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Erfinder der künstlichen Niere

Als junger Assistenzarzt musste Willem Johan Kolff den qualvollen Tod eines Patienten mit Nierenversagen mit ansehen. Das Erlebnis hat ihn nicht mehr losgelassen und motivierte ihn zu einer bahnbrechenden Erfindung: der künstlichen Niere.

Von Martin Winkelheide | 14.02.2011
    "Da war ein junger Mann, 22 Jahre alt. Und ich musste seiner Mutter die Nachricht überbringen, dass wir nichts mehr für ihn tun konnten. Er war ihr einziger Sohn. Und er war einer meiner ersten Patienten"

    Willem Johann Kolff war 1939 - mit 27 Jahren - der jüngste Assistent an der Universitätsklinik im niederländischen Groningen. Für vier Patienten war er verantwortlich. Einer von ihnen litt unter Nierenversagen. Weil die Nieren das Blut nicht mehr entgiften konnten, reicherte sich Harnstoff an. Der junge Mann starb langsam und qualvoll.

    "Wenn wir es geschafft hätten, täglich 20 Gramm Harnsäure aus seinem Blut zu entfernen, dann hätte der junge Mann überlebt. Dieser Gedanke hat mich nicht mehr losgelassen."

    Willem Johan Kolff wurde am 14. Februar 1911 als Sohn von Jacob und Adriana Kolff im niederländischen Leiden geboren. Sein Vater war ärztlicher Leiter eines Tuberkulose-Sanatoriums. Willem wollte ebenfalls Arzt werden. 1930 begann er sein Medizinstudium in Leiden; nach dem Examen wechselte er an die Universität von Groningen.

    "In Groningen begann ich schon 1939 mit meinen Experimenten mit künstlicher Wurstpelle. Ich wollte wissen, wie viel ich davon brauchen würde."

    Zellophan war damals ein neuartiges Material. Metzger nutzten es als Ersatz für Naturdarm. Kolff erkannte: Zellophan besitzt winzige Poren. Groß genug, um Wasser, Harnstoff und Salze passieren zu lassen. Klein genug, um Zellen zurückzuhalten.

    "Ich füllte nur ein wenig Blut in den Zellophanschlauch, badete ihn in einer speziellen Lösung und schüttelte ihn dabei hin und her. Zu meiner Überraschung war nach fünf Minuten bereits der gesamte Harnstoff entfernt. Ich hätte nie geahnt, dass eine Blutwäsche, eine Dialyse, so schnell wäre."

    1941 verließ Kolff Groningen. Er wollte nicht mit dem von den Nazis eingesetzten Leiter der Universität kollaborieren. In Kampen wurde er Direktor der medizinischen Abteilung am städtischen Krankenhaus. Hier baute er eine erste künstliche Niere: eine große Wanne mit etwa 100 Litern Dialyseflüssigkeit. In die Wanne tauchte eine rotierende Trommel ein, um die 30 bis 40 Meter Zellophanschlauch gewickelt waren. Die erste Vorführung, erinnert sich einer seiner Mitarbeiter, endete in einem Debakel. Es kam zu einer Verletzung des Zellophanschlauchs.

    "Der Anblick des Kranken und die Vorstellung, dass das Blut aus seinem Körper durch eine primitive Maschine lief, war schon eine Belastung für den Laien - vielleicht sogar für Ärzte. Als aber darüber hinaus; blutig-rötlicher Schaum über die Wanne sprudelte und auf den Fußboden floss, (...) da war die Grenze dessen erreicht, was Außenstehende ertragen konnten."

    Seine ersten Patienten starben trotz Blutwäsche nach wenigen Tagen. Dann, am 11. September 1945: der Durchbruch.

    "Patient Nummer 17 war Maria Schafstaat. Sie war 67 Jahre alt, komatös, und Insassin eines Gefängnisses für Nazikollaborateure. Ich dialysierte sie für sechs, acht Stunden. Dann beugte ich mich über sie: ‚Frau Schafstaat, können Sie mich hören?' Sie öffnete langsam ihre Augen und sagte: ‚Ich lasse mich von meinem Mann scheiden'. Das machte sie später tatsächlich wahr."

    Kolffs primitive Maschine konnte nur kurze Ausfallzeiten der Niere überbrücken. Erst Ende der 60er-Jahre wurde die Dialyse dank einer Reihe von technischen Verbesserungen zu einer Routinebehandlung, die Patienten mit chronischem Nierenversagen das Leben rettet. Und die hilft, die Zeit bis zu einer Nierentransplantation zu überbrücken.

    Willem Kolff siedelte 1950 in die USA über, nach Cleveland. Er baute dort die erste Herz-Lungen-Maschine, trieb die Entwicklung eines Kunstherzens voran und entwickelte einen sogenannten Ballonkatheter: einen aufblasbaren Ballon an einem dünnen Draht, mit dem sich verengte Herzkranzgefäße aufdehnen lassen. Eine Erfindung, die schnell Eingang fand in die klinische Praxis.

    In den USA wurde Willem Kolff nicht als Dialyseexperte berühmt, sondern als Entwickler des ersten künstlichen Herzens. 1982 setzten er und sein Team es dem 61-jährigen Barney Clark ein, der allerdings nur 112 Tage mit dem Kreislaufunterstützungssystem überlebte. Willem Kolff arbeitete und forschte bis zu seinem Tod am 11. Februar 2009 - drei Tage vor seinem 97. Geburtstag.