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Erkenntnis, Paradies und Verführung

Wenn es in der Bibel heißt, dass Adam Eva "erkannte", ließe sich das, wovon da die Rede ist, durchaus auch anders und entschieden deutlicher sagen. Das Wort Erkenntnis ist im biblischen Sinne doppeldeutig. In Ingo Schulzes neuem Roman "Adam und Evelyn" wird auf die Geschichte von Adam und Eva Bezug genommen. Es geht um Erkenntnis, es geht um das Paradies, und es geht um Verführung.

Von Michael Opitz | 11.08.2008
    Gleich zu Beginn des Romans überrascht Evelyn ihren Freund Adam mit seinem Modell Lilli im Badezimmer. Beide sind nackt. Sie ahnt, dass der Maßschneider Adam sein Modell zuvor nicht nur angezogen, sondern auch "erkannt" hat. Aus dem starken Erkenntnisinteresse Adams, er ist nicht nur Maßschneider, sondern auch Fotograf, entwickelt sich eine handfeste Beziehungskrise.

    "Das Buch beginnt ja mit der Schöpfung in der Dunkelkammer,"

    wobei das Licht eine besondere Rolle spielt. Beim Entwickeln wird, was auf Negativen schwarz erscheint weiß und umgekehrt. Vorher, so ließe sich nicht nur aus der Sicht eines Fotografen, sondern auch ganz allgemein sagen, sieht meistens alles ganz anders aus. In Ingo Schulzes Roman, der zu großen Teilen 2007 während seines Aufenthaltes in der Villa Massimo entstanden ist, entwickelt der Autor eine Geschichte, die nicht nur in schwarz und weiß, sondern in vielen Farbnuancen schillert. Sie führt nach Ungarn und spielt im Herbst 1989.

    "Ich hatte eine Idee, die ich von einem ungarischen Regisseur bekam: Ein Schneider aus der ostdeutschen Provinz gerät im August, Ende August 89, mit seiner Frau an den Balaton. Diese Idee habe ich eine ganze Weile mit mir herumgetragen und dann interessierte mich eigentlich, dass es eine Wahlsituation in Ungarn gab, im Spätsommer, Frühherbst 1989, die es für DDR-Leute vorher nicht gegeben hatte und die, kurioserweise, danach auch bald wieder verschwand, weil es nichts mehr zu wählen gab. Im September 89 hatte man die Illusion, man könne sich zwischen Ost und West entscheiden, das war ja, für jemand der aus dem Osten kam, etwas sehr Ungewöhnliches: Also dieses Zwischenstadium interessierte mich. Und da prallen natürlich Dinge aufeinander, die man sonst so nicht im Vergleich hat."

    Weil Evelyn genug von Adams Erkenntnisinteresse hat, das er den Frauen entgegenbringt, zieht sie es vor, mit ihrer Freundin Mona und deren Cousin Michael an den Balaton zu fahren. Von Michael, der aus dem Westen kommt, wünscht sich Mona, dass er sie aus der DDR herausheiratet. Adam fährt den Dreien in seinem alten Wartburg hinterher, in dem er Katja - die später hinzukommt - über die tschechisch-ungarische Grenze schmuggeln wird. Katja will unbedingt in den Westen, worin sie sich von Adam unterscheidet, der nie ernsthaft in Erwägung zieht, die DDR zu verlassen. Er fährt nur deshalb nach Ungarn, um Evelyn zurückzugewinnen.

    Der besondere Reiz dieser von Ingo Schulze erzählten Geschichte liegt darin, dass er die Handlung zwar im Spätsommer 1989 ansiedelt, aber ihr den Mythos von Adam und Eva unterlegt, sodass die Geschichte mehrdeutig wird.

    "Der Mythos erscheint ja nie in Reinform und man muss noch nie etwas von Adam und Eva gehört haben, um mit dem Buch klar zu kommen. Andererseits ist es natürlich so, wenn jemand etwas von der Bibel gehört hat, dann ist es sehr oft, dass man etwas über Adam und Eva weiß und über diesen Apfel. Für mich gibt es [ ... ] mit einem Rückgriff auf so ein mythisches Muster natürlich unglaublich viele Bedeutungsfelder, an die man anschließt, die man auflädt, [ ... ] und durch die Motive einfach einen Anschluss finden an sehr, sehr viele Dinge, die es vorher in diesem Muster gegeben hat. Das ist eigentlich immer mein Bestreben, dass man versucht, etwas von unserer heutigen Zeit in diese alten Geschichten von Liebe und Tod und Verrat und Erkenntnis und Sündenfall hineinzugeben."

    "Die Fragen kommen natürlich aus dem Heute, es geht um das Jetzt, aber das kann man selten mit so einer anderen Kontrastmasse beleuchten wie in dieser Zeit, als es diesen Umbruch gab. Also, in dem Falle September/Oktober 89. Mir hat sehr geholfen, diesen Adam und Eva-Mythos zu unterlegen, weil sofort Dinge im Raum stehen und man sofort, ich will jetzt nicht sagen für jedes ein Koordinatensystem, aber doch einen Kompass hat. [ ... ] Es geht doch immer um die Frage: Was ist das Paradies? Gibt es ein Paradies? [ ... ] Da ist es halt in der Literatur das Gute, dass man ganz unterschiedliche Dinge gegeneinander führen kann, mehr oder weniger gleichberechtigt nebeneinander existieren lassen kann."


    Die Entscheidung, vor die Ingo Schulze seine Figuren im Herbst 1989 in Ungarn stellt, hängt von der Beantwortung der Frage ab, wo sie das Paradies verorten. Da sind die Haltungen von Adam und Katja eindeutig. Der Maßschneider will zurück in die DDR, doch sein Wunsch hat keine Zukunft. Adam fährt mit seinem dreißig Jahre alten Wartburg nicht nur seiner Freundin, sondern auch der Geschichte hinterher, die in einem anderen Tempo abläuft, als es ihm lieb ist. Katja hingegen kann die Entwicklung im Herbst 89 nicht schnell genug gehen - sie will keine Zeit mehr verlieren und lieber heute als morgen in den Westen. Dagegen werden sich Mona und Evelyn erst während der Zeit in Ungarn darüber klar, wohin sie wollen. Für einen Moment haben die vier eine Wahlmöglichkeit, die vorbei ist, als die Geschichte mit dem Untergang der DDR wieder für eindeutige Verhältnisse sorgt.

    "Es wird ja immer mal wieder gesagt, vielleicht war diese Kleinstadt im Osten das Paradies, vielleicht war es das Paradies, das man diese Wahlmöglichkeit hatte, dieses Dazwischensein, dieser endlose Urlaub, was ja für viele dieser Ungarn-Aufenthalte auch bedeutet hat, dass man eben nicht zurückfährt und in diesem Urlaubsschwebezustand verharrt. Und natürlich war der Westen als das anzustrebende Andere auch so eine Verlockung. Wahrscheinlich gibt es auch für jeden ein anderes Paradies, könnte ich mir vorstellen. Und das ist ja so, die einen kommen damit besser zu recht, die anderen damit, und das wollte ich schon aufeinander prallen lassen, dass es nicht so eindeutig ist. So ist auch mein Erleben. Mit jeder neuen Erfahrung sieht man auch die Vergangenheit in einem anderen Licht."

    Die Vorstellung, weggehen zu können, hatte zu jener Zeit etwas Verlockendes. Aus der DDR-Perspektive lag der Westen lange wie das Paradies unerreichbar vor der Mauer. Doch plötzlich und gänzlich unerwartet konnte man im Herbst 1989 den Garten Eden aufsuchen. Dazu musste man nur die DDR hinter sich lassen. Mehr brauchte es nicht. An Verführungskraft konnte es diese Verheißung mit der verbotenen Frucht aus dem Paradies aufnehmen, die existierte, aber von der nicht gekostet werden durfte. Aufgefordert zu entsagen, bietet sich den vier aus dem Osten Kommenden die Chance, ein eisernes Verbot zu ignorieren.

    Doch allein bei Anspielungen auf den Adam und Eva-Mythos belässt es der Autor nicht. Ganz zu Beginn des Romans - und fast nebenbei - erwähnt Ingo Schulze Laokoon, den Warner, auf den die Troer im Trojanischen Krieg nicht hören wollten. Sie ignorierten seine Beschwörung, das schöne Holzpferd, das die Griechen vor den Toren Trojas zurück gelassen hatten, nicht in die geschützte, weil von Mauern umgebene Stadt zu holen. Was folgte, ist bekannt. Die zuvor uneinnehmbare Stadt wurde eine leichte Beute der Griechen und eine Schlange tötete Laokoon und seine Söhne.

    "Die Gefahr bei so einer Adam und Eva Geschichte ist ja, dass man hier und da noch etwas sucht, weil es einfach unglaublich viele Möglichkeiten gibt, da anzudocken. Im Zweifelsfall war es dann eigentlich doch so, dass ich versuchte, mir die unmittelbare Logik dieser Figuren zu halten und ich dann irgendwann auch aufgehört habe, drum herum zu lesen. Es bilden sich dann Motive heraus, die vordergründig erst einmal überhaupt keine biblischen Motive sind, die aber dann immer wichtiger für mich werden. Beispielsweise, dass Adam, als er losfährt - die haben zu Hause eine Schildkröte und die kann er nicht allein lassen - diese Schildkröte mitnimmt. [ ... ] Das war für mich irgendwie wichtig: Da reist noch etwas mit, was aus der Urzeit auf uns gekommen ist, also auch so ein ganz anderes Zeitverständnis, was hochsensibel ist, was also durch so einen Zugwind im Auto ganz schnell getötete werden kann. Und sie endet dann, was keine Tierquälerei ist, sondern in jedem Schildkrötenbuch empfohlen wird, im Gemüsefach im Kühlschrank in München, um ihren Winterschlaf zu halten. [ ... ] Das sollte eine Geschichte sein, die für sich besteht, aber immer noch einmal anders aufleuchtet, wenn man diesen Mythos drunter hält."

    Der Schildkröte geht es im Verlaufe der Handlung immer besser, denn es werden für sie immer komfortablere Behältnisse gefunden oder gebaut. Nur die Vorstellung, dass sie am Schluss im Gemüsefach eines Kühlschranks landet, weil sie dort die besten Bedingungen für ihren Winterschlaf vorfindet, erscheint alles andere als verlockend. Paradiesische Umstände, aber welch ein Erwachen?

    Mit dem Erwachen haben auch Ingo Schulzes Figuren zu tun. Alle, außer Mona, entscheiden sich für den Westen. Katjas Traum geht damit in Erfüllung. Adam hingegen wird in seiner Skepsis dem Westen gegenüber bestätigt. Der Maßschneider, der sich den Luxus leistet, nichts zu schneidern, was seinem ästhetischen Empfinden widerspricht, endet in einer Änderungsschneiderei. Evelyn, die wieder mit Adam zusammen ist, bekommt ein Kind, weiß aber nicht von wem, da sie während der Ungarn-Zeit eine Liaison mit Michael hatte.

    Die Wende hat in die Biographien der Figuren grundlegend eingegriffen. Ingo Schulze lässt durch die Konfrontation mit dem historischen Ereignis vom Herbst 1989 ihre Wünsche und Hoffnungen in einem besonderen Licht erscheinen, wobei er auch die gesellschaftlichen Verhältnisse ausleuchtet, sodass Licht- und Schattenseiten erkennbar werden. Anders als in der Dunkelkammer wird durch die historische Entwicklung im Herbst 89 nicht selbstverständlich weiß, was vorher schwarz war. Das Motiv von schwarz und weiß zieht sich durch den Text. Gleich zu Beginn ruft es Ingo Schulze auf, indem er eine Elster durch den Garten hüpfen lässt.

    ""Ich habe die Elster, die wandert ja ganz am Anfang schon mal über die Wiese, von Parsifal, von Eschenbach, wo er am Anfang sagt, dieses schwarz-weiß der Elster, das ist eigentlich der Zweifel. Und das fand ich ganz schön, das ist mir so unterlaufen und dann war ich ganz froh, dass es so drinstand. Evelyn kommt ja in ihrer Kellnerkluft, die auch schwarz-weiß ist, und das ist eigentlich dieser Punkt, wo sie sagt: Ob ich jetzt gehe, ob ich ihn nicht überrasche. Also, dieser Zweifel an dem Bestehenden da in dem Garten. Und am Ende ist es ja wieder ein Garten [ ... ] und da ist wieder die Elster anwesend. Insofern gibt es Zweifel: Ist das jetzt das Paradies? Der Zweifel ist also immer anwesend."

    Ingo Schulze: Adam und Evelyn. Roman. Berlin Verlag. Berlin 2008. 314 Seiten. 18,- Euro.