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Erinnerungen eines in der Nazizeit Verstoßenen

Georges-Arthur Goldschmidt gehört zu den wichtigsten noch lebenden Zeitzeugen der Schoah. In seiner Erzählung "Ein Wiederkommen” lässt der 18-jährige Arthur Kellerlicht seine Internatszeit im Département Haute-Savoie hinter sich und reist nach Deutschland zurück. In das Land, aus dem er verstoßen wurde, weil er Jude ist.

Von Hans-Jürgen Heinrichs | 01.08.2012
    In der Erzählung "Ein Wiederkommen” lässt der achtzehnjährige Arthur Kellerlicht seine Internatszeit im französischen Département Haute-Savoie, südöstlich von Genf hinter sich, reist nach Paris, von dort in eine Kleinstadt, wo er sein Abitur beenden soll und kommt schließlich wieder nach Deutschland, in das Land seiner Kindheit, so wie es auch der Titel verheißt.

    "Auf einmal stand das Haus da vor einem, mit Frontgiebel und Balkon, wie gezeichnet, genau wie in der Erinnerung, und doch wirklich zum Anfassen da, es stand ganz einfach da in der Luft, doch war alles vorbei, es hatte diese ganze Zeit gegeben mit all dem Stehen zwischen einem selbst und dem Elternhaus und der Wand: und hinter dieser Wand die ganze verlorene Zeit."

    Für den 1928 in Reinbek bei Hamburg geborenen Georges-Arthur Goldschmidt, der hier die Rolle des Erzählers einnimmt und sein alter ego auf Reisen schickt, ist zwar die Flucht als Zehnjähriger aus Nazideutschland eine schicksalhafte Fügung in größter Not gewesen, hat aber auch zeitlebens in ihm das Gefühl hinterlassen, verstoßen worden zu sein. Zugleich aber empfinde er - so versichert er - an jedem Morgen in seiner neuen Heimat Paris, wo er seit Ende des Krieges als Schriftsteller, Essayist und Übersetzer lebt, eine sich immer wieder neu einstellende Freude darüber, überhaupt am Leben zu sein.

    "Jüdischer kann man gar nicht sein, als ich es bin. Aber meine Großeltern haben sich taufen lassen, und ich wurde als lebensunwertes Unwesen betrachtet und konnte rechtzeitig noch weg. Und im Krieg in '43 haben fünf Franzosen ihr Leben riskiert für einen jeden Abend ins Bett pissenden unmöglichen Jüngling, und ich habe die Leute gesehen, die Deutschen, die mich und meinen Bruder abholen kamen. Ich weiß, was das bedeutet, Todesangst empfinden, das wünsche ich nicht meinem ärgsten Feind. Ich habe keine Feinde, aber hätte ich einen, das würde ich ihm nicht wünschen. Und jeder Augenblick meines Lebens ist ein Geschenk."

    Dass Schreiben das Leben retten und eine neue Heimat bereitstellen kann: bei kaum einem anderen Schriftsteller ist man so augenblicklich von dieser Wahrheit überzeugt. Und davon, wie unglaublich nah die Poesie, das Grauen und die Rettung beieinander liegen können. Die Erzählung "Ein Wiederkommen” beginnt mit einer Zugfahrt.

    "In der leicht gewellten Ebene fuhr der Zug durch Felder und Wiesen, von weit ausholenden Eichen gesäumt, deren Kronen in der Mondhelle Nachtschatten warfen.”

    Begleitet wird der kleine Junge von Baron von Weinbein, der in Lyon von der Miliz verhaftet und zum Tode verurteilt worden war.

    "Allmählich erfuhr man, dass er ein Jahr zuvor in Lyon von der Miliz verhaftet und zum Tode verurteilt worden war und im Gefängnis des Fort Monluc in den noch blutfeuchten Betttüchern eines von der Gestapo gefolterten französischen Widerstandskämpfers hatte schlafen müssen. Da am Tage seiner Hinrichtung Lyon von der Résistance befreit wurde, hatte er überlebt.”

    Der Junge, herausgefallen aus der beschützten Welt wohlhabender Eltern, "ausgesetzt”, da "geburtsschuldig”, sucht bei allen Personen Halt; lehnt sich an die Internatslehrer (die ihm "die Rute geben”, als sei es ein Pfand auf Geborgenheit), an den Baron, seinen Englischlehrer, der ihn zu seiner neuen Beschützerin, einer Cousine, bringt. Es ist, als habe sich dem Jungen die Erfahrung der Vertreibung seelisch und körperlich so tief eingeschrieben, dass ihn sein bloßes Dasein unablässig von Grund auf verwundert und er sich rastlos der Dinge um ihn herum versichern muss. Es sind nicht nur die ihm vertrauten Menschen, sondern alle Menschen, die ihn gerade zufällig umgeben, alle Gesichter, Gesten und darüber hinaus auch die sinnlich wahrgenommenen Gegenstände, die er akribisch zerlegt und mit seinem Röntgenblick durchleuchtet. Eigentlich ist er ein Autist: der in sich verschlossene Bewohner eines ganz eigenen Universums, das aber mit unzählig vielen Fenstern zur Außenwelt hin versehen ist. So erscheint ihm zum Beispiel jeder Mitreisende im Zug als ein undurchschaubares Wunderwerk aus Körper, Gesicht, Gestik, Vergangenheit, Gegenwart und unbekannten Seelenlandschaften.

    "Jedes Gesicht war so vollkommen anders und doch ähnlich zugleich mit seinen ganz eigenen Zügen, die jeden von ihnen überallhin begleiteten, (...) man konnte sich einfach nicht sattsehen. Ganze Weltgeschichten fuhren da mit ihm (...) in jenem winzigen Strich, der da fuhr, zog die ganze Welt vorbei.”

    Wenn der Junge einen anderen Menschen anschaut, verspürt er augenblicklich den Wunsch, in ihm wie in einer Wohnung spazieren zu gehen und sich ihn bei allen Tätigkeiten vorzustellen. Es ist scheinbar paradox: Er geht ganz aus sich heraus, schlüpft in die Haut eines anderen und dringt auf diese Weise nur noch tiefer in seine eigene Welt ein.

    So ist es auch mit der Vergangenheit: Auf der Reise nach Paris verschwindet die Welt des Internats und wird doch - in Kontrast zur neuen städtischen Einsamkeit und Freiheit - in der Erinnerung ganz neu konturiert: die Berührungen, das Anfassen, die wöchentlichen Abstrafungen und seine lusterfüllten "Dankesbezeugungen”. All das war jetzt "Teil seiner Innenlandschaft” geworden. Schuld, Scham, Strafe und Lust bilden fortan ein nicht mehr auflösbares Geflecht. In seinem gesamten Prosawerk thematisiert Goldschmidt das Begehren, wenn es von Bestrafungen nicht blockiert, sondern, ganz im Gegenteil, immer wieder aufs neue entfacht wird.

    Arthur Kellerlicht ist Handelnder, und er ist Zeuge dessen, der handelt. Er erlebt dies aber nicht als Drama: er nimmt den anderen - sein Spiegelbild - überall mit.

    "Er hatte ihn sogar auf dem Klo dabei, beim Essen, Schlafengehen und bei allem anderen, aber er lacht sich (...) ins Fäustchen.”

    Er hat zwar das Gefühl, in einem "Korsett” eingeschlossen zu sein, das Korsett aber - ein anderes Wort für seine eigene Welt - hat einen "Reißverschluss”!

    "Er fühlte sich in sich eingeschlossen, und das ist gar nicht wahr. Er ist doch immer verfügbar für die anderen. Wahrscheinlich versuche ich damit zu beschreiben dieses innere Gefühl, das man immer hat. Also, ich würde das so sagen, das absolut Groteske, was ich kenne, dass ich seit mehr als 84 Jahren mit diesem Kerl zusammenleben muss, der mich nie aus den Augen, wo ich auch hingehe, ist er überall dabei. Was ich auch mache, er ist stets in mir und lacht sich tot. Das meine ich damit."

    Nie zuvor ist eine so extrem selbstbezogene Erfahrung als so durchlässig nach außen (mit einem derartigen Reichtum an sinnlicher Erfahrung) beschrieben worden. Alles was der Erzähler von dem Jungen berichtet, spielt sich immer synchron in dessen Innen- und Außenwelt ab; alles geht ihm gleichsam durch den ganzen Körper hindurch und bereichert die Welt der Vorstellungen und des Imaginären. Und immer ist der Schrecken der Vergangenheit gegenwärtig. Aber heute auch die Freude über das veränderte Deutschland.

    "Und auf einmal, in einigen Jahren, hat sich das Land so tief gründend verwandelt. Die Leute wurden auf einmal fröhlich, saßen auf den Stühlen normal, statt so mit den Schultern nach hinten: "Sitze anständig”. Man wurde doch immer zurechtgewiesen. Die deutsche Sprache wurde auf einmal so schön musikalisch. Dieses Land hat sich wie kein anderes in Europa total geändert. Es ist eine wunderbare freie Musterdemokratie. Es ist das geworden, was das Kaiserreich zerstört hat. Deutschland ist ein freies Land geworden, mit lieben Menschen."

    Allen Büchern Goldschmidts ist ein beschleunigter Rhythmus zu eigen, der sich, ähnlich wie in einem rituellen Text, endlos fortsetzen könnte. Der Textrhythmus folgt der Endlosschleife des thematisierten Begehrens, das mit jedem Rutenschlag wächst und gerade nicht in Aggression gegen den Peiniger umschlägt. Der Bestrafte, der sich masochistisch unterwirft, gerät in ein Wechselspiel von Selbstzerstörung und Selbstlust, einer Selbstlust, die jedoch extrem instabil ist und nach ständiger Erneuerung verlangt.

    Indem Goldschmidt diesem Geschehen die Form einer literarischen Erzählung verleiht, übernimmt er zwar den vorgegebenen Rhythmus eines nie stillbaren Begehrens, löst sich aber zugleich aus der Rolle des Opfers, schaut einer von ihm geschaffenen Figur zu und unterwirft das demütigende Geschehen einer höheren Instanz: seiner schöpferischen Kraft. Auf diese Weise erlöst er sich ein Stück weit aus der ihn bedrohenden Verwirrung und der Schamlosigkeit der Internatsleiterin, wenn sie immer wieder sagt:

    "Mein Junge, Sie sind wie für die Rute geschaffen, Sie brauchen sie ganz einfach.”

    Die zeremonielle Strukturierung des Internatsalltags - mit all ihren perfiden pathologischen Entgleisungen unter dem Deckmantel von Ordnung und Disziplin -, wie sie in den letzten Jahren endlich ans Tageslicht gekommen ist, bedarf aber nicht nur einer tief greifenden Aufklärung und einer Reform pädagogischer Regeln und Vorstellungen, sondern auch einer luziden, vorurteilsfreien und dem Erotischen Raum gebenden Darstellung von der Erleidens-Seite aus, wie dies nur einem Schriftsteller vom Rang eines Georges-Arthur Goldschmidt möglich ist.

    "Wie körperliche, wie Züchtigung auch eine gewisse sexuelle Erregung erweckt, und das war der Sinn der Sache. Ich hatte einen Beichtvater, und da bekam ich immer so Umschläge, sie sollten den Jüngling wegen meiner sexuellen Vergehen strengstens bestrafen. Und da gab ich diesen Brief, und da wurde ich ins Büro gerufen und bekam was mit selbstgepflückter Haselgerte auf den Popo. Ich weinte, heulte, es tat furchtbar weh, aber nachher war die Erregung um so größer. Und das war der Sinn der Sache. Das war diese perverse - es ist zugleich Belohnung und Strafe in einem. Und dann dieses Zeremoniell. Ohne Zeremoniell, ohne eine Art Messe."

    Ohne diesen Aspekt des Ritualisierten, das im Religiösen so tief verwurzelt ist, versteht man gar nicht die Macht, die Dauer und das tiefe Eindringen der Züchtigungen in die Seele des Kindes und des Jugendlichen. Georges-Arthur Goldschmidt lässt diese Folgen nie aus den Augen und beschreibt in seinen Büchern doch immer auch sein persönliches erotisches Erleben.

    Einmal nennt er sich im Gespräch einen "Lebensschmuggler”, das ist einer, der als kostbarstes Gut sein Leben gerettet hat. Bis heute unendlich tief berührt ist er von Dankbarkeit denen gegenüber, die so viel aufs Spiel setzten, um dieses als "lebensunwert” gebrandmarkte Leben zu retten.

    Wenn man ihm gegenübersitzt oder sich mit ihm über Emails austauscht, kommt aber noch etwas hinzu, was einen nie unbeteiligt lassen kann: sein Humor, seine Freude am Quatsch und seine wunderbare Selbstironie, mit der er sich als "immenses Genie” und sein Werk als "Zeugs” und "Geschreibsel” bezeichnet. Neben der Selbstironie gibt es aber auch eine Zuspitzung im Infragestellen des eigenen Lebens und dessen "Wert”, die radikaler gar nicht vorstellbar ist.

    "Glauben Sie wirklich, Sie könnten verstehen, was geschehen ist' Für das Grauen gibt es keine Sprache.”

    Georges-Arthur Goldschmidt: Ein Wiederkommen.
    Erzählung.
    S. Fischer Verlag Frankfurt/M. 2012, 192 Seite, 18,99 Euro.