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Éric Vuillard "Die Tagesordnung"
Was Hitler stark machte

Éric Vuillard erzählt große Geschichte mit literarischen Mitteln anders als man es gewohnt ist: knapp, bildreich und höchst eigenwillig. In seinem jüngsten Buch "Die Tagesordnung" widmet er sich den politischen Mechanismen, die Adolf Hitler zur Macht verhalfen und wurde dafür mit dem renommierten Goncourt-Preis ausgezeichnet.

Von Christoph Vormweg | 29.03.2018
    Buchcover: Éric Vuillard: "Die Tagesordnung"
    Éric Vuillard wurde für "Die Tagesordnung" mit dem Goncourt-Preis ausgezeichnet (Buchcover: Matthes & Seitz Verlag, Foto: AFP / Eric Feferberg)
    Die Weltgeschichte ist für Éric Vuillard ein überdimensionaler literarischer Selbstbedienungsladen. Umso erstaunlicher, wie kurz seine Bücher ausfallen. "Die Tagesordnung" handelt er Adolf Hitlers Weg von der Machtübergabe 1933 bis zur Einverleibung Österreichs fünf Jahre später auf gerade einmal 124 Seiten ab. Man könnte auch sagen: Éric Vuillard ist - wie schon seine "Ballade vom Abendland" oder "Kongo" gezeigt haben - ein Trüffelschwein im Wald der Geschichte. Er will mit der Beschreibung von Momenten überraschen, die es so gut wie nie in die Schulbücher schaffen. Die Breitenwirkung, die ihm der lukrative Goncourt-Preis beschert hat, ist in diesem Sinne pädagogisch besonders wertvoll. Denn Éric Vuillard verunsichert unsere Wahrnehmungsgewohnheiten von Geschichte: und zwar nicht als sich objektiv gebärdender Historiker, sondern als äußerst eigenwilliger Schriftsteller.
    Schon die vom Verlag gewählte Gattungsbezeichnung "Erzählung" steht auf wackeligen Beinen. Denn dafür gibt es viel zu viele essayistische und kommentierende Passagen. Unzweifelhaft dagegen ist, dass Éric Vuillard - und mit ihm seine Übersetzerin Nicola Denis - eine hochkarätige Prosa schreibt: mit häufigen, perfekt austarierten Langsatzkonstruktionen. "Die Tagesordnung" beginnt am 20. Februar 1933. An diesem Tag empfängt Reichskanzler Adolf Hitler in Berlin Vertreter der deutschen Großindustrie.
    "Um besser zu verstehen, was dieses Treffen [...] bedeutet, um seinen Ewigkeitsgehalt zu begreifen, müssen wir diese Männer künftig bei ihrem Namen nennen. Nicht mehr Günther Quandt, Wilhelm von Opel, Gustav Krupp […] versammeln sich […]; es müssen andere Namen her. Denn Günther Quandt ist ein Deckname; hinter ihm verbirgt sich etwas ganz anderes als der Biedermann, der sich gerade den Schnurrbart schmierig macht [...]. Hinter ihm, ganz dicht hinter ihm schwebt eine ungleich imposantere Silhouette, ein übermächtiger Schatten, […] die Accumulatoren-Fabrik AG, die spätere Varta, die wir kennen. […] So also lautet der eigentliche Name der Quandts, ihr Demiurgenname, denn er, Günther, ist nur ein winziger Haufen Fleisch und Knochen, wie Sie und ich, und nach ihm werden seine Söhne und die Söhne seiner Söhne den Thron besteigen. Der Thron aber bleibt, wenn der kleine Haufen Fleisch und Knochen in der Erde verschimmelt."
    Das Kuschen vor dem "Führer"
    Gleich mit diesem Einstieg unterläuft Éric Vuillard einen Gründungsmythos der Bundesrepublik: den Mythos vom 8. Mai 1945 als "Stunde Null". Mit ihm wollte man suggerieren, dass nach der Kapitulation Nazi-Deutschlands alles in schöner Gleichberechtigung von vorne losgehe. Doch die 24 Großunternehmen, die am 20. Februar 1933 viele Millionen Reichsmark für die NSDAP spendeten, gab es auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch. Und hier liegt sicher ein Grund dafür, warum Vuillards "Tagesordnung" in Frankreich so viel Aufsehen erregt hat. Denn unter den Zwangsarbeitern von Unternehmen wie Krupp oder I.G. Farben waren auch Franzosen. Mehr noch: Die großen Nazi-Unterstützer und Kriegsgewinnler der deutschen Wirtschaft sind nie angemessen bestraft worden.
    Das aber ist nicht der einzige Skandal, den Vuillard an den Pranger stellt. Er zeigt auch, wie tölpelhaft sich die Spitzenpolitiker Englands, Frankreichs und Österreichs von Hitler an der Nase herum führen ließen. Eklatantestes Beispiel: der österreichische Bundeskanzler Kurt Schuschnigg. Voller Sarkasmus kommentiert Vuillard sein jahrelanges Diktatorengehabe daheim und das anschließende Kuschen vor dem "Führer":
    "Wer acht Jahre zuvor eine paramilitärische katholische Jugendgruppe angeführt und auf der Leiche der Freiheit getanzt hat, kann nicht hoffen, dass sie ihm auf einmal zu Hilfe eilt! […] Kein marmornes Wort wird seinem Mund entfleuchen, kein Gnadenfunken, kein Bote des Lichts, nichts. Sein Gesicht wird nicht in Tränen baden. Schuschnigg ist nur ein Kartenspieler, eine Kalkulierungsniete; er scheint wirklich an die Redlichkeit des deutschen Nachbarn geglaubt zu haben, an die Loyalität der gleichwohl erpressten Abkommen. Er erschreckt sich ein bisschen spät; er beschwört die einst verhöhnten Göttinnen, fordert lächerliche Zusagen für eine mausetote Unabhängigkeit. Er hatte der Wahrheit nicht ins Gesicht sehen wollen. Jetzt ist sie es, die zu ihm kommt, ganz dicht heran, grauenvoll und unvermeidlich. Und sie spuckt ihm das schmerzliche Geheimnis seiner Kompromisse ins Gesicht."
    Éric Vuillard zeichnet die Politik als Jammertal der Eitelkeiten, des kleinlichen Denkens, der Aufgeblasenheit, des Verrats an der eigenen Bevölkerung. Doch nicht nur Kommentierlust und Süffisanz geben seiner Prosa die innere Dynamik, sondern auch die Freiheit, mit der er durch die Zeiten springt - und zu fernen Orten. So wirft er überraschende Seitenblicke auf den Nazi-Kostümfundus 1938 in Hollywood oder auf das Werk des in der französischen Psychiatrie geparkten Louis Soutter, der in seinen Kunstwerken intuitiv das Drama der Epoche spiegelt. Oder er porträtiert den Henker, der nach den Nürnberger Prozessen Schuschniggs Nachfolger als österreichischer Kanzler hinrichtet. Vuillard schreibt nach der Devise:
    "Die Literatur erlaubt alles, heißt es. Demnach könnte ich [meine Figuren] endlos über die Penrose-Treppe schicken, sie würden weder hinunter- noch hinaufsteigen, sondern auf immer und ewig beides auf einmal tun. Tatsächlich gleicht dies in mancher Hinsicht der Wirkung, die Bücher auf uns haben. Die Zeit der Wörter, kompakt oder flüssig, undurchdringlich oder buschig, dicht, gedehnt oder körnig, versteift die Bewegungen, friert sie ein."
    "Flache Witzchen sparen"
    "Die Tagesordnung" - heißt es im Verlagskatalog - sei "ein notwendiges Buch, das eine überfällige Geschichte erzählt". Notwendig und überfällig: Beides greift viel zu hoch. Denn die Ingredienzien von Éric Vuillards Geschichtscocktail sind alle seit langem bekannt. Das aber ändert nichts an der Klasse seines Buchs - wenn auch mit Einschränkungen. Denn Vuillard hätte sich als 50jähriger Nachgeborener die gelegentlichen Anfälle moralischer Empörung sparen können, auch manches flache Witzchen. Die diplomatischen Tragödien, die er darstellt, sprechen für sich, auch der Sarkasmus, mit dem er die europäischen Machtjongleure als realitätsfremde Egomanen porträtiert. Wunderbar zum Beispiel, wie er die unterschwelligen Sympathien englischer Politiker für Hitler ins Bild rückt: weil sie 1938 als alte Kolonialisten kaum weniger rassistisch dachten als er - und antikommunistisch sowieso. Brillant auch der Hinweis auf die Langzeitwirkungen von filmischem Propagandamaterial. Denn mit der Macht der Bilder kennt sich Vuillard, der auch als Filmregisseur arbeitet, bestens aus.
    "In einem bestürzenden Fluch haben sich die Filme von damals in unsere Erinnerungen verwandelt. Der Weltkrieg und sein Präludium werden in diesem unendlichen Film mitgerissen, in dem das Wahre nicht mehr vom Falschen zu unterscheiden ist. Und da das Reich mehr Regisseure, mehr Schnittmeister, Kameramänner, Tontechniker und Maschinisten rekrutiert hat als alle anderen Protagonisten dieser Tragödie, kann man sagen, dass bis zum Kriegseintritt der Russen und Amerikaner die Bilder, die uns vom Krieg überliefert sind, für die Ewigkeit von Joseph Goebbels inszeniert wurden. […] Die Wochenschauen werden zum Vorbild der Fiktion. So erscheint der Anschluss als grandioser Erfolg."
    Die Wirklichkeit sieht anders aus: kein Triumphmarsch in Richtung Wien, sondern ein gigantischer Panzerstau, der ganz gewiss nicht auf der Tagesordnung stand. Auch hier profitiert Éric Vuillard vom Wissensvorsprung der Nachwelt. Sein Kondensat der Propagandadämpfe zwischen 1933 und 38 ist immer lehrreich und wegen der literarischen Finessen ein Leseerlebnis. Er präsentiert uns einen intelligenten, nie langweiligen, stets sprachverliebten Blick auf die deutsche Geschichte, der in keine Schublade passt - nicht in die der Dokufiction, nicht in die der Erzählung. Denn Vuillard, dieser unruhige Geist, will immer Vuillard sein, der sich mal mokiert, mal in poetischer Betrachtung verliert, mal luzide, pointierte Bögen aus den 1930er Jahren in unsere Gegenwart schlägt.
    Éric Vuillard: "Die Tagesordnung"
    Originaltitel: L'Ordre du Jour (Französisch), Übersetzung: Nicola Denis
    128 Seiten, Gebunden mit Schutzumschlag, Preis: 18,00 Euro