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Nordirland vor dem Brexit
Wenn die Grenze wieder sichtbar wird

Für die irische Insel bedeutet der Brexit eine starke Veränderung: Die neue EU-Außengrenze wird zwischen britischem Norden und der Republik im Süden verlaufen. Auch wenn nicht direkt wieder alte Feindseligkeiten aufflammen – die Iren befürchten erhebliche wirtschaftliche und soziale Auswirkungen.

Von Paul Vorreiter | 12.10.2018
    Anti-Brexit-Schild an der Grenze zwischen Irland und Nordirland.
    Könnte die "harte" irische Grenze wieder notwendig werden? Viele grenznahe Gemeinden in Nordirland lehnen den Brexit ab. (imago stock&people)
    Die fast unsichtbare Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland: Auf einer Landstraße zwischen Newry und Dundalk deutet nur die Farbe der Straßenmarkierung darauf hin, auf welcher Seite man sich befindet. Orange im Norden, weiß in der Republik Irland.
    Die Grenze möglichst bedeutungslos zu machen, ist auch Aufgabe von Peter Sheridan. Der pensionierte, katholische Polizist aus Nordirland leitet die Wohltätigkeits-Organisation "Cooperation Ireland", die sich schon seit Ende der 70er Jahre dafür einsetzt, die Landesteile miteinander zu versöhnen. An die Zeiten des Konfliktes erinnert er sich noch gut:
    "Als ich noch Polizist war, hatten wir hier noch Checkpoints und Absperrungen. Heute sieht man nichts mehr davon. Nach dem Karfreitagsabkommen 1998 ist das alles verschwunden."
    Auf einer Landstraße zwischen Newry und Dundalk deutet nur die Farbe der Straßenmarkierung darauf hin, auf welcher Seite der inneririschen Grenze man sich befindet. Orange im Norden, weiß in der Republik Irland.
    Nur die Farbe der Straßenmarkierung weist darauf hin, auf welcher Seite der inneririschen Grenze man sich befindet: Nordirland links, Republik rechts. (Deutschlandradio / Paul Vorreiter)
    Es ist eine der großen Sorgen in der Brexit-Debatte: Könnten diese ehemals sichtbaren Grenzen wieder notwendig werden? Etwa, wenn es darum geht, Waren zu kontrollieren, die aus Nordirland in die EU gebracht werden?
    "Es ist verständlich, dass man in Brüssel oder London über Zölle und Marktzugang debattiert", sagt Sheridan. "Aber den Menschen hier geht es seit dem Konflikt um Identität, um die Freiheiten, die sie jetzt genießen: Kann ich als Ire noch Gesundheitsleistungen in Nordirland in Anspruch nehmen? Oder kann ich als Nordire nach dem Brexit die europäische Gesundheitskarte behalten? Die Menschen sind sehr sensibel. Manche sagen, wenn sie hier an der Grenze Drohnen sehen, die aus der Luft Waren abscannen, dann schießen sie sie ab, weil sie sich nicht überwachen lassen wollen. Darüber müssen sich die Entscheidungsträger bewusst sein."
    Das Karfreitagsabkommen erlaubt es Iren und Nordiren, sich für einen britischen oder irischen oder beide Pässe zu entscheiden. Es wurde geschlossen, als undenkbar schien, dass ein Teil der Insel irgendwann mal nicht auch Teil der EU sein würde. Das wirft Fragen auf, wie die Feindseligkeiten in Zukunft abgebaut werden können. Die Feindseligkeiten kennt auch Desmond McCaine. Der ältere Mann mit buntem Schal und brauner Kappe steht am Mahnmal für die Ermordeten des sogenannten "Kingsmill-Massakers", bei dem im Jahr 1976 zehn protestantische Insassen eines Vans erschossen wurden. Desmond sagt, er habe diejenigen, die getötet wurden, persönlich gekannt. Dass der Konflikt nach dem Brexit wieder aufflammen könnte? Er meint: Nein.
    "Weil es eine neue Generation ist. Sie ist nicht mehr so religiös. Sie wächst anders auf als ich. Den jungen Menschen ist Religion nicht mehr so wichtig. Ich selbst habe übrigens für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt, weil sich das für uns nicht länger lohnt, dabei zu sein. Man sollte es als das benennen, was es ist, ein Austritt. Aber kein Brexit, was nur ein Sprachungetüm ist."
    Das Mahnmal für die Ermordeten des sog. „Kingsmill Massakers“, bei dem im Jahr 1976 zehn protestantische Insassen eines Vans erschossen wurden.
    Das Mahnmal des sogenannten „Kingsmill-Massakers“ steht symbolisch für die vergangene Gewalt an der inneririschen Grenze. (Deutschlandradio / Paul Vorreiter)
    Ob sich der Austritt oder Brexit lohnt, darüber wird allerdings vielerorts in Nordirland und Irland gestritten. Die EU will sich - um eine harte Landgrenze mit Kontrollen zwischen den beiden Teilen zu verhindern - auf die Option eines sogenannten "backstops" zurückfallen lassen: Sollte kein Austrittsabkommen mit Großbritannien zustande kommen, dann würden Waren nicht entlang der Landesgrenze kontrolliert. Sondern auf dem Seeweg zwischen Großbritannien und Nordirland, oder auch in den Fabriken selbst, so die Gedankenspiele. Tina McKenzie, Vorsitzende des Bundes kleiner nordirischer Unternehmen in Belfast macht das nervös:
    "Niemand macht sich solche Gedanken: Angenommen, ich habe diese Ware x und die geht sechs Mal über die Grenze, bis sie schließlich als Endprodukt beim Kunden landet. Niemand weiß, welche Folgen der Brexit auf die Produktionsketten haben wird, aber was wir wissen ist, die Produkte werden mit Verzögerung ankommen, sie werden teurer und kleine Firmen werden das nicht stemmen können, pleitegehen und so gehen letztlich Jobs verloren."
    Nicht nur in der Wirtschaft gibt es Unklarheit, auch im sozialen Bereich, in Fürsorgeeinrichtungen. Darunter in einer, die besonders mit dem nordirischen Konflikt verbunden ist. Der "Victims and Survivors Service". Die staatliche Organisation betreut seit 2013 Menschen, die Opfer des Konflikts wurden und physische Verletzungen oder psychische Beeinträchtigungen davon getragen tragen. Margaret Bateson, die Chefin der Organisation, kann nicht ausschließen, dass es den Betroffenen nach dem Brexit schlechter gehen wird:
    "Was den Brexit angeht, da sind Opfer und Überlebende misstrauisch und mögen keine Verunsicherung. Eine Verunsicherung ist auch sehr real. Es geht um das EU-Programm für Frieden und Versöhnung und die Unsicherheit, ob die Mittel erhalten bleiben. Die EU-Hilfe ist viel weitreichender als die nationale Unterstützung und ermöglicht auch friedensbildende Maßnahmen, Programme zur Versöhnung. Das wird auf dem Spiel stehen."