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Erhards Appell

Die noch längst nicht ausgestandene Finanzkrise ist zugleich zu einer Identitätskrise des kapitalistischen Wirtschaftsmodells geworden, wie wir es aus den vergangenen Jahrzehnten kannten. Es wird immer deutlicher: so wie bisher kann es nicht weitergehen. Der Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel hat sich mit Ausstiegsstrategien beschäftigt.

Von Christoph Birnbaum | 08.03.2010
    Erinnern Sie sich noch an das Wort Ludwig Erhards? Nein, ich meine nicht das vom "Wohlstand für alle!” - sondern das andere, für das der wohlbeleibte, Zigarre rauchende Wirtschaftsminister und Kanzler so berühmt wurde, als er in zahlreichen Rundfunk- und Fernsehansprachen vom: "Maßhalten” sprach. Damals ging es noch darum, nicht zu viel und nicht zu schnell zu konsumieren, damit sich die labile deutsche Nachkriegswirtschaft mit ihrer neuen Währung nicht überhitzen würde. - ”Maßhalten!” - heute klingen Appelle vor einem solchen Hintergrund eher weltfremd. Und doch kommen sie wieder in Mode. Denn das, was Millionen Arbeitnehmer schon seit geraumer Zeit in ihrem Portemonnaie merken, hat nun endlich auch - eher konservative - Volkswirtschaftler erreicht: Aufrufe zu einer neuen Bescheidenheit, zu einem "Weniger ist Mehr”, zur Achtung neuer Tugenden und Werthaltungen, bei denen nicht mehr das rein Materielle, sondern das Immaterielle den eigentlichen Lebenssinn ausmachen soll, liest man heute immer häufiger. Vor allem von Autoren, die dies von der sicheren Bank eines lebenslang verbeamteten, pensionierten Hochschullehrerdaseins machen.

    Nein, das soll keine vorweg genommene Kritik an dem Buch von Meinhard Miegel sein. Ganz im Gegenteil. Miegels Buch geht weit über einen reinen "Maßhalte”-Appell im Erhard'schen Sinne hinaus. Der langjährige Berater von Politik und Wirtschaft, frühere Leiter des renommierten "Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft” in Bonn und heutige Vorstandsvorsitzender des "Denkwerk Zukunft” in Berlin, setzt sich bis in alle philosophischen Verästelungen mit dem heutigen Wachstumsbegriff als Prämisse der westlichen Marktwirtschaft auseinander. Politiker, aber vor allem auch viele Wirtschaftswissenschaftler und Unternehmenslenker, so Miegel, hingen auch heute noch am Fetisch Wirtschaftswachstum wie der Fixer an der Nadel oder der Alkoholiker an der Flasche. Das Stichwort vom "Wirtschaftswachstum” ist dabei mittlerweile so tief in unser aller Köpfe eingemeißelt, dass wir selbst noch da vom Wachstum sprechen, wo beim besten Willen kein Wachstum ist:

    "Der Wachstumsbegriff ist dermaßen positiv belegt, dass er sogar als Euphemismus taugt. Stillstand wird zum Nullwachstum, Schrumpfung zum Minuswachstum."

    Aber kann es, so fragt Miegel, in einer endlichen Welt eigentlich ein unendliches Wachstum geben?

    "Meißelten die Menschen vergangener Zeiten in ihre Türstöcke: ‘An Gottes Segen ist alles gelegen', verhalten sie sich heute so, als könne ihnen mit Wachstum alles und ohne Wachstum nichts gelingen. An den Türstöcken der Moderne ist an die Stelle Gottes das Wachstum getreten, und dieser Gott Wachstum duldet keine fremden Götter neben sich. Alle Systeme, Planungen und Programme wachstumsfokussierter Gesellschaften funktionieren nur unter der Bedingung, dass die materiellen Quellen morgen kräftiger sprudeln als heute."

    Auch das hat man früher schon einmal - 1972 - unter dem Stichwort "Grenzen des Wachstums” von Dennis Meadows beim "Club of Rome” gelesen. Oder auf deutscher Seite etwa von einem Mann wie Herbert Gruhl, der von der "Plünderung eines Planeten” schrieb. Und wer erinnert sich noch an die "Grünen” der ersten Stunde - an solche skurrilen Außenseiter wie Baldur Springmann? Aber vielleicht waren Meadows und Gruhl damals ihrer Zeit einfach voraus. Oder - viel wahrscheinlicher - andere, wie Miegel selbst, sind erst viel zu spät wach geworden. Heute, wo in der Parteienfarbskala Schwarz-Grün niemanden mehr schreckt, schreibt der 72-jährige Wissenschaftler fast ein wenig reumütig:

    "Die Völker der früh industrialisierten Länder sollten einmal ihr kollektives Gedächtnis bemühen, um sich zu erinnern, mit welcher Rigorosität und nicht selten Brutalität sie Männer und Frauen lächerlich gemacht und an den Rand der Gesellschaft gedrängt haben, die schon frühzeitig auf die nachteiligen Folgen der heute dominierenden Wirtschaftsordnung, auf die Endlichkeit von Ressourcen, Umwelt und Natur oder auf die Beschädigung des sozialen Zusammenhangs hingewiesen haben. Gehör fanden sie kaum oder allenfalls in Kreisen, deren gesellschaftlicher Einfluss gering war. Im freundlichsten Falle wurden sie behandelt wie Waldschrate, komische Kobolde."

    Vielleicht muss sich jede Generation, die ältere zumal, aufs neue Rechenschaft darüber ablegen, wie sie die Zukunft für ihre Enkel meistern und vor allem auch erhalten will. Für Meinhard Miegel ist deshalb klar, dass die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise der Gipfel einer umfassenden gesellschaftlichen Fehlentwicklung ist. Der Raubbau an der Natur, die drohende Klimakatastrophe und die Endlichkeit fossiler Energieträger - all das, so Miegel, - lassen ein "Weiter so” einfach nicht mehr zu:

    "Diese Bilanz ist ein Dokument dramatischen Scheiterns. 200 Jahre industriell geprägten Wirtschaftens haben die Menschheit in die größte Bedrängnis ihrer bisherigen Geschichte gebracht. Weiter wie bisher voranzuschreiten ist nicht möglich. Aber auch Rückzugsgebiete sind nicht leicht auszumachen. Manche der angerichteten Schäden sind irreversibel."

    Polkappen und Gletscher schmelzen, der Meeresspiegel steigt - es sind die scheinbar unabwendbaren Menschheitskatastrophen, die Miegel den Schlaf rauben, wie lange vor ihm schon anderen. Das gilt besonders für das weltweit ungebremste Wachstum der Menschheit:

    "Ja, die Erde kann zehn Milliarden Menschen ernähren, aber nach dem derzeitigen Wissens- und Kenntnisstand nur solche, die jeweils ungefähr so viel - das heißt: so wenig - konsumieren, wie heute im Durchschnitt ein Inder. Von Menschen mit den Ess- und Trinkgewohnheiten eines Europäers könnte sie höchstens die Hälfte oder weniger tragen, von Menschen mit der Esslust von US-Amerikanern allenfalls 2,5 Milliarden."

    Deshalb resümiert Miegel:

    "Die von den westlichen Gesellschaften verinnerlichte Wirtschafts- und Lebensweise ist dazu angetan, ihre Existenz auszulöschen - wohlgemerkt die Existenz eines spezifischen Gesellschaftsmodells, nicht die der Menschheit."

    Und damit mein Miegel natürlich den Kapitalismus, wie wir ihn kennen. Die westlichen Industriestaaten stecken in einer Wachstumsfalle. Hat die Soziale Marktwirtschaft unter diesen Bedingungen also überhaupt noch eine Zukunft? Nur dann, wenn wir uns als erstes vom bisherigen wachstumsorientierten Wohlstandsbegriff lösen, und die Kosten des Wachstums - für die globale Umwelt, für das Wohlbefinden der Menschen und vor allem auch für unsere Kinder in einer neuen gesamtgesellschaftlichen Rechnung gegeneinander abwägen:

    "Nur wenn das Wachstum höher ist als die Summe der Aufwendungen, steigt der materielle und vielleicht auch der immaterielle Wohlstand der Bevölkerung. Andernfalls stagniert oder sinkt er. Auf eine Formel gebracht: Materielle Wohlstandsmehrung ist Wirtschaftswachstum abzüglich aller Kosten, die es in der belebten und unbelebten Natur verursacht."

    Manche haben dies vor Miegel mit dem einfachen Begriff der "Nachhaltigkeit” umschrieben und sind zu ähnlichen Schlussfolgerungen gekommen. Nichtsdestoweniger muss man dem Autor zustimmen, wenn er für die Zukunft prognostiziert:

    "Von Jahr zu Jahr wird deutlicher werden, dass der auf Wirtschaftswachstum begründete Wohlstand die Wohlstandsform einer Epoche war, die mit dem 20. Jahrhundert endete. Der Wohlstand des 21. Jahrhunderts ist ein anderer. Zwar wird auch er bedeutende materielle Komponenten enthalten. Sie werden aber nicht groß genug sein, um die bisherigen Wirtschafts- und Lebensformen fortführen zu können. Wohlstand heißt nicht, viel zu haben, sondern wenig zu benötigen."

    Das "wenige” allerdings kommt bei Miegel sehr konventionell daher: Weniger Staat, weniger Schutz, weniger Rente, weniger Ruhestand im Alter, dafür mehr Gemeinsinn, mehr Bürgergesellschaft, mehr mündige Bürger, mehr individuelles Selbstvertrauen in die eigenen Fertigkeiten von Menschen, mehr Selbstständigkeit womöglich sogar neben einem Beruf in Festanstellung, mehr Lebensarbeitszeit, mehr Heimarbeit und mehr familiärer Zusammenhalt und Pflege im Alter. Das alles ist richtig und wahrscheinlich auch unausweichlich - neu ist es aber nicht.

    Trotzdem ist Miegels "Wohlstand ohne Wachstum” ein lesenswertes Buch. Ein nachdenkliches allemal. Und ein aufrüttelndes. Doch verstört fragt man sich am Ende: Ist das, was Miegel dort skizziert wirklich unausweichlich? Zwingend? Nein, wird man Miegel vielleicht doch noch zurufen dürfen: Zwingend ist dies alles nicht. Denn hier schreibt ein Menschheitsskeptizist, der eigentlich wissen müsste, dass Fortschrittsoptimismus die Menschen in der Vergangenheit längst nicht vor allen, aber doch vor etlichen Katastrophen bewahrt hat. Es bleibt wenig Zeit - da hat Miegel recht - aber wer genau hinsieht, merkt, wie die Menschen dabei sind, umzusteuern. Zu Recht!

    Meinhard Miegel: Exit - Wohlstand ohne Wachstum. Propyläen Verlag, 304 Seiten, 22,95 Euro, ISBN: 978-3-549-07365-0