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Ernährungssicherheit
Wie schnell kann die globale Landwirtschaft auf den Ukraine-Krieg reagieren?

Der Krieg in der Ukraine hat die Getreide-Preise in Rekordhöhen getrieben. Weizen-Exporte im Wert von etwa 35 Millionen Tonnen könnten wegfallen. Müssen jetzt Natur- und Klimaschutz hinten angestellt werden, um ausbleibende Lieferungen aus Russland und der Ukraine aufzufangen und Hungersnöte zu verhindern?

Von Tomma Schröder | 10.03.2022
Ein Weizenfeld im Vordergrund, dahinter die Stadt Lugansk in der Ukraine.
Ein Weizenfeld bei der Stadt Luhansk in der Ukraine. (dpa/TASS | Alexander Reka)
Fast 30 Prozent der weltweiten Weizen-Exporte stammten bisher aus der Ukraine und Russland. Hinzu kommen hohe Weltmarktanteile bei Gerste, Mais und Sonnenblumenöl. Wenn nun ein erheblicher Teil dieser Exportmengen durch den Krieg in der Ukraine und Handelsbeschränkungen mit Russland wegbrechen, könnte das erhebliche Folgen für einige Länder haben, fürchtet der Agrarökonom Matin Qaim von der Universität Bonn: 
„Das sind vor allen Dingen Länder in Nordafrika, Mittlerer Osten, die zu einem ganz, ganz großen Anteil auf Lebensmittel-Exporte aus Russland und der Ukraine angewiesen sind. Und dort leben natürlich ärmere Menschen, und wenn die entweder keine Lieferung kriegen oder diese Lieferungen eingeschränkt sind und viel, viel teurer werden als sonst, heißt das natürlich, die Menschen werden stärker hungern.“

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Über 100 Millionen Hungernde zusätzlich?

Die Zahl der Hungernden könnte so kurzfristig um über 100 Millionen Menschen ansteigen, schätzt Qaim. Um das zu verhindern, könne man an verschiedenen Stellschrauben drehen. Zuallererst sollte man versuchen, die Handelswege aus Russland heraus für Lebensmittel offen zu halten und Schiffstransporte von Lebensmitteln weiterhin zu ermöglichen. Andererseits könne man auch die Nachfrage drosseln, indem die Verwendung von Pflanzen für Biokraftstoffe und Biogas eingeschränkt wird – auch wenn das die Energie- und Kraftstoffkrise befeuern könnte.  
„Also weltweit geht ja einiges an Getreide und Ölsaaten auch in die Biokraftstoff-Produktion. Das ist zum Teil Bio-Ethanol, Biodiesel. Bei uns spielt Biogas eine Rolle, wo relativ viel Mais reingeht. In dem Augenblick, wo man Biogas aufgrund von Reststoffen und Abfällen produzieren kann, ist das eine gute Idee. Aber wenn das heißt, dass noch mehr Mais in diesen energetischen Bereich reingeht, gibt es eine unmittelbare Konkurrenz zwischen Tank und Teller.“

Weniger Ökolandbau für mehr Ernährungssicherheit?

Beide Maßnahmen könnten relativ kurzfristig für Entspannung auf dem Weltmarkt sorgen. Insgesamt, meint Qaim, müsse man aber auch längerfristig versuchen, möglichst viel Ertrag auf möglichst kleiner Fläche anzubauen. In einer kürzlich erschienenen Studie hat Qaim ausgerechnet, dass in Europa mit Hilfe der Gentechnik Ertragssteigerungen von sieben bis zehn Prozent erreicht werden könnten, in anderen Weltregionen noch weitaus mehr. Mit der Russlandkrise hatte diese Abschätzung noch nichts zu tun. Es ging um Flächen für den Klima- und Naturschutz. Die Ablehnung gentechnischer Methoden hält Qaim aber jetzt erst recht für einen Fehler – ebenso wie den Ausbau des Ökolandbaus.
"In der europäischen Farm-to-Fork-Strategie ist ja vorgesehen, den Anteil der Öko-Landwirtschaft bis 2030 auf 25 Prozent hochzufahren, von heute ungefähr acht Prozent. Und das finde ich sowieso keine gute Idee. Aber finde ich jetzt insbesondere vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges keine gute Idee, weil wir wissen, dass die ökologische Landwirtschaft niedrigere Erträge hat und das würde die Mengen weiter drosseln und würde auch der Umwelt gar nichts bringen, weil die Preise weiter hoch gehen und anderswo in der Welt aufgrund der fehlenden Mengen und der hohen Preise Regenwald abgeholzt wird. Das wäre eine Milchmädchenrechnung."
„Also die Fakten sind ja dennoch die gleichen: Biodiversität-Verlust und wir haben gerade den aktuellen Klimabericht gehört mit einer mehr oder weniger verheerenden Aussage“, sagt indes Friedhelm Taube, Agrarwissenschaftler an der Universität Kiel.
"Also diese Reflexe, die wir im Augenblick hören, in Anführungsstrichen, wir müssen jetzt wieder die Welt ernähren. Das ist ja Unsinn. Unser yield gap ist minimal. Das heißt, wir sind ziemlich nah an dem, was wir auch tatsächlich erreichen können. Wenn man das alles bedenkt und dann zusätzlich weiß, dass wir für das Funktionieren unserer Ökosysteme eine entsprechende Biotope-Vernetzung benötigen mit auch landwirtschaftlicher Nutzung, aber eben auf Niveau von Ökolandbau, dann ist vollkommen unstrittig, dass wir einen Wachstumsschritt im Ökolandbau in Richtung 20 Prozent gehen sollten. Das ist wissenschaftlich sehr gut abgesichert."
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Die Krise als Chance begreifen

Letztlich hebt der Ukraine-Krieg eine Grundsatzdebatte in den Agrarwissenschaften aufs Tapet: Wie stark können oder müssen wir die Landwirtschaft ökologisieren? Schließlich stehen hinter der geopolitischen Krise auch noch die Biodiversitäts-Krise, die Klima-Krise, die Wasser-Krise und die Boden-Krise. Ohne Insekten, ohne fruchtbare, resiliente Böden funktioniert auch die konventionelle Landwirtschaft nicht mehr. Taube etwa führt an, dass durch konventionelle Züchtungen erreichte Ertragssteigerungen zuletzt auf dem Acker gar nicht mehr ankamen, schlichtweg weil die Qualität der Anbauflächen zurückging. Der Kieler favorisiert daher einen Lösungsansatz, der auf hybride Systeme setzt, die ertragssteigernde Fruchtfolgen vorsehen und Teile des konventionellen und des ökologischen Landbaus sinnvoll kombinieren. Das wäre die mittelfristige Option, aber niemand weiß, wie lange der Krieg und seine Auswirkungen andauern.
„Die große Möglichkeit, etwas zu ändern, ist natürlich, dass wir unser Ausmaß an Tierhaltung reduzieren. Wenn wir eine stärkere Hinwendung zu pflanzlichen Nahrungsmitteln vollziehen, wie wir sie nur vor 40 Jahren gehabt haben, bevor man glaubte, jeden Tag Fleisch essen zu müssen, dann wäre das ein viel, viel größerer Hebel, um Export-Getreide bereitzustellen.“

Weniger Schwein = mehr Getreide

Würde es etwa gelingen, die Schweinefleischproduktion in Deutschland um 30 Prozent zu drosseln, würde daraus eine Ackerfläche von einer Million Hektar freiwerden, auf der dann fünf Millionen Tonnen Getreide angebaut werden könnte, zeigte jüngst eine Kieler Studie. In den Niederlanden versucht man bereits, diesen Weg einzuschlagen. Mit einem Ausstiegsprogramm und Abfindungen soll der Tierbestand innerhalb von 13 Jahren um ein Drittel reduziert werden.
„Also lassen Sie uns das doch bitte als ein Wachrütteln nehmen, auch in dieser Richtung hier konsequent umzusteuern und uns nicht in Panik verfallen zu lassen, dass nun auch im Bezug auf die Ernährungssicherung bei uns irgendetwas auf dem Spiel stünde.“
Wie gut der weltweite Hunger trotz des Ukraine-Krieges begrenzt werden kann, hängt letztlich auch von den Maßnahmen im Rest der Welt ab: Eine Konzentration auf wichtige Grundnahrungsmittel, Eindämmung der Nachfrage und der Lebensmittelverschwendung wie auch die Auflösung von Lagerbeständen etwa in China oder Indien könnten die Lage entspannen. Denn letztlich ist Hunger auch in Kriegszeiten keine Frage der fehlenden Kalorien.
„Es gibt einen Punkt, den wir eigentlich als Abschluss immer wieder sagen können und der in jeder Publikation der FAO am Ende drunter steht: Hunger is not a matter of calories but a matter of poverty and access. Das heißt, Hunger ist keine Frage von weltweit verfügbaren Kalorien, sondern eine Frage von Zugang und von Armut.“