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Erinnerung als erlebte Gegenwart

Rheinland-Pfalz ist nicht nur die Herkunftsregion von Gabriele Weingartner, sondern auch ein wichtiger Aktionsradius ihrer kulturjournalistischen Arbeit. Ihre eigenen Prosawerke dagegen waren in der Ferne angesiedelt. Erst mit "Tanzstraße", ihrem vierten Roman, ist die 61-Jährige in ihrem pfälzischen Geburtsort angekommen.

Von Dorothea Dieckmann | 17.06.2010
    Was ist das, ein Elternhaus? ... Mein Elternhaus liegt jedenfalls in einer Straße, die Tanzstraße heißt. Nirgendwo sonst, in keiner deutschen oder österreichischen Stadt habe ich je eine Tanzstraße gefunden. Du etwa? Wetten, dass du mir jetzt sagen würdest: Versuch es bei Google! Bei einer dieser Suchmaschinen! Ich aber könnte wetten, dass es die Tanzstraße bei Google nicht gibt.
    Sollte sich der Leser oder die Leserin aufgefordert fühlen, die Wette einzugehen und die titelgebende Straße im Internet zu finden, so wäre das der geeignete Weg, auch den dazugehörigen Ort zu lokalisieren. Denn Gabriele Weingartner hat den Namen ihrer Geburtsstadt Edenkoben, den von Weinbergen umgebenen Sitz eines bekannten Künstlerhauses für Literatur-Stipendiaten, seltsam verschämt mit E. abgekürzt, obwohl – oder weil – das Städtchen sozusagen die Hauptfigur ihres Romans darstellt. Lilian, die Erzählerin, wendet sich mit dem Du allerdings an ihren Geliebten. Es ist eine komplizierte Liebe am Rand der Trennung. Denn Lilian ist um einiges älter als der knapp 40-jährige Martin. Um wie viel, darin schwanken die Angaben. Heißt es einmal, ein Erlebnis der 16-Jährigen liege 40 Jahre zurück, was bedeuten würde, dass Lilian 56 ist, so spricht sie an anderer Stelle von einem Vierteljahrhundert Altersunterschied, der sie folglich zur Mittsechzigerin machen würde. Jedenfalls bezeichnet sie sich gnadenlos als "alte Schachtel", mokiert sich über die "Rauten" auf ihrer Haut und kratzt ihre Altersflecken blutig. Viel schwerer aber wiegt die unsichtbare Geschichte.

    Du merkst schon, warum ich Dich verlassen muss, mein Liebster. Meine Erinnerungen führen dich in eine andere Zeit, mitten hinein in ein anderes Jahrhundert. Zwischen deiner und meiner Kindheit liegen Welten, Ewigkeiten, Abgründe. Höllenqualen für ein falsches Credo. Pißrinnen für evangelische und katholische Kinder. Kratzige Leibchen, an denen man Strümpfe mit Strapsen fixierte, deren Gummibänder schnell ausleierten, dass sie sich zu kräuseln begannen und wie Buschwindröschen aussahen, für die man sich schämen musste.
    Lilian hat sich an den Ort dieser Erinnerungen begeben, nachdem Martin sie in einem Streit aufforderte, ihre Kälte zu suchen oder, in ihren Worten, "den Beginn ihrer Herzlosigkeit." Die langen Briefe, die sie aus ihrer Heimatstadt schreibt, liest Martin, dessen Standpunkt zwischendurch aufgenommen wird, nach einer weiteren Zäsur: Lilian liegt in Frankfurt auf der Intensivstation, weil sie in Edenkoben von einem Auto angefahren wurde. In ihren Schilderungen werden die fünfziger und sechziger Jahre lebendig und mit ihnen die äußere und innere Provinz der Nachkriegszeit, dumpf, autoritär und bigott. Da sind die Eltern, die ein Wäschegeschäft führen: Der Vater ist als Handlungsreisender mit Büstenhaltern und Miedern unterwegs und geht allerorten fremd, die Mutter beherrscht den familiären Gefühlshaushalt. Da sind der kriegsversehrte Lehrer, die Friseurin mit dem hochtoupierten, wasserstoffblondierten Haar, der unzuverlässige, gewissermaßen falsch tickende Uhrmacher, die Putzfrau Anna, die im Elendsquartier "Russischer Hof" wohnt, und dazu all die Requisiten der kargen, harten Zeit des sogenannten Wirtschaftswunders, Ochsenschwanzsuppe und Stopfnadeln, Resopal und Holzwolle, Hula-Hoop-Reifen und Gummibäume, vor allem aber Ölöfen, klamme Finger und Eisblumen.

    Ob es also im Nachhinein betrachtet tatsächlich die Kälte war, unter der ich litt? Darunter, dass es keine Zentralheizung gab ...? Dass es eine Heldentat war, im Winter aus dem warmen Bett zu steigen, um mich mit klappernden Zähnen anzukleiden? In der milchigen Dämmerung, die von den vereisten Fensterscheiben herrührte, deren Blumenmuster zu zerstören ich leider vor der Schule keine Zeit mehr hatte?
    Was Lilian lebenslang frieren lässt, ist jedoch eine andere Kälte, zu deren Ursache sich die Briefschreiberin erst gegen Ende vorarbeitet. Es ist die Zuneigung zu dem Flüchtlingskind Uli, der zusammen mit seiner Schwester den von den Mitschülern gequälten und gemobbten Außenseiter darstellt und sich später mit seiner hochmütigen Intelligenz zum existenzialistischen Boheme-Jüngling mausert. Die kurze Affäre endet mit einer durch die Mutter organisierten Operation auf dem Esszimmertisch, auf dem die 16-Jährige chloroformiert wird. Ausgerechnet auf Seite 218 kulminiert die Schilderung dieser Abtreibung, einer traumatischen Erfahrung von verschwiegener Brutalität, Doppelmoral und Verdrängung:

    Es war ein Bündnis, das Mutter und Tochter darin bestärken sollte, etwas zu vergessen, das nicht hatte sein dürfen. Gemeinsames Vergessen ist besonders wirkungsvoll, gemeinsames Vergessen garantiert doppeltes Vergessen, darin sind wir Deutschen geschickt. Und in der Tat haben wir, nachdem ich die ersten schlimmen, schwächlichen Tage überstanden hatte, nie wieder über unser Geheimnis gesprochen.
    Das so detaillierte wie eindringliche Bild dieser kümmerlichen und kummervollen Kindheit und Jugend im Nachhall des Krieges wird jedoch dadurch getrübt, dass sich Gabriele Weingartner einer allzu redundanten Erzählweise bedient, die kaum ins Genre der Briefe passt. Kaum ein Einfall, der nicht in eine seitenlange Schilderung mit Aufzählungen, Wiederholungen und Kommentaren mündet. Elaborierte, ja fast gemütlich sorgfältige Bandwurmsätze machen sich selbst in der direkten Rede breit, flankiert von einer betulich lockeren Mündlichkeit, die vor Ausdrücken wie "im Eifer des Gefechts" und "starker Tobak" nicht haltmacht. Der behäbige Ton, der sich sogar auf Martins untergeordnete Perspektive überträgt, schmälert die Glaubwürdigkeit des Themas. Man hätte diesem schönen Versuch über die Fortdauer des Vergangenen in Deutschland mehr Mut zur Lücke und mehr Vertrauen auf die suggestive Kraft einer knapperen, durchlässigen und eigenwilligen Sprache gewünscht – denn was ist Erinnerung anderes als erlebte Gegenwart?

    Gabriele Weingartner: "Tanzstraße". Roman, Limbus Verlag, 251 S.