, die der Reisende in Königsberg, in Polen oder Tschechien zu hören und zu sehen bekommt. Ihre Forderung nach Genauigkeit hat Beyer im Westen vermisst:

    Genau dieses, dass nur ein Straßenzug oder Lichtverhältnisse oder irgendwelche Sträucher so dastehen oder so erscheinen, dass ich da Gefühl habe, ich soll jetzt stehen bleiben und mir das genauer angucken: dieses Gefühl habe ich sehr stark in Dresden und in der Umgebung, oder eben auch bei Reisen dann nach Kaliningrad oder nach Estland oder nach Tschechien. Eine sehr starke Präsenz der Umgebung, was sicher ganz stark damit zu tun hat, dass es im Westen so eng ist, dass jeder Quadratzentimeter nützlich ist und auch von Menschenhand hin- und hergewendet und gestaltet worden ist. Und so etwas gibt es eigentlich im Osten nicht so stark.

    Die Perspektive, die uns Marcel Beyers Gedichte anbieten, ist auch die der Neugier, einer Orientierunglosigkeit, auf die nur Staunen folgen kann und die Fähigkeit zu handeln. Wir folgen keinem distanzierten Beobachter, der über alles Bescheid weiß und erklärt. In diesem Osten ist noch nichts erledigt. Die Sprache dieser Gedichte zeigt sich eigentümlich porös, aufnahmebereit für neue Bausubstanz und sei es nur für Laute, die von der östlichen Nachbarschaft geliefert werden. "Die Sprachen sind mir fremd, als würde / ich Pantoffeln tragen: aber ich bin da." Genau darum geht es: dieses Fremde ist auch unsere eigene verschüttete Vergangenheit, mit der wir nur klar kommen werden, wenn wir uns ihr stellen.

    Schnee

    Meinst du am Ende die Möwen, die Stiefel nachts/auf der Mole, nachts in den Schnee? Triest oder/Turku, Turku, Triest - wo sind die Flocken, wo/die Figuren, unsere Sohlen, was treten sie fest?

    Meinst du den Lichtschein am Rand, die Tiefe,/meinst du den Blick, die offene See? Kein Schnee, Schnee, Kot, Kaugummi, Eis, und/kein Schnee - Schneefall ist alles, was ich noch weiß, blau sind die Hände, blau ist der Rest.