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Erinnerungen einer Ärztin an Tschernobyl (5/5)
Paulina Zerluk ist Optimistin geblieben

Tschernobyl hat das Leben vieler Menschen in der Ukraine und in Belarus für immer verändert. Wer selbst der Strahlung ausgesetzt war, hatte oft mit Krebs zu kämpfen - auch Paulina Zerluk. Dennoch blickt die Ärztin optimistisch in die Zukunft und will mit ihren Erlebnissen alleine zurecht kommen.

Von Frederik Rother | 17.11.2017
    Paulina Zerluk sitzt an ihrem Klavier
    Paulina Zerluk spielt noch immer Klavier (Deutschlandradio/ Frederik Rother)
    Paulina Zerluk steht auf ihrem Teppich im Schlafzimmer und macht Gymnastik. Sie bewegt Arme und Beine zum Takt der Musik. Als würde sie marschieren. Ihre Füße mit den pink-schwarzen Socken stampfen auf den Boden, die graublonden Haare wippen mit. Sie steht mitten im Raum, mit Gymnastikhose und Sport-T-Shirt.
    "Shalom aleichem" heißt der Popsong. Hebräisch für "Friede sei mit dir". Dann klatscht sie freudig in die Hände. Gymnastik macht sie regelmäßig.
    "Jeden Tag, jeden Morgen. Aber nicht so kurz. Ich versuche insgesamt eine Stunde oder etwas mehr."
    Sport hat sie ihr ganzes Leben lang fit gehalten, erzählt sie etwas außer Atem. Schwimmen, Radfahren, Laufen. Damit ist sie 87 geworden. Paulina Zerluk ist eine aktive, kraftvolle Seniorin. Sie lacht viel:
    "Ich bin Optimist. Ich habe große Willen zu leben, ich bin starke, willende Frau. Manche erstaunt, dass ich noch lebendig."
    Geteiltes Leben: Vor Tschernobyl, nach Tschernobyl
    Trotz vieler Rückschläge und Herausforderungen: Als sie nach Deutschland kam, konnte sie kein Wort Deutsch. Im Zweiten Weltkrieg hat sie ihren Vater verloren. Und dann natürlich: Tschernobyl.
    "Für uns, das war so schrecklich, dass mein Leben geteilt. Vor Krieg und nach dem Krieg. Vor Tschernobyl und nach Tschernobyl."
    Der Atomunfall und der einwöchige Einsatz vor Ort haben ihr Leben verändert, erzählt sie ernst. Sie wurde krebskrank, Freunde und Kollegen sind gestorben. Paulina Zerluk ist sich sicher: Eine Folge der hohen Strahlenbelastung.
    "Ich erinnere mich, als ob es gestern geschah. Ich habe verloren so viele meiner Freunde, junge Freunde. Ich war in Verzweiflung, nicht nur traurig."
    Verzweifelt auch, weil ihre Tochter Olga zur Zeit des Atomunfalls schwanger war. Sie zeigt auf ein Foto von Olga, das an der gelb gestrichenen Schlafzimmerwand hängt. Eine Frau mit blonden Locken und sympathischem Lächeln:
    "Können Sie vorstellen, der Gedanke: Was ist? Welches Kind, normal oder nicht? Als er geboren, ich hatte Angst zu kommen. Und ich bat einen Arzt zu kommen und sehen, ob er außen normal – so Angst war."
    Sorge, ob der Enkel gesund zur Welt kommt
    Am Ende kam ein fast gesunder Enkel auf die Welt. Aber die Angst vor Fehlgeburten und Missbildungen ging um. Viele Ärzte empfahlen zu der Zeit sogar abzutreiben. Deswegen ist es Paulina Zerluk wichtig, dass die Katastrophe von Tschernobyl nicht in Vergessenheit gerät:
    "Vielleicht man muss erzählen. Erzählen in den Schulen. Und darum ich halte es für meine Pflicht, zu erzählen."
    Hiroshima und Nagasaki, die Namen kenne jeder, sagt sie. Aber wenn sie mit anderen Menschen über ihre Tschernobyl-Erfahrungen spricht, wüssten viele nicht Bescheid.
    "Ich habe über mich erzählt. Ich habe gesagt, dass ich in Tschernobyl. Sie waren wo? Ich sage in Tschernobyl. – Was ist das?"
    Das bedrückt Paulina Zerluk. Der Einsatz, die Strahlenschäden, das Leid – bis heute ist das ihr Lebensthema. Aber sie will damit alleine zurechtkommen.
    Paulina Zerluk muss auch ihre Wohnung alleine in Schuss halten. Bis heute putzt und kocht sie. Zum Beispiel Borschtsch – eine ukrainische Kohlsuppe. Und sie macht Marmeladen ein, wie sie stolz erzählt. Paulina Zerluk geht zum Kühlschrank. Darauf liegt eine große Plastiktüte, darin mehrere Gläser mit verschiedenen Marmeladen und Konfitüren.
    "Wenn Sie möchten, können Sie probieren diese. Diese habe ich alle selbst gemacht. Das ist aus Persik, Erdbeeren."
    Sie wird noch lange Marmeladen machen, sagt sie trotzig. Dann nimmt Paulina Zerluk einen Teller aus dem Schrank und gibt eine große Portion Aprikosen-Konfitüre darauf.
    "Wenn Sie wollen, jetzt oder später, probieren Sie andere. Sie alle schmecken gut!"
    Viele ukrainische Freunde in Koblenz
    Paulina Zerluk hat in Koblenz viele ukrainische Freunde. Man kennt sich, eine kleine Familie. Aber diese Menschen sehen immer nur eine Seite von ihr, erzählt sie. Die fröhliche, die der starken Frau. Mit den Folgen des Atomunfalls ist sie oft allein:
    "Ich habe Traum in der Nacht, ich wache mit Schwitzen auf, wenn ich mich an das Bild erinnere."
    Erinnerungen, die sie nicht los lassen:
    "Diese schreckliche Ereignis, man kann das nicht vergessen. Diese Katastrophe, das war Risiko für Welt! Diese können wir nicht vorstellen. Wir wohnen hier, aber dieses Thema ist unsere Schmerzen – für immer! "
    "Musiker brauchen immer wieder warme Hände, dass sie etwas besser… Wo ist meine Brille?"
    Paulina Zerluk reibt sich die Hände, sie sucht ihre Brille. Sie will auf dem E-Piano spielen, das in ihrem Schlafzimmer steht. Das erinnert sie an früher, sagt sie. An die schönen Zeiten in der Ukraine.
    "Jetzt ich versuche etwas…"
    Es ist nicht perfekt, sie verspielt sich etwas. Aber Paulina Zerluk gibt nicht schnell auf.
    "Ich bin immer glücklich. Ich brauche keinen Psycholog, ich muss selbst mein Leben ausmachen."
    Dann fängt sie wieder von vorne an.