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Erhabenes Stück mit dem Titel Glück

Das politische Klima in Weißrussland unter Lukaschenko erscheint auf bizarre Weise zugleich bewegt und erstarrt. Wer das Land und seine Leute verstehen will, kommt an Klinaus Buch nicht vorbei, das bereits zum Klassiker avanciert ist.

Von Ingo Petz | 18.07.2011
    "Ich wurde in der Sonnenstadt der Träume geboren, in der es zwei Städte gab – eine Gesellschaft des Glücks, an die man glaubte, und die Stadt selbst. Die erste Stadt schmolz dahin, die zweite blieb als Monument des Strebens nach dem Unrealisierbaren, als grandioses Drehbuch für ein romantisches, erhabenes Stück mit dem Titel Glück. Die Utopie wurde Realität. Die Insel, die es nicht gibt, gibt es doch. Dafür stehen zwei Zeugen. Die Sonnenstadt und ich."

    Die Sonnenstadt der Träume: Die Stadt, die Artur Klinau in seinem Vorwort schwelgerisch anpreist, ist nicht das schöne Paris oder etwa das sonnige Rom. Es ist Minsk, die Hauptstadt der Republik Belarus oder Weißrussland, wie die ehemalige Sowjetrepublik zwischen Polen und Russland hierzulande genannt wird. Wenn man als Osteuropakenner mit Minsk etwas assoziiert, dann sind es endlos graue Satellitenstädte und sowjetische Monumentalbauten. Aber Sonnenstadt? Den Autor des Buches "Minsk. Sonnenstadt der Träume", Artur Klinau, scheinen alle guten Geister verlassen zu haben. Klinau, 1965 geboren, hat Architektur studiert und ist in seiner Heimat als Bildender Künstler bekannt. Er gehört zu den scharfsinnigsten Vertretern der unabhängigen Kunstszene, die in Opposition zum Regime des Präsidenten Alexander Lukaschenko steht. Die nationale Identität der Weißrussen ist nicht gefestigt, so manchem in der weißrussischen Intellektuellenszene gilt sie sogar als fragwürdig. Das macht sich der Konzeptkünstler Klinau bei seiner Arbeit zunutze – indem er sich mit den sowjetischen und nationalen Mythen seines Landes auseinandersetzt. Das Buch markierte 2006 sein Debüt als Schriftsteller und kann als weiterer Versuch Klinaus gesehen werden, seinem Land neue Ideen, Einsichten und Hoffnungen zu geben - und seiner Stadt Minsk mithilfe eines Mythos neues Leben zu schenken. In einem Interview mit der Zeitschrift "Osteuropa" sagte Artur Klinau:

    "Das Buch ist ein sonniges, optimistisches Projekt, das gefällt mir auch. Denn Weißrussland ist so ein düsterer großer Sumpf – auch hierin ist eine der mystischen Ursachen für das Elend und die Ungereimtheiten bei uns im Lande zu suchen. Ich habe mir einfach eines Tages gesagt: Wenn du glücklich sein und Erfolg haben willst, dann sitz' nicht im Sumpf rum, sondern halte dich an die Sonne. Und ich bin überzeugt davon, dass die "Sonnenstadt der Träume" das Land aus dem Sumpf ziehen wird."

    Dies ist Klinau gelungen. Denn längst ist sein Büchlein zum Klassiker avanciert. Vor allem bei den Interessierten im Westen, die auf der Suche nach einen Buch waren, das ihnen nicht nur die Stadt Minsk, sondern auch die Geschichte und Mentalität der Weißrussen erklärt. Aber auch bei den Lesern in Weißrussland – wo das Buch vor allem in der jungen weißrussischsprachigen Szene als gute Aufklärungshilfe gewertet wurde, die erklären kann, warum Weißrussland bis heute eine Diktatur mit derart willigen Untertanen ist. Artur Klinau entwirft für Minsk eine schillernde Utopie, die sich bei dem 1568 in Kalabrien geborenen Tommaso Campanella bedient. Der italienische Philosoph ersann damals eine Sozialutopie, die er als Sonnenstaat bezeichnet und die bereits Züge eines frühen Sozialismus aufweist. Diesen nimmt Klinau als Fundament für seine Minsker Sonnenstadt - mit ihren vielen stalinistischen Prachtbauten, die sich entlang des Prospektes der Unabhängigkeit reihen, und den prächtigen Palästen für das Arbeiterproletariat, das im Kommunismus bekanntlich als König herrschen würde.

    "Die kommunistische Idee war ein Projekt zur Errichtung des allgemeinen Glücks. Hat die Menschheit jemals eine edlere und schönere Sozialdoktrin formuliert? Gleichheit, Brüderlichkeit, Gerechtigkeit. Eine Gesellschaft der allgemeinen Harmonie, jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen, das Paradies auf Erden, ein Ort, den es nicht gibt, Utopia."

    Minsk und Belarus bieten - so Klinau - den besten Nährboden, auf dem ein utopisches Land entstehen konnte. Stadt und Land wurden in ihrer über 1000-jährigen Geschichte häufig verwüstet. Zuletzt im Zweiten Weltkrieg. Die stetige Erfahrung mit Krieg, Tod und Leid stimulierte den Wunsch der Weißrussen nach dem großen Glück. Für die Sowjets war es ein Leichtes, Minsk architektonisch als Tor zum Kommunismus zu entwerfen und die Menschen in gutgläubige Untertanen eines vermeintlichen Glücksbegriffes zu verwandeln. Utopie und Realität verquickten sich also. Klinau vermischt seine essayartigen Ausflüge in die Geschichte, Architektur oder Mentalitätskunde mit pointierten autobiografischen Erzählungen. Sie geben dem Text eine schönen, leichten Ton und eine erfreuliche Unterhaltsamkeit.

    "Ich wurde in der Sonnenstadt geboren. Das erste, woran ich mich erinnere, ist eine riesige Betonplatte, die ich zu erklimmen versuche. Ich klettere auf den kalten, grauen Block, halte mich mit Händen, Füßen und Zähnen fest. Als ich mich endlich mit großer Mühe hochgezogen habe, ragt dahinter eine zweite, ebensolche Betonplatte in die Höhe. Ich steige auf diese Platte. Als ich oben bin, erscheint die nächste und dann noch eine und noch eine und noch eine."

    "Der Glaube an das gemeinsame Glück muss den Weißrussen mittlerweile buchstäblich eingeprügelt werden", schrieb Ulrich M. Schmid von der NZZ im Erscheinungsjahr des Buches. Mittlerweile gehen die Weißrussen aber auf die Straße. Die Utopie: Sie bröckelt. Klinaus schmales Buch ist zweifelsohne ein Glücksfall. Es hat Minsk als Attraktion in der europäischen Städtelandschaft verortet. Und es hat den Weißrussen geholfen, als Untertanen eines vermeintlichen Glücks ihren eigenen Selbstbetrug hinterfragen zu lernen. Wer Weißrussland verstehen will, kommt an Klinaus Buch nicht vorbei.

    "Artur Klinau: Minsk. Sonnenstadt der Träume". edition Suhrkamp, 175 Seiten, 9 Euro. ISBN: 978-3-518-12491-8.