Freitag, 19. April 2024

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Erinnerungen von Artur London
Techniken der Zermürbung

Auf Drängen Stalins wurde Ende 1952 in der Tschechoslowakei ein Schauprozess gegen missliebige KP-Funktionäre veranstaltet. Elf Todesurteile wurden ausgesprochen. Der stellvertretende Außenminister Artur London kam damals mit dem Leben davon. Unter dem Titel "Ich gestehe" erinnerte er sich später an das ebenso surreale wie tödliche Schauspiel des Prager Hochverratsprozesses.

Von Rolf Schneider | 23.05.2016
    Weiß man eigentlich noch, wer Noel Field war? Das Lexikon beschreibt ihn als US-amerikanischen Diplomaten des Geburtsjahrgangs 1904 und fährt fort:
    "Während des Zweiten Weltkrieges leitete er das Unitarian Service Committee und rettete so zahlreiche Flüchtlinge vor der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Nach Kriegsende wurde er als angeblicher US-Agent Opfer der stalinschen 'Säuberungen' im Ostblock."
    Spitzenfunktionäre sollten aus der Partei entfernt werden
    Nicht nur Field war Opfer, neben ihm waren es viele, denen er einst geholfen hatte. Zwischen 1949 und 1952 führten die kommunistischen Parteien des sowjetisch beherrschten Ostblocks in ihren Führungsspitzen Säuberungen durch. Noel Field, angeblich Beauftragter des US-amerikanischen Geheimdienstes, sollte seine kommunistischen Schützlinge als Agenten angeworben und finanziert haben. Ziel der Säuberungen war es, Spitzenfunktionäre, die als Emigranten in Westeuropa oder Amerika gelebt hatten, aus der Partei zu entfernen. Die Ergebnisse fielen je nach Land unterschiedlich aus: In der DDR und in Polen verfuhr man vergleichsweise milde, anderswo gab es Todesstrafen. Die exzessivsten Verfahren fanden in Ungarn und in der ČSSR statt.
    In der Tschechoslowakei betraf das insgesamt 14 Personen. Elf waren jüdischer Herkunft, was in der Anklage ausdrücklich hervorgehoben wurde; das Verfahren hatte eine deutlich antisemitische Tendenz. Elf Todesurteile wurden gefällt. Die Asche der Hingerichteten sollten Staatssicherheitsleute auf winterlichen Feldern verstreuen.
    "Da sie bemerkten, dass die Straße von Glatteis bedeckt war, verfielen sie auf den Gedanken, die Asche dort auszuschütten. Lachend erzählte der Chauffeur, er habe noch nie vorher gleichzeitig 14 Menschen in seinem Tatra befördert, die drei Lebenden und die elf, die in dem Sack steckten ..."
    Die zunächst zu lebenslanger Haft Verurteilten wurden nach dem Tode Stalins und seines tschechischen Statthalters Klement Gottwald freigelassen. Zu ihnen zählte Artur London: langjähriges Partei-Mitglied, im spanischen Bürgerkrieg Soldat gegen Franco, im Zweiten Weltkrieg Kämpfer im französischen Widerstand, danach zwei Jahre lang Häftling im Nazi-Konzentrationslager Mauthausen. Ab 1948 amtierte er für drei Jahre als stellvertretender Außenminister in Prag. Nach seiner Haftentlassung und seiner vollständigen Rehabilitierung emigrierte er nach Frankreich, dem Herkunftsland seiner Ehefrau. 1968 veröffentlichte er in Paris seine Erinnerungen an die stalinistische Verfolgung unter dem Titel "L'aveu", das Geständnis.
    "Es ist sehr schwierig, alle komplexen Seiten meines Leidenswegs so zu erzählen und zu erklären, dass sie Menschen begreiflich werden, die Derartiges nicht erlebt haben. (...) Viele Einzelheiten (...) mögen auf den ersten Blick bedeutungslos erscheinen. Ich habe sie erwähnt, um den Genossen, die meinen Bericht lesen, die Technik der körperlichen und vor allem der seelischen Martern verständlicher zu machen, die ich zu erdulden hatte, damit sie versuchen, sich vorzustellen, wie sie selbst reagiert hätten, wenn sie sich durch Monate und Jahre in einer ähnlichen Lage befunden hätten."
    Öffentliches Schuldeingeständnis
    Gemeint ist damit auch der Umstand, dass alle vierzehn Angeklagten des Schauprozesses von 1952 ihre Schuld öffentlich eingestanden und die gegen sie verhängten Strafen akzeptierten. Sie taten dies in dem vollen Bewusstsein, dass sämtliche gegen sie erhobenen Vorwürfe konstruiert und falsch waren. Ihr Prozess folgte dem Muster jener Strafverfahren, die Stalin während der 1930er-Jahre gegen seine innerparteilichen Rivalen in Moskau praktiziert hatte. Auch jetzt, in der Tschechoslowakei, waren ständig sowjetische Beobachter zugegen, um das Geschehen zu überwachen.
    Artur London beschreibt ausführlich die Techniken der Zermürbung: Isolation, Entbehrungen, Schlafentzug, Misshandlungen, endlose Verhöre, falsche Versprechungen, Appelle an die Parteidisziplin. Im Falle Londons beanspruchten die Vernehmungen länger als ein Jahr und verschlissen mehrere Befrager. Am Ende musste auch London, wie alle anderen, seine späteren Eingeständnisse vor Gericht auswendig, bis in den Wortlaut genau, hersagen können.
    1968, als sein Erinnerungsbuch erschien, war das Jahr des Prager Frühlings. London hielt sich eben wieder in der tschechischen Hauptstadt auf, als die sowjetischen Panzer auffuhren, um den dortigen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" niederzuwerfen.
    "Wenn die Hoffnung, die sich im Januar 1968 bei uns zu regen begann, auch nur jene Rehabilitierung des Wortes Sozialismus, nur jene neue Achtung vor den menschlichen Werten hervorgebracht hätte, die ihm innewohnen, hätte schon damit das tschechische und das slowakische Volk für die gesamte Arbeiterbewegung gute Arbeit geleistet."
    Man erkennt: Von der politischen Überzeugung, die einen Großteil seines Lebens bestimmt hatte, mochte London, allem erlittenen Unrecht zum Trotz, auch jetzt noch nicht lassen. Er stand darin nicht allein.
    Sein Buch ist vorzüglich geschrieben und wurde, völlig zu Recht, ein beträchtlicher, auch internationaler Erfolg. Erstmalig waren darin die Hintergründe und Regeln stalinistischer Strafprozesse gegen vermeintliche Parteifeinde beschrieben. Zuvor hatte es dazu lediglich Arthur Koestlers "Sonnenfinsternis" gegeben, einen Roman. Londons Buch war ein authentisches Dokument.
    Artur London: "Ich gestehe. Der Prozess um Rudolf Slansky".
    Die deutsche Erstausgabe erschien 1970 bei Hoffmann & Campe; das Buch ist derzeit nur antiquarisch erhältlich.