Freitag, 19. April 2024

Archiv


Erinnerung an Thomas Kling

Die literarische Zeitschrift "Schreibheft" veröffentlicht in ihrer Ausgabe Nummer 76 unter dem Titel "Das brennende Archiv" bislang Unveröffentlichtes oder zu Lebzeiten des Lyrikers Thomas Kling nur entlegen Publiziertes.

Von Cornelia Jentzsch | 08.08.2011
    "Sprachhaus Buchkammer, aus denen Flammen schlagen, aus denen fremde Aschenseiten auferstehen, wie Projektile atmende kurzlebige durchsichtige Sprachen. Das sind geschwinde Schatten dicht flammender Membran, Flammengliedmaßen, die sich strecken. Fallender Schnee. Schrift ist durch einen Schneesturm waten ich höre mein keuchen, stimme im Stiemen, im Brausen das angegriffene Ohr mit dem das hören, erst erschrieben werden muss, polternde Asche johlender Schnee, der durch die Nacht fällt. Die Mitbrüder kopieren, der Kopist bin ich..."

    So kennt man Thomas Kling aus seinen bekannten Gedichtbänden - hier eine akustische Probebohrung aus dem 1999 veröffentlichten "Fernhandel" mit CD. Durch posthume Publikationen wie das Schreibheft wird Thomas Kling erneut eine Stimme verliehen und die Erinnerung an ihn wachgehalten. Denn Kling sei unter den Lyrikern für ihn noch immer der wichtigste seiner Generation, sagt Norbert Wehr. Als nächste Veröffentlichung in einem Verlag könnte sich Wehr ein Hörbuch vorstellen, es warten noch reichlich unaufgearbeitete Mitschnitte von Lesungen im Hombroicher Archiv.

    Im Fall Thomas Kling fast ein Muss, solch ein eigenständiges Hörbuch, denn seine Auftritte und Sprachinstallationen sind legendär. Nicht "Performances" – vom Showeffekt grenzte sich Kling stets ab. Ihm war das Schürfen nach sprechendem Material in Tiefenschichten wichtiger. Um anschließend mit dem zutage Geförderten "Sprach-Räume mit Stimme gestalten", wie er selbst einmal seine Liveauftritte beschrieb. Der ausgebildete Historiker Kling suchte im Sprachmaterial nach den Restablagerungen der Geschichte, ihren untilgbaren Rückständen. Dichten - das hieß für ihn spracharchäologische Arbeit, das Graben im Gelände.

    " …sind schwer einsehbare Räume, Schauplätze: die Aschenplätze der Geschichte CNN Verdun. Es öffnen zeigen Landschaften ihre Körper den geöffneten Körpern: Sie öffnen sich dem Vergessen. Diese Körperlandschaft zeigt sich: Wände spitzen schroffen Querverschneidung; zeigt sich, wenn die Zunge sichtbar als Organbank wird, als Bilderclaim. Als Sprachbank zeigt die Körperin sich kunstvoll tranchiert und lässt die Zunge sich als Zunge auf der Zunge zergehn – geht das klar? CNN Verdun in Kehlgräbenn und Sprachdepots. Bebildert. Sonnenuntergänge pittoresk wie Bibliotheksbrände! Hängt eben von der Belichtung ab..."

    In einem 2001 im Band "Botenstoffe" abgedruckten Gespräch sagte Thomas Kling, dass er seine Aufmerksamkeit jedem geografischen Geschichtsraum zuwende, egal, ob es sich um das Rheinland, in dem er geboren wurde und aufwuchs, oder um eine andere Region als deutsches Thema handele. Ihn interessiere jede Land- oder Stadtschaft "als eine riesen summende Insektengesellschaft, wo man die einzelnen Stimmen dann herauspräparieren muss." Nicht nur als Historiker, sondern überhaupt als geschichtsinteressierter Zeitgenosse beschäftigte sich Thomas Kling mit Manhattan ebenso wie mit altösterreichischen Themen, "mit Vielvölkerstaatsgeschichte sozusagen", wie er erklärte. Und das bleibt global ein nach wie vor heißes und zu durchleuchtendes Thema.
    Thomas Kling, der seine ersten Gedicht-Kassiber in die bundesdeutsche Literaturlandschaft in der Zeit der Neuen Subjektivität schickte, grenzte sich von dieser sich ins Innere und private zurückziehenden Literatur von Anfang an ab. Ihn interessierte vielmehr das Brodelnde und Schäumende an der Sprache, ihre unauflösbare Verschränktheit mit der bundesdeutschen Herkunft und Gegenwart, ihre subversive Komplexität und Mehrschichtigkeit. Auch sprachtechnisch ließ ihn jeglicher damals angesagte Mainstream oder gar Bildungskanon kalt. Kling ließ sich lieber von einem wie Oswald Wolkenstein etwas über Sprache erzählen, der in seinen Texten "bis zu einem halben Dutzend verschiedener Sprachen miteinander komprimiert" habe. Kling interessierten Konrad Bayer, Jean Paul oder Paul Celan und dessen Interesse an Spracharchäologie. Oder Johann Michael Moscherosch, Quirinus Kuhlmann, Kaspar Stieler, die den "konspirativen, zusammenatmenden Austausch"– so Kling – von Jargon und Slang zu schätzen wussten. Denn hier sprachen die "Hebräischreste, Jiddischreste", eben "Schattenreste" noch immer. Alle diese Dichter waren Thomas Kling Brüder im Geiste einer intellektuellen Widerständigkeit und Eigensinnigkeit.
    Der aus einer Stadt der Werbeagenturen, wie er selbst sagte, stammende Thomas Kling verwendete auch aus medientechnischer Sicht das "Polylinguale" und Gleichzeitige der verschiedenen Sprachschichten. Schon allein deshalb müsse man eigentlich, wie er mal forderte, "heute das 1879 ausgestorbene Tasmanisch wieder erfinden".

    Die im Schreibheft veröffentlichte Kling-Sammlung "Das brennende Archiv" hält also im wahrsten Sinn des Wortes ein arbeitendes, noch immer kräftig glühendes Material bereit. Denn "draußen" arbeitet weiter "das zerschrappte, die verplemperten Sprachen", wie es dort heißt. Und dafür braucht es nach wie vor die "Augenverstärkung", so der Titel des Klingschen Gedichts von 1985. Unter diesem, in einer Fußnote, hatte Kling damals in Düsseldorf noch notiert: "dass ich den ununterbrochenen und in steigendem Maße heftiger auf mich einknallenden Sprachen nur mehr mit der Papierschere gegenüberzutreten mich in der Lage sehe ... nach dem Anlesen, beispielsweise eines Zeitschriftenartikels, dito Postwurfsendung, schnibbel ich bereits darin herum, schneide aus, ganzes oder passagenweise, manchmal genügt schon eine mich backpfeifende (Bilt)unterzeile; MUSS ALLES RAUS AUS DEM ZUSAMMENHANG ... die kenn kein Verfallsdatum, die sprachen Materialarchive ..."

    Viel erfährt man im Schreibheft über Thomas Klings Arbeitsweisen anhand solcherlei Notizen, anhand auch von Faksimiles selbstgefertigter Collagen und Gedichtüberarbeitungen. Auch das ist das Heft: eine optische Fundgrube. Abgebildet auf mehreren Seiten finden sich handschriftliche Vorfassungen des Gedichtzyklus "Vogelherd. Mikrobucolica", den Kling später in seinen Gedichtband "morsch" aufnahm. Ein einziger Tonmitschnitt gibt es übrigens vom "Vogelherd" – auch dieser Schatz wartet im Archiv, um gehoben zu werden. Umso erfreulicher, das dieses Thomas Kling gewidmete Schreibheft im Suhrkamp-Verlag 2012 als Taschenbuch erscheinen und damit noch mehr Leser gewinnen wird.

    Im Titel "Das brennende Archiv" stecken viele Anklänge: sie reichen von Thomas Klings Gedicht "brennstabm" bis zur brennenden Bibliothek Umberto Ecos, von brennender, arbeitender, erhitzter Sprache bis zum etymologischen Schmelztiegel.

    Weit vor seinem Tod, im Jahr 1997, hatte Thomas Kling ein Gedicht geschrieben, in dem er noch einen anderen Gedanken hinzufügte: "Menschen gedenken eines Menschen. Herz – brennendes Archiv! ... die Formel Tod, die Überfahrt - die wir zu übersetzen haben."

    Auf die Frage "Was fehlt mit Thomas Kling?" antwortet der Herausgeber des aktuellen Schreibhefts, Norbert Wehr: Es fehlt schmerzlich ein Dichter, der so dezidiert wie Kling an historischen Stoffen arbeitete. Es fehlt die Unbedingtheit und Frechheit von einem, der noch immer den Anspruch hatte, Avantgarde zu sein. Der an der Entwicklung von Dichtung und Sprache arbeitete. Der stets versuchte, die Mittel zu reflektieren und an einer bestimmten Tradition weiterzuarbeiten. Jemand wie Kling, der all das dezidiert tat, überzeugend. Bei vielen Autoren der Nachfolgegeneration sehe Wehr große Intelligenz und Begabungen. Aber er wisse oft nicht, warum sie schreiben und was sie umtreibe - ihm seien ihre Stoffe fremd. Doch einer wie Kling, der als Nachkriegskind immer an historischen Stoffen und Motiven brennend interessiert war – eine solch vergleichbare Option ist nicht zu entdecken.

    Bei vielen Autoren fehle ganz einfach der Geschmack im Mund - und den hatte der Kling.