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Ernst Jandl Gesamtausgabe
Meister der experimentellen Lyrik

Der österreichische Schriftsteller Ernst Jandl hat ein unverwechselbares Werk hinterlassen. Unter anderem bewegte er sein Publikum mit Lyrik-Performances. Die neue Gesamtausgabe in sechs Bänden legt 16 Jahre nach seinem Tod Zeugnis vom vielfältigen kreativen Schaffen Ernst Jandls ab.

Von Annette Brüggemann | 09.09.2016
    Ernst Jandl bei einer Lesung im Jahr 1992.
    Ernst Jandl bei einer Lesung im Jahr 1992. (imago/gezett Deutsches Theater / Kammerspiele Ernst JANDL)
    "Wenn meine Stimme, nein, wenn meine Finger den Mitteln meiner Stimme hätten entsprechen können, ja, nahe kommen können, ich hätte Romane schreiben können, Romane."
    Ernst Jandl: Ein Leben - ein Werk. Jandls poetisch-radikaler Ton durchdringt die sechs-bändige Gesamtausgabe von Anfang bis Ende. In dieser Vollständigkeit waren die Texte Ernst Jandls noch nie zugänglich - und es sind tatsächlich unveröffentlichte Fundstücke darunter. So gibt es in fast allen Bänden eine Abteilung mit dem Titel "Aus Ordnern und Mappen" mit insgesamt rund 300 unveröffentlichten Texten des Autors aus dem Nachlass.
    Neben Lyrikschlagern wie "Ottos Mops" und dem kompletten dichterischem Werk befinden sich in der neuen Gesamtausgabe auch alle seine essayistischen Arbeiten, seine Theaterstücke, Hörspiele und Erzählprosa. Neben der Prosa liegt damit jetzt auch das komplette dramatische Werk des österreichischen Autors vor. Ebenso lassen sich vereinzelt Jandls verspielte Illustrationen und Gedichtpartituren in den Bänden entdecken. Dazu die autobiografischen Schriften - mit berührenden Momentaufnahmen - und die legendären Frankfurter Poetikvorlesungen "Vom Öffnen und Schließen des Mundes".
    "Eins, zwei, drei, wenn eines uns alle verbunden hat, nämlich das nahezu unaufhörliche Öffnen und Schließen des Mundes. Vielleicht ist einigen von Ihnen, nein, vielleicht ist Ihnen die Zeit so langsam vergangen wie mir. Und vielleicht ist mir die Zeit so rasch vergangen wie Ihnen. Aber wir alle wissen, sie ist vergangen, sie ist dahin."
    Seine Vorlesungen hält Ernst Jandl im Wintersemester 1984/85 vor einem begeisterten Publikum. Er trägt seine sogenannten visuellen Lippengedichte vor, gestikuliert, brüllt und pfeift. In den bis heute wohl heitersten Frankfurter Poetikvorlesungen wird Jandl mit seiner poetisch-experimentellen Haltung selbst zum Kunstwerk.
    Der Lautpoet wächst in einem bürgerlich-katholischen Haushalt auf: Sein Vater Viktor ist Bankangestellter mit einer großen Leidenschaft fürs Malen. Seine Mutter Luise, gelernte Lehrerin und Mutter dreier Kinder, schreibt religiöse Gedichte bis zu ihrem frühen Tod. Da ist Jandl 14 Jahre alt. Er macht sein Abitur und will Schriftsteller werden, wird aber als Soldat eingezogen und gerät in Kriegsgefangenschaft. Schließlich kehrt er zurück nach Wien, wo er studiert, heiratet und Lehrer wird für Deutsch und Englisch.
    Lautgedichte, konkrete und visuelle Poesie
    Im Alter von 27 Jahren fängt er an zu schreiben und entdeckt seine Leidenschaft: Lautgedichte, konkrete und visuelle Poesie. 1954 begegnet er H.C. Artmann und anderen Dichtern der Wiener Gruppe. Vor allem trifft er Friederike Mayröcker, deren Begegnung er zeitlebens als sein größtes Glück bezeichnet. Auch sie ist verheiratet, aber beide lassen sich scheiden und werden einander Liebes-, Lebens- und Schreibgefährten. "Ein ineinander verschränktes Nervensystem" umschrieb es die Schweizer Kulturzeitschrift "DU" einmal treffend. Nur zusammen ziehen werden sie nie. "Wir leben in einer Beziehung wie im Wald", so Mayröckers Worte, mit "Luft um uns herum wie die Bäume". Dafür treffen sie sich regelmäßig in ihrer beider Wohnungen:
    "Jetzt schau dir bitte diesen Text an, diesen Churchill-Text ..." - "Ja …" - "Und ich les dir jetzt einige Gertrude Stein-Stellen vor und du sagst mir, würde das passen oder nicht: "One whom some were certainly following was one who was completely charming. One whom some were certainly following was one who was charming. One whom some were following was one who was completely charming. One whom some were following was one who was certainly completely charming ..." - "Ja, das ist besser..." - "Some were certainly following and were certain that the one they were then following was one working and was one bringing out of himself then something that was coming to be a heavy thing, a solid thing and a complete thing"... diese zwei Absätze ..." - "Ja, das ist besser, nicht das andere ..."
    Das Leben und Schreiben Ernst Jandls findet nicht nur in den österreichischen vier Wänden statt, sondern auch in England, Deutschland und Amerika. Jandl übersetzt Gertrude Stein. Sie wird zu seiner großen Inspiration - wie auch John Cage. Außerdem sucht er die Nähe zum Jazz und kooperiert mit österreichischen Musikern, der NDR Bigband und dem Vienna Art Orchestra. Bei diesen musikalischen Auftritten steht Jandls unverkennbare Stimme ganz im Zentrum der Performance. Hinzu kommt sein ganz eigener Sprachrhythmus, den er daheim vor dem Kassettenrecorder trainiert:
    "Interessant... Interessantetippi... Interessante Olé... le diable bleble... blebleblebleblllllllllll." (Ernst Jandl - Stimmimprovisation)
    Meilenstein in der Geschichte der experimentellen Poesie
    Jandls Auftritt bei einer Lesung der amerikanischen Beatpoeten am 11. Juni 1965 in der Londoner Royal Albert Hall wird zur Legende. Er stiehlt Allen Ginsberg mit seinen Lautgedichten regelrecht die Show - und das vor nicht weniger als 7.000 Zuschauern. Sein Gedichtband "Laut und Luise" aus dem Jahr 1966 wird zum Meilenstein in der Geschichte der experimentellen Poesie - und ist es noch heute. Zwei Jahre später folgt der Gedichtband "sprechblasen", aus dem das Lautgedicht "a love-story" stammt, hier in einer Live-Aufnahme des Wagenbach-Verlags:
    "a love-story, dringend... d dr dri drin ring inge ngen gend end nd d." (Ernst Jandl - von der Audio CD "laut + luise. hosi + anna: sprechgedichte", Klaus Wagenbach Verlag 2001)
    Die neue Gesamtausgabe erzählt von der virtuosen Vielseitigkeit des österreichischen Dichters, der sprachlichen Rebellion der "Wiener Gruppe" in den Nachkriegsjahren, von einer wachsenden Sprachkraft und dem unvergesslichen Sound der Jandl’schen Dichtung. Laut und leise, alltäglich und politisch, ernst und humorvoll. Der Herausgeber und Jandl-Kenner Klaus Siblewski hat jeden Band mit einer Nachbemerkung und editorischen Notiz versehen, die wissenswerte Hintergründe zur Entstehungszeit der Jandl’schen Texte liefert. Auch bietet die Werkausgabe einen sehr hilfreichen Registerband mit Jandls Lebensdaten, einem alphabetischen Verzeichnis sämtlicher Texte und einem tollen Verzeichnis der von Ernst Jandl zitierten eigenen Gedichte und ihren Fundorten. So lassen sich spannende literarische Querverbindungen und zeitliche Kontexte herstellen, die das gesamte Lebenswerk des Dichters auf einmalige Weise erfahrbar machen. Ein schillernder Jandl-Kosmos, in den man lesend eintaucht und staunend und bereichert wieder auftaucht.
    "Ohgottogott … baby, please bittebitte … for god’s sake, please … bittebitte, please." (Ernst Jandl - Stimmimprovisation zu Jazzmusik)
    Ernst Jandl, Klaus Siblewski (Hrsg.): Werke in sechs Bänden (Kassette)
    Paperback, Klappenbroschur. Luchterhand Verlag. ISBN: 978-3-630-90003-2. 99 Euro.