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Erfinden heißt erinnern

In "Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war", dem zweiten Teil seines Erfolgsdebüts "Alle Toten fliegen hoch" fabuliert Joachim Meyerhoff sich durch seine Jugend. Aus normalen Figuren macht er mythische Gestalten und aus alltäglichen Begebenheiten pointensichere Anekdoten.

Von Eva Pfister | 05.08.2013
    Die Vergangenheit ließ ihn nicht los. Immer öfter erzählte Joachim Meyerhoff seinen Freunden und Kollegen von dem Ort, an dem er aufgewachsen war: einem Landeskrankenhaus für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Schleswig-Holstein. Sein Vater leitete die Anstalt, die Familie wohnte in der Direktorenvilla mitten in dem riesigen Gelände, in dem 1500 Patienten untergebracht waren. Seltsame Gestalten hinter geschlossenen Fenstern, ungewöhnliche Begegnungen auf dem Schulweg, Weinen und Brüllen in der Nacht, all das gehörte für Joachim Meyerhoff zum Alltag. Und den beschreibt er in seinem neuen Roman anschaulich und witzig. Wie seine zwei Brüder ging er völlig unbefangen mit den Patienten um, nannte sie insgeheim - politisch unkorrekt - Hirnis oder Blödis, und fand es normal, wenn sie an Vaters Geburtstag bei Kaffee und Kuchen mit am Tisch saßen.
    Nur vor einem Patienten hatte Joachim Meyerhoff als Kind Angst, vor dem Mann mit den Glocken:

    "Der wurde wirklich der Glöckner genannt, und war schlichtweg eine eindrucksvolle, riesige Gestalt. Und der hat einfach abenteuerlich ausgesehen, Bundeswehrparka, und so mit Bart und wilden Haaren, sehr verschatteter Mensch, düstere Gestalt und dazu immer diese goldenen Glocken, das war eine absolut archaische, Furcht einflößende Gestalt, weil diese Glocken hat er auch geläutet, das war auch so ein Lärm, und als kleines Kind, also mit Fünf, kann man schon denken, was kommt jetzt da?"

    Meyerhoffs großes Erzähltalent macht aus vielen Figuren mythische Gestalten und aus alltäglichen Begebenheiten pointensichere Anekdoten. Der Schauspieler, der seit sieben Jahren am Wiener Burgtheater engagiert ist, demnächst aber auch am Deutschen Schauspielhaus Hamburg tätig sein wird, ging vor ein paar Jahren mit seinen Erinnerungen auf die Bühne. Unter dem Titel "Alle Toten fliegen hoch" gab er sechs Abende, in denen er von seiner Jugend erzählte, von seinen Eltern, seinen Brüdern, von Skurrilitäten und tragischen Todesfällen. Aber dann uferte sein Erzählen aus, denn er stellte fest:

    "Je genauer ich mich erinnere, desto mehr wird das Material. Da tauchen ja immer neue, verschwundene Welten auf. Und da habe ich wieder angefangen zu schreiben und hab‘ gemerkt: Jetzt in der Romanform kann ich noch viel genauer und detaillierter erzählen als in den Theaterabenden, weil als ich nachher sechs Theaterabende hatte, haben die hintereinander gespielt zwölf Stunden gedauert, und jetzt gibt’s das Buch, und jetzt kann ich wirklich anfangen, das Ganze in seiner Gesamtheit zu erwischen, und kann mich selber auch verschwinden lassen; auf der Bühne bin ich natürlich immer präsent gewesen und habe das Ganze durch meine Anwesenheit immer interpretiert, und jetzt merke ich: Es ist auch schön, das jetzt aus der Hand zu geben."

    Joachim Meyerhoffs erster Roman erschien vor zwei Jahren unter demselben Titel wie das Theaterprojekt. "Alle Toten fliegen hoch" erzählt hauptsächlich von seinem Schüleraustauschjahr in der amerikanischen Provinz, wo ihn auch die Nachricht vom Tod seines Bruders erreichte. Das neue Buch heißt "Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war?" Das klingt nach Heimweh nach dem mythischen Ort der Kindheit, thematisiert aber auch die fiktive Dimension des Erinnerns. Schon als Kind hat Joachim Meyerhoff die Entdeckung gemacht, dass Erinnern und Erfinden keineswegs Gegensätze sein müssen, - als er nämlich zum x-ten Mal berichtete, wie er einen Toten gefunden hatte.
    Wie immer begann ich mit meinem Entschluss, den Schulweg zu verlassen, baute die Spannung auf, verirrte mich, kletterte über das Tor und entdeckte den in seinem Beet zusammengebrochenen Mann. Um mich nicht zu langweilen, erfand ich immer neue Einzelheiten und sagte schließlich: "Da sah ich, dass er einen Ring am Finger trug. Der sah richtig wertvoll aus. Kurz überlegte ich, vom Tor zu klettern und ihm den Ring vom Finger zu ziehen, aber da klingelte die Schulglocke, und ich rannte davon." Während ich das mit dem Ring erfand, schoss mir plötzlich ein heißer Schauer über den Rücken, und ich sah den Ring tatsächlich vor mir. Es stimmte! Ich hatte es gar nicht erfunden. Mein Toter trug einen goldenen Ehering an seiner leblosen linken Hand! Ich rief: "Das stimmt ja wirklich! Er trug einen Ring!

    Erfinden heißt erinnern, dies war für Joachim Meyerhoff eine unfassbar befreiende Erkenntnis. Immer wieder machte er die Erfahrung, dass vermeintlich erfundene Geschichten sich als wahr erwiesen:

    "Das heißt, ich kann die Fiktion als ein archäologisches Instrument benutzen, um Erinnerungen wieder zutage zu fördern. Deswegen glaube ich, da man eh aus einem bestimmten Kontext kommt, gibt es eben auch atmosphärische Wahrheiten, ja, es gibt auch eine Wahrheit der Fantasie, der Vorstellungskraft, das heißt, wenn man sich dem wirklich aussetzt, kann man gar nicht anders vielleicht, als Dinge zu erfinden, die eine Realität haben."

    So fabuliert Joachim Meyerhoff sich durch seine Jugend und bringt eine Fülle von wunderbaren Gestalten und Vorfällen ans Licht, die einen beim Lesen fesseln und amüsieren. Manchmal sehnte er sich selbst sogar zurück in die Psychiatrie, zu "der Deutlichkeit dieser Menschen", wie er es nennt, ihrer Maßlosigkeit, ihrer ungefilterten Freude, ihren heftigen Umarmungen, ihrem tobenden Zorn. Könnte es sein, dass die Gestalten seiner Jugend für den Schauspieler auch einen Fundus darstellen, aus dem er schöpfen kann, wenn er auf der Bühne seine Figuren erarbeitet?

    "Das ist zum Fundus geworden. Als ich auf die Schauspielschule gegangen bin, mit 19, da habe ich das noch nicht begriffen, das war so sehr Normalität. Aber je älter ich werde, jetzt auch durch das Schreiben des Romans, spüre ich schon, dass die Sinnsuche in der Schauspielerei unmittelbar mit diesem Ort etwas zu tun hat. Und ich bin jemand, der gerne das vehemente Spiel, das ausufernde Spiel, das grenzüberschreitende Spiel sucht, also so ein rein intellektuelles, Charisma verwaltendes an der Rampe rumstehen würde mich zu Tode langweilen. Und da habe ich vielleicht schon etwas von diesem Ort mitgenommen."

    Joachim Meyerhoffs zweiter Roman ist aber auch ein Requiem für seinen Vater, der relativ jung an Krebs starb. Nach seinem Tod entdeckten die Söhne, dass er in einer anderen Stadt ein Apartment unterhielt, wo er mit einer ihnen unbekannten Frau ein Doppelleben geführt hatte. Auch den Vater galt es also, aus der Erinnerung neu zu erfinden. Es war ein liebevoller Mensch, charismatisch und seinen Patienten sehr zugetan. Außerdem war er fasziniert von Fachliteratur über alle möglichen Themen und brachte mit seinem Wissensdrang die Familie zur Verzweiflung. Kam der Sohn von einer Türkeireise zurück, unterzog ihn der Vater gleichsam einem Verhör, da er unterdessen lesenderweise das Land perfekt kennengelernt hatte. Noch schlimmer wurde es, wenn er von der Theorie zur Praxis schritt. Dann musste seine Frau mit dem sportlich völlig unbegabten Mann segeln oder bei der Renovierung eines Ferienhauses Hand anlegen, während er meist sinnierend übers Land schaute. Andererseits erinnert sich der Sohn auch daran, wie er einen Kohlenmeiler nachbaute, so wie er es gerade im Fernsehen gesehen hatte, und der Vater ihm dabei half, bis die Blasen an seinen Arzthänden aufplatzten. Bedeutsam wirkt in der Rückschau jener Moment, als der Vater im Schneesturm zu einem Rettungsflugeinsatz das Haus verlässt, und der Sohn plötzlich Angst hat, ihn zu verlieren.

    Ich stellte mir vor, wie es wohl wäre, meinen Vater niemals wieder zu sehen. Wenn das wirklich geschehen sollte, dachte ich, dann muss ich mir jetzt genau merken, wie er da eben weggegangen war. Dann wäre das der letzte Eindruck, den ich ab jetzt für immer in mir tragen würde. Ich prägte, ja brannte mir dieses letzte Vaterbild ein. Während meine Augen vom Hineinstarren in dieses konturlose Weiß zu brennen begannen, wuchs meine Angst. Aber mit dieser Angst wuchs auch die Deutlichkeit des durch den Schnee stapfenden Vaters. Plötzlich sah ich seine weichen Nackenhaare unter der Wollmütze hervorschauen, auf die sich die Flocken gesetzt hatten. Sah die bedrohlichen Löcher, die seine Stiefel hinterließen. Sah diesen Blick, da er sich noch einmal zu uns umgedreht hatte, diesen letzten Blick meines Vaters, in dem doch so viel mehr Weichheit und Angst gelegen hatte, als ich es im ersten Moment wahrgenommen hatte.

    "Bei mir ist es tatsächlich so: Ich hab große Ängste, Dinge zu verlieren und antworte auf diese Ängste mit dem Versuch, den einzelnen Moment umfassend mitzubekommen. Im ersten Roman ging es ja um den Unfalltod meines Bruders, und das ist so ein einschneidendes Erlebnis gewesen, so ein verstörendes, fast zerstörerisches Erlebnis, weil auf einmal jede Kontinuität verloren geht, also das Überraschungsmoment, dass das Schicksal tatsächlich so unberechenbar ist."

    Gegen diese Unberechenbarkeit schreibt Joachim Meyerhoff an. Er will rückblickend alles erfassen und verstehen, er will die Vergangenheit retten und sei es, dass er sie neu erfindet. Es ist die Angst vor Verlust, die ihn dazu treibt, und wenn man das versteht, staunt man erst recht, wie witzig und unterhaltsam der Schauspieler und Autor von seiner Vergangenheit erzählen kann.

    Joachim Meyerhoff: "Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war?"
    Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 2
    Kiepenheuer & Witsch 2013, 352 Seiten, 19,99 Euro