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Erfolg aus der Diaspora

Nicht nur Salman Ruschdie wirbelt in seinen Büchern Fiktion und Wirklichkeit durcheinander. Auch andere indische Literaten drehen der Realität gerne eine lange Nase. Viele von ihnen leben aber gar nicht in Indien und schreiben nicht in einer der Regionalsprachen, sondern auf Englisch. Dennoch scheint eine Stadt beide Gruppen besonders zu faszinieren: Bombay.

Von Shirin Sojitrawalla | 26.09.2006
    So tönt es, Bollywood, das große indische Gefühlskino. Der Film ist das indische Massenmedium schlechthin, und das Kino für Inder der gängigste Weg des Eskapismus. Aber auch so gut wie kein indischer Roman, und sei es nur in einer Nebenszene, entkommt dem penetranten Charme der indischen Blockbuster, ganz egal, ob es sich beim Autor um einen in Indien lebenden Inder oder einen so genannten Non Resident Indian, also einen Inder, der das Weite gesucht hat, handelt.

    Der in New York lebende Autor Shashi Tharoor hat sich in seinem bereits 1991 erschienenen Roman "Bollywood", der jetzt auch auf Deutsch vorliegt, ganz und gar dem Masala-Movie verschrieben. So beginnt Tharoor seinen Roman, der Hommage, Satire und Veralberung in einem ist. Darin erzählt er vom Aufstieg und Fall des jungen Ashok Banjara, der es mit einer gehörigen Portion Talentlosigkeit zum Filmstar schafft, schließlich in der Politik landet und dann als skandalumwitterter Pechvogel endet.

    Für seinen Werdegang gibt es einige Beispiele in der indischen Wirklichkeit, doch als Schlüsselroman taugt das Buch weit weniger denn als Wegweiser in die indische Psyche, die in den bunten Hindifilmen ihren perfekten Katalysator gefunden hat. Tharoor, der für die Vereinten Nationen arbeitet und als möglicher Nachfolger von Kofi Annan gehandelt wird, bietet mit seinem Roman einen üppigen Bilderbogen indischer Wirklichkeit. Dabei spart er nicht mit Spott und Häme und kommt doch nicht drum herum, den Zauber des Kinos festzuhalten.

    "Das Unwahrscheinliche ist viel unterhaltsamer als das Glaubhafte"

    heißt es an einer Stelle seines Buches, und das scheint nicht nur für den indischen Film zu gelten. Denn gerade auch indische Literaten drehen der Wirklichkeit gerne eine lange Nase. Das gilt vor allem auch für den berühmtesten unter ihnen: Salman Rushdie, der in seinen magisch-realistisch aufgeladenen Romanen immer wieder Fiktion und Wirklichkeit durcheinander wirbelt. Das Erscheinen seiner "Mitternachtskinder" im Jahr 1981 rückte die indische Literatur in den Fokus der westlichen Welt.Er ist ohne Zweifel der berühmteste NRI unter den indischen Autoren.
    Doch inzwischen sind längst andere hinzugekommen, die in der Diaspora wie in ihrer Heimat Erfolge feiern, wie etwa Vikram Seth oder Amitav Ghosh. Sie einigt nicht nur, dass sie ihren festen Wohnsitz nicht mehr in Indien haben, sondern auch dass sie auf Englisch schreiben und nicht in einer der indischen Regionalsprachen. Der indische Schriftsteller und Psychoanalytiker Sudhir Kakar spricht deswegen auch von zwei indischen
    Literaturen:

    "Es gibt zwei indische Literaturen."

    Dass Rushdie in seiner Anthologie "50 Years of Indian Writing" die angloindische Literatur als stärker und wichtiger einstufte als die der Regionalsprachen, hat ihm viel Ärger eingebracht. Richtig widerlegt hat ihn aber bisher niemand. Der Vorwurf, die angloindische Literatur berücksichtige nur die großen indischen Städte, während Zweidrittel aller Inder noch immer auf dem Land lebten, wird mantragleich vorgetragen. Dabei scheint eine Stadt Schriftsteller besonders zu faszinieren: Bombay.

    Auch Salman Rushdie begibt sich literarisch immer wieder zum Ort seiner Kindheit. Das gleiche gilt für den inzwischen in Kanada lebenden Rohinton Mistry. In diesem Herbst erscheinen gleich vier bedeutende Bombay-Bücher: Vikram Chandra siedelt seine beiden Kriminalromane "Der Gott von Bombay" und "Bombay Paradise" dort an, Altaf Tyrewala bietet in seinem Debüt "Kein Gott in Sicht" Bombay-Shortcuts, und Suketu Mehta widmet der Stadt mit "Bombay. Maximum City" ein gleich in mehrfacher Hinsicht gigantisches Buch.

    Das Buch des in New York lebenden Suketu Mehta gleicht einem Triumphzug. Auf beinahe 800 Seiten bietet er einen unfassbaren Blick auf eine unfassbare Stadt. Bombay: Hauptstadt von Maharashtra, 16-Millionenmoloch, Finanzmetropole am arabischen Meer, westlichste Stadt Indiens, Sitz der Börse und der indischen Traumfabrik. Eine der aufregendsten Städte der Welt, die jeden Tag aufs Neue über das Chaos triumphiert und sich für Einwohner wie Besucher als Zumutung erweist.

    Mit seinem ungeschönten Blick, der gleichzeitig einer von Außen wie von Innen ist, legt Mehta der Stadt Liebeserklärung wie Generalabrechnung vor die schmutzigen Füße. Er selbst liebt und hasst die Stadt zugleich: Mehta nimmt Kontakt zu Berufskillern wie Huren auf, entblößt die Hässlichkeit der Stadt dabei wie einen kariösen Zahn, um gleich darauf wieder von nostalgischen Gefühlen fort getragen zu werden.

    Nach 21 Jahren in der Fremde kehrte er zurück in die Stadt seiner Kindheit und Jugend, um sie zu untersuchen wie einen Patienten auf der Intensivstation. Man könnte ihm vorwerfen, dass er sich zu stark auf die exzentrischen Seiten Bombays kapriziert, doch gerade in ihren Extremen erwacht die Stadt der Nacht und des Neins, in der bald mehr Menschen leben werden als auf dem australischen Kontinent, zu neuem Leben. Und während die Einheimischen gerne abgebrühte Blicke auf das Elend um sie herum werfen, lässt sich Mehta von jedem bettelnden Kleinkind rühren wie ein europäischer Tourist.

    Wie alle NRI schreibt auch Suketu Mehta auf Englisch, der Sprache, von der nicht nur Salman Rushdie immer wieder behauptet, sie sei eine indische. Kann man wirklich sagen, Englisch sei eine indische Sprache, Sudhir Kakar? Und was ist eigentlich mit den Frauen in einem Land, in denen für sie zu oft nur hintere Plätze übrig bleiben? Seit Arundhati Roy 1997 ihren Roman "Der Gott der kleinen Dinge" auf den internationalen Markt geworfen hat, gibt es immer mehr indische Autorinnen, die Aufmerksamkeit erregen, gerade auch unter den NRI.

    Man denke etwa an Jhumpa Lahiri, die für ihren Erzählungsband "Melancholie der Ankunft" mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet wurde oder auch an Kiran Desai, die mit ihrem Debütroman "Der Guru im Guavenbaum" auch hierzulande erfolgreich war. Sie ist die Tochter der berühmten indischen Schriftstellerin Anita Desai. Ihr neues Buch mit dem ausreichend kitschigen Titel "Erbin des verlorenen Landes", das es auf die Shortlist für den diesjährigen Booker Prize geschafft hat, übt den Brückenschlag zwischen den Kontinenten, wie er für die indische Literatur so selbstverständlich geworden ist.

    Von den Hängen des Himalaya wechseln die Kapitel munter nach New York, wo sich Einwanderer mehr schlecht als recht als billige Hilfskräfte durchschlagen. Ironisch gewitzt beschreibt Desai das Einwanderermilieu. Emigrantenschicksale gehören neben den mal lächerlichen, mal gefährlichen Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Hindus zu den gängigen Themen der indischen Literatur.

    Aber auch Kain- und Abel Geschichten begegnen einem so zuverlässig wie Vater-Sohn-Konflikte. Die indische Gepflogenheit, Ehen zu arrangieren, taugt ebenfalls immer wieder als Thema; wie überhaupt die Familie Leben und Literatur Indiens maßgeblich bestimmt. Dabei unterscheiden sich Inder der Diaspora in ihren Romanen nicht von ihren auf Englisch schreibenden Kollegen in der Heimat.

    Kiran Nagarkars Roman "Gottes kleiner Krieger" etwa lässt nicht erkennen, dass sein Autor in Bombay lebt. Wer das Buch liest, merkt aber schnell, dass Nagarkar in der Welt Zuhause ist. Dazu muss man seine Heimat nicht unbedingt verlassen. Schaden tut es freilich nichts.