Donnerstag, 18. April 2024

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Ergebnisse des Flüchtlingsgipfels
"Der Gipfel war eine therapeutische Sitzung"

Der Flüchtlingsgipfel habe nicht die Ergebnisse gebracht, auf die die europäische Öffentlichkeit dringend warte, sagte der Politikwissenschaftler Eckart Stratenschulte im DLF. Die Mitgliedsstaaten müssten erkennen, welche Konsequenzen ein Nichthandeln in der Flüchtlingsfrage habe. Von weiteren Drohungen, zum Beispiel gegenüber Ungarn, hält Stratenschulte aber nichts.

Eckart Stratenschulte im Gespräch mit Bettina Klein | 18.12.2015
    Bundeskanzlerin Angela Merkel (v.r.n.l.) und die lettische Regierungschefin Laimdota Straujuma sowie der britische Premier David Cameron und sein luxemburgischer Kollege Xavier Bettel sprechen während des EU-Gipfels in Brüssel.
    Auf dem EU-Gipfel in Brüssel ging es um die Flüchtlingskrise sowie die Beziehungen zwischen Großbritannien und dem Rest der EU. (picture alliance / dpa / Jakub Dospiva)
    Bettina Klein: 2015 dürfte die Zahl der Flüchtlinge nach Schätzung der Vereinten Nationen auf den höchsten Stand aller Zeiten steigen. Erstmals könnte sie die 60-Millionen-Marke überspringen, so das Flüchtlingshilfswerk UNHCR heute. Viele strömen nach Europa, allein eine Million in diesem Jahr schon nach Deutschland. Die Europäische Union will daher die Außengrenzen besser schützen und berät auch heute an diesem Freitag noch einmal auf einem EU-Gipfel in Brüssel darüber.
    Mitgehört hat der Politikwissenschaftler Eckart Stratenschulte. Er lehrt an der European Academy in Berlin. Guten Tag, Herr Stratenschulte.
    Eckart Stratenschulte: Einen wunderschönen guten Tag.
    Klein: Die Begeisterungen über die Ergebnisse des Gipfels halten sich im Augenblick noch in Grenzen. Wir wollen jetzt auch nicht in übertriebenen Alarmismus verfallen. Müssen wir ungeduldig sein, oder erleben wir im Grunde genommen die Europäische Union im Augenblick, auch was die Flüchtlingsthematik angeht, at its best, nämlich der typisch, vielleicht etwas langwierige Krisenbewältigungsmechanismus, der uns alle irgendwie nicht zufriedenstellt, aber immer noch die bessere Alternative ist, auch vor dem Hintergrund der Geschichte dieses Kontinents?
    Stratenschulte: Der Gipfel war eine therapeutische Sitzung. Ich glaube, so kann man es formulieren. Und das scheint auch die Strategie der Bundeskanzlerin zu sein, den Partnern Zeit zu geben, dass bei ihnen einsickert, was die Konsequenzen des Handelns und vor allem des nicht Handelns sind. Insofern kann man vermutlich nicht mehr erwartet haben von diesem Gipfel. Aber er bringt natürlich nicht den Durchbruch, auf den die europäische Öffentlichkeit dringend wartet.
    Klein: Therapeutische Sitzung, ein schönes Bild. Wer, glauben Sie, welche Staaten, glauben Sie, haben da ein wenig Therapie und Nachhilfe bei der Einsichtsfähigkeit nötig?
    Stratenschulte: Die Staaten, die denken, dass ein Aspekt des europäischen Handelns mit dem anderen Aspekt nichts zu tun hat, und das sickert jetzt langsam ein. Das erleben wir auch bei unseren osteuropäischen Nachbarn, die jetzt anfangen zu begreifen - das klingt ein bisschen von oben herab, aber es ist so -, dass zum Beispiel die Reisefreiheit, die Freizügigkeit und Schengen auch etwas zu tun hat mit dem Schutz der Grenzen, aber auch etwas zu tun hat mit der Verteilung der Flüchtlinge. Das braucht ein bisschen Zeit.
    "Es geht nicht nur um Ungarn"
    Klein: Spielen Sie da direkt an auf Ungarns Regierungschef Orbán - er wurde gerade auch noch mal angesprochen -, der sich ja gegen etwaige auch nur im übertragenen Sinne Strafmaßnahmen schon zur Wehr setzen wollte?
    Stratenschulte: Das ist nicht nur Herr Orbán. Herr Orbán ist der Wortführer. Aber hinter seinem breiten Rücken verstecken sich ja auch andere. Das ist auch die neue polnische Regierung, das ist die slowakische Regierung, die Tschechen gucken in die Luft und tun, als hätte es mit ihnen nichts zu tun. Man schickt jetzt den Poltergeist Orbán nach vorne und sagt, lässt den mal ordentlich Krach machen, aber es geht nicht nur um Ungarn. Wenn es nur Ungarn wäre, dann hätten wir das Problem schnell gelöst.
    "Drohungen dienen dazu, deutlich zu machen, dass alles mit alem zusammenhängt"
    Klein: Dem Poltergeist Orbán, wie Sie sagen, stehen gegenüber einige Instrumente und Werkzeuge der EU-Führung im Augenblick. Gehen Sie davon aus, dass die noch angewendet werden, sprich dass es am Ende dazu kommen könnte, wenn man zum Beispiel das Versprechen nicht einhält, die 160.000 Menschen aufzuteilen auf einige europäische Staaten, wenn man dieses Versprechen nicht einlöst, dass dann wirklich Mittel und Hilfszahlungen gekürzt werden?
    Stratenschulte: Das sind Drohgebärden, die aber nur als Drohungen ihren Sinn erfüllen, die nicht wirklich realistisch sind. Das betrifft sowohl den Frontex-Einsatz gegen den Widerstand eines Mitgliedsstaates. Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, das in Wirklichkeit anzuwenden. Das betrifft auch die Kürzung der Strukturmittel, denn darum geht es ja. Die könnten ja nur einstimmig beschlossen werden.
    Man müsste eigentlich die EU zum Bruch bringen vorher, beziehungsweise die anderen müssten dann auch gegen die Regeln verstoßen und sagen, wir zahlen einfach nicht in die EU-Kasse ein. Das ist als Drohung interessant, aber es ist kein Weg, mit dem die Europäische Union aus dieser Krise herauskommt. Es dient - ich komme zurück zu meinem Bild von der therapeutischen Sitzung - vor allem dazu, deutlich zu machen, dass alles mit allem zusammenhängt in der Europäischen Union.
    Klein: Und Sie glauben, eine Drohung, die am Ende gar keine Drohung ist, weil sie gar nicht umgesetzt werden kann, funktioniert dennoch?
    Stratenschulte: Sie hat zumindest die Wirkung, dass auch die Öffentlichkeit - es geht ja nicht nur um die Person Orbán, sondern es geht ja auch um die ungarische Öffentlichkeit, es geht ja um die polnische Öffentlichkeit, die ja gerade diese Regierung gewählt hat, über die man mehr oder weniger glücklich sein kann -, dass diese Öffentlichkeit natürlich davon durchaus erreicht wird.
    Klein: Schauen wir noch mal auf das gerade angesprochene Wort von den Hoheitsrechten, die eingeschränkt werden müssten, wenn man eine Agentur wie Frontex einsetzt, möglicherweise auch gegen den Willen von Staaten an den europäischen Außengrenzen.
    Wir haben diese Frage der Souveränitätsrechte auch hier im Deutschlandfunk intensiv thematisiert. Das interessiert jetzt offenbar gar nicht mehr so viele, oder hören wir noch mal die Worte der Kanzlerin heute Nacht:
    Angela Merkel: "Ich kann nur sagen, dass heute in den Beratungen nahezu keiner - - Eine Stimme war vielleicht zu dieser Frage der Souveränität. Alle anderen haben das im Grundsatz begrüßt."
    Klein: Eine Stimme hat sich noch dagegen aufgelehnt, ein Land, sagte die Kanzlerin nach einigem Zögern heute Nacht. Haben wir da von Anfang an zu viel Aufhebens darum gemacht, denn es ist ja auch ein Wesenszug der Europäischen Union, dass Souveränitätsrechte aufgegeben werden, wenn auch teilweise unter Protest?
    Stratenschulte: Ich versuche immer, mir vorzustellen, ich fahre in die Schweiz und an der Grenze zur Schweiz stehen auf einmal griechische Grenzpolizisten und kontrollieren meinen Pass. Das kann ich mir schwer vorstellen. Und die Bundesregierung protestiert dagegen und kann nichts dagegen machen. Das kann ich mir schwer vorstellen.
    Insofern glaube ich, auch aus diesem Grund ist der Widerstand nicht so groß, weil natürlich letztendlich alle wissen, dass ein Einsatz von Frontex gegen den Willen der betroffenen Staaten an deren Landesgrenzen nicht funktionieren wird. Und wenn ich das weiß, dann muss ich auch nicht in einer Nachtsitzung dafür kämpfen, dass das nicht stattfindet, weil es sowieso nicht stattfindet.
    Klein: Sie gehen davon aus, das kommt gar nicht? Man würde in jedem Fall immer versuchen, eine einvernehmliche Lösung herzustellen?
    Stratenschulte: Natürlich. Das ist wie in der Kindererziehung, dass man sagt, wenn du nicht willst, dann greife ich zu anderen Maßnahmen. Aber alle wissen wir, diese Maßnahmen soll es nicht geben und wird es schließlich auch nicht geben.
    "Wir haben ein Europa der unterschiedlichen Ziele"
    Klein: Ein weiterer Punkt noch kurz: Von Hollande hören wir nun wieder einmal, ein Europa der zwei Geschwindigkeiten würde er sich vorstellen. Das ist jetzt auch nicht revolutionär. Wir haben das auf bestimmten Ebenen ohnehin, Beispiel gemeinsame Währung. Wo ist denn das Problem und was würde ein Europa der zwei Geschwindigkeiten jetzt in diesem Falle bedeuten?
    Stratenschulte: Man könnte ja sagen, schön wäre es, wenn wir überhaupt Geschwindigkeit in Europa hätten, und ob es dann ein oder zwei sind, ist nachgeordnet.
    Tatsächlich ist ja das Konzept vom Europa der zwei Geschwindigkeiten relativ harmlos, denn es bedeutet ja, dass wir unterschiedlich schnell uns auf dasselbe Ziel zubewegen. Was wir jetzt im Augenblick haben ist ja, dass wir ein Europa der unterschiedlichen Ziele haben, dass nicht mehr alle Partner dasselbe Ziel anstreben und dass ein Partner auch sagt, nämlich Großbritannien, wir wollen die Ziele insgesamt ändern. Das Europa der zwei Geschwindigkeiten ist ja schon Realität. Das Europa der zwei Ziele - nehmen Sie die Währungsunion oder nehmen Sie auch Schengen, wo ja nicht alle mitmachen, die Rechts- und Innenpolitik, wo ja nicht alle mitmachen - ist auch schon Realität. Insofern sagt Herr Hollande da nichts Neues.
    Klein: Damit sind wir noch mal bei Großbritannien. Da will man die Streitpunkte jetzt bis Februar gelöst haben. Was, glauben Sie, ist bis dahin noch an Einigung mit Großbritannien herzustellen?
    Stratenschulte: Die Schwierigkeit bei Großbritannien ist, dass die Briten bisher immer gesagt haben, wir machen bei irgendwelchen Regelungen nicht mit, aber wir haben nichts dagegen, dass ihr diese Regelungen anwendet. Nehmen Sie Schengen oder nehmen Sie Euro.
    Jetzt sagen die Briten, wir wollen, dass die Regeln insgesamt für alle geändert werden. Das ist natürlich sehr viel schwieriger und das ist vor allem dann noch schwieriger, wenn man den Vertrag ändern muss. Denn selbst wenn man sich bis Februar einigen würde, den Vertrag zu ändern; bis das geschehen ist und bis eine solche Vertragsänderung ratifiziert ist, gehen zwei bis drei Jahre ins Land. Dann ist Herr Cameron vermutlich schon Geschichte und das Referendum auf jeden Fall vorbei.
    Man kann jetzt zu Absichtserklärungen kommen, die letztendlich darauf hinauslaufen werden, dass man überlegt, wieweit man Großbritannien Sonderrechte zugestehen kann, die aber dann nicht den Rechtsbestand der EU insgesamt verändern. Wenn Cameron wirklich darauf drängt, die Gleichbehandlung von europäischen Bürgern in der Europäischen Union aufzuheben, dann wird er damit auf Granit beißen und damit natürlich auch vor der eigenen Klientel als Versager dastehen.
    Klein: Eckart Stratenschulte bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk, Politikwissenschaftler. Er lehrt an der European Academy in Berlin. Ich bedanke mich sehr für das Gespräch.
    Stratenschulte: Herzlich gerne. Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.