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Erinnerungen und Erwartungen im Gepäck

Was nimmt man mit in die Emigration? Eine Tasse, eine Flöte, einen Ausweis, eine Schallplatte, ein Gebetsmantel. Anhand solcher Exponate und Interviews untersucht das Jüdische Museum München die Erinnerungswelten russischer Einwanderer, die nach 1991 nach Deutschland kamen.

Von Christian Gampert | 16.07.2012
    Sie gingen nicht in die chaotischen und ökonomisch unsicheren USA, sie gingen nicht nach Israel, wegen der militärischen Konflikte und des heißen Klimas. Sie gingen in das Land ihrer ehemaligen Verfolger, das schien ihnen kulturell und klimatisch erträglicher. Und doch: die russischen Juden, die nach der Wende nach Deutschland kamen, wussten ziemlich wenig von diesem Land – vor allem wussten sie, dass da Wohlstand und eine erstaunliche persönliche Freiheit herrschen sollten - im Gegensatz zu Russland, das Juden unter dem Zaren und unter Stalin pogromartig verfolgte und bis in die Gegenwart stark benachteiligte.

    Was nimmt man mit in die Emigration? Zunächst, ganz praktisch, eine Wolldecke, um sich zu wärmen, ein Reisebügeleisen, um akkurat auszusehen, Zeugnisse, um eine Arbeit zu finden. Eine Landkarte und ein Wörterbuch. Man nimmt aber auch seine Erinnerungen mit und einen Haufen Erwartungen - und genau die wollte das Jüdische Museum München nun analysieren. Wobei sich schnell herausstellte, dass man zu diesem Thema keinerlei Exponate hatte: man musste sie erst suchen, sagt Kuratorin Jutta Fleckenstein. 22 Objekte kamen zusammen, die Überbringer wurden interviewt.

    Jutta Fleckenstein: "Die Leute haben ganz Unterschiedliches mitgebracht. Zum einen Dinge, die an das frühere Leben erinnern sollten. Fotoalben, Briefe, Dokumente. Und dann Sachen, die die Zukunft leichter machen sollten, also Praktisches wie Decken, Töpfe. Und aber auch Dinge, was uns ganz besonders interessiert hat, die Aufschluss gaben über das Jüdischsein in der ehemaligen Sowjetunion. Das waren dann zum Beispiel Gegenstände wie eine kleine Teigwalze, mit der man Mazzes zu Pessach ausrollen, also den Teig auswalzen konnte."

    Explizit religiöse Geräte waren aber nicht sehr verbreitet – da in der Sowjetunion die Religion geächtet war, gab es auch kein Gemeindeleben. Es kamen also viele religiös eher wenig unterrichtete Juden in die Bundesrepublik – die nach jüdischem Recht oft nicht einmal Juden waren, sich aber durchaus als solche verstanden. Was hielt sie dann in Russland zusammen? Es war, das ist eine Erkenntnis dieser Ausstellung, vor allem die gemeinsame Erfahrung der Ausgrenzung. Das verband sie – nicht die Religion, sondern das soziale Gefüge, die jüdische Solidarität.

    Es gab aber so etwas wie eine religiöse Grundierung des Lebens - und ein großes Interesse an anderen Kulturen.

    Jutta Fleckenstein: "Ein anderes Objekt ist eine Ausgabe der deutsch-hebräischen Bibel von 1901, die sich noch im Familienbestand befunden hatte. Also der Großvater hatte sie von einem Rabbiner bekommen. Und Jahrzehnte, eine sehr lange Zeit später, ist man eben selbst als Auswanderer nach Deutschland unterwegs und nimmt eben dieses Buch mit."

    Also: man kann kein Deutsch, man kann auch nicht wirklich Hebräisch. Man hat aber eine zweisprachige Bibel, mit deren Hilfe man diese beiden Sprachen lernen kann.

    Eine Tasse, eine Flöte, ein Ausweis, eine Schallplatte, ein Gebetsmantel – diese Dinge erzählen Lebensgeschichten. Mancher konnte nichts mitnehmen, da bleibt die Vitrine leer. Dafür wird die von den Nazis geraubte Kunstsammlung des Julius Genss, oder das, was davon noch übrig ist, ausführlich präsentiert: Illustrationen des Hohen Liedes, expressionistische Skulpturen und zwei Wände feinster ostjüdischer Grafik.

    In den Interviews mit den Immigranten kommt immer wieder Verwunderung zum Ausdruck über dieses Deutschland, in dem die Menschen in Jeans ins Theater gehen, die Fenster im Erdgeschoss nicht vergittert sind und an den U-Bahn-Stationen bezahlt wird, obwohl man auch ohne Karte auf den Bahnsteig kommt. Das wäre in Russland undenkbar. Aber das ist eine andere Geschichte.