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Erneute Massenentführung
Nigerias Eltern beklagen Staatsversagen

Vier Jahre nach der Massenentführung nigerianischer Schülerinnen hat die Terrorgruppe Boko Haram vor vier Wochen erneut Schülerinnen entführt. Eltern und Schulen werfen der Regierung Versagen vor: Sie tue zu wenig für den Schutz der Kinder und die Aufklärung der Fälle.

Von Jens Borchers | 16.03.2018
    Schülerinnen der Muslim Girl's High School in Ijebu Ode, Nigeria.
    Im Norden Nigerias werden immer wieder Mädchenschulen (wie hier im Bild) von Boko-Haram-Kämpfern überfallen (dpa / picture alliance / Hannibal Hanschke)
    "Das hätte nie passieren dürfen. Nach all dem, was das Land mit dem Drama der Schülerinnen aus Chibok schon erlebt hat - das, was jetzt in Dapchi passiert ist, hätte nie geschehen dürfen."
    Das ist Nigerias Regierungssprecher, Femi Adesina, vier Tage nachdem im Bundesstaat Yobe 110 Schülerinnen von Kämpfern der Terrormiliz Boko Haram entführt wurden. Adesina kann auf Nachfrage des Moderators im nigerianischen Fernsehkanal Channels TV nicht sagen, was an der Schule in der Ortschaft Dapchi tatsächlich passiert ist.
    Statt dessen sagt Adesina: "Das hätte nie passieren dürfen."
    Viele Schülerinnen immer noch nicht frei
    Jetzt, knapp vier Wochen nach dieser neuen Massenentführung, besuchte Präsident Buhari selbst diesen Ort Dapchi. Das Dorf also, in dem sich wiederholte, was im April 2014 schon in der Ortschaft Chibok geschehen war: Terroristen hatten damals die Schule von Chibok überfallen und 276 Schülerinnen entführt. Mehr als 100 von ihnen sind bis heute in der Hand ihrer Entführer.
    Jetzt versucht der Präsident den verzweifelten Eltern in Dapchi zu versichern, dass seine Leute alles tun werden, um ihre Töchter zu befreien. Bilder und Original-Töne von diesem Treffen Buharis mit den Eltern gibt es nicht. Einer seiner Berater schilderte tags darauf im Fernsehen die offizielle Regierungsversion.
    "Es war sehr emotional. Der Präsident konnte seine vorbereitete Rede nicht wirklich halten, weil er weinen musste. Und fast alle Anwesenden weinten auch."
    Regierungsversagen bei der Aufklärung?
    Das ist Botschaft, die in Nigeria verbreitet werden soll: Ein anteilnehmender Präsident, der den Schmerz der Eltern teilt, die um das Leben ihrer Töchter bangen. Eine Untersuchungskommission wurde gebildet. Sie soll herausfinden, warum sämtliche Sicherheitskräfte bei dem Überfall auf die Schule versagt haben.
    "Das kennen wir schon", sagt Kabiru Adamu, ein Sicherheitsberater in Nigerias Hauptstadt Abuja. 2014, nach der Entführung der Schülerinnen in Chibok, habe es auch eine Kommission gegeben.
    "Es gab ausführliche Berichte und gute Empfehlungen. Aber bis heute wurde keine dieser Empfehlungen umgesetzt. Und ich fürchte, die jetzt gebildete Kommission wird ähnlich enden."
    Kabiru Adamu beobachtet misstrauisch, was seit der jüngsten Entführung passierte: Erst wurde den Eltern gesagt, ihre Töchter seien gerettet worden. Dann musste die Regierung zugeben, dass doch 110 Mädchen entführt worden waren. Dann warfen sich Militär und Polizei tagelang öffentlich gegenseitig vor, nicht richtig reagiert zu haben.
    Sicherheitsberater Adamu stellt fest: "Eine der wichtigsten Regierungsaufgaben ist der Schutz der Bevölkerung. Das Vertrauen der Menschen auf diesen Schutz - das ist zerstört worden."
    Späte Verhandlungen nur mit Teilerfolg
    Politiker und Regierung haben wegen häufiger Korruptionsfälle und schlampiger Regierungsführung ohnehin einen schlechten Ruf. Dass sich aber das Drama der Massenentführung von Chibok noch einmal mehr oder weniger Eins-zu-eins wiederholen könnte - das hatten viele nicht für möglich gehalten.
    Die Regierung will nun mit den Entführern über die Freilassung der Schülerinnen verhandeln. Im Fall der Chibok-Mädchen hatte das immerhin zu einem Teilerfolg geführt. Mehr als 100 Schülerinnen kamen frei - mehr als drei Jahre nachdem sie entführt worden waren.
    Fehlende Sicherheitsmaßnahmen an Schulen
    In der Zwischenzeit war versprochen worden, die Schulen im vom Terrorismus geplagten Nordosten Nigerias besonders gut zu schützen. Hosea Tsambida lacht bitter. Tsambida arbeitet bei der Organisation "Bringt unsere Mädchen zurück". Die hatte sich vor knapp vier Jahren nach der Chibok-Entführung gebildet, um der Regierung Beine zu machen.
    "Die Sicherheitsmaßnahmen für die Schule in Chibok hätten jetzt abgeschlossen sein sollen. Sie hatten angekündigt, das werde ein Pilotprojekt für sichere Schulen. Bis heute ist sie nicht fertig - was ist da los?"
    Adamu Gashuanas Tochter gehört zu den jungen Frauen, die jetzt in Dapchi entführt wurden. Gashuana will natürlich seine Tochter wieder haben. Und er appelliert an Nigerias Regierung:
    "Ich will, dass die Regierung alle Schulen absichert. Denn wenn das so weitergeht, dann werden wir hier im Nordosten bald keine funktionierenden Oberschulen mehr haben."
    Viele Eltern in der Region schicken ihre Kinder nicht mehr zur Schule. Sie haben Angst, auch sie könnten entführt werden. Damit erfüllt sich Schritt für Schritt das, was die Terroristen wollen. Boko Haram bedeutet frei übersetzt "westliche Bildung ist Sünde". Mit den Massenentführungen aus Schulen sorgen sie dafür, dass junge Menschen nicht mehr ausgebildet werden. Und Nigerias Regierung scheint bisher nicht in der Lage, das zu verhindern.