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Ernst Toller: "Briefe 1915-1939"
"Lassen Sie sich nicht von den Nazis verprügeln"

Ernst Toller war der international erfolgreichste Dramatiker der Weimarer Republik, und der Einzige, der zahlreiche Premieren seiner Stücke nicht miterleben konnte, weil er zeitgleich im Gefängnis saß. Nun erscheint erstmals die vollständige Ausgabe seiner Briefe von 1915 bis 1939, kurz vor seinem Selbstmord in New York.

Von Volkmar Mühleis | 14.01.2018
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    Buchcover: Ernst Toller: „Briefe 1915-1939“ (Buchcover: Wallstein-Verlag, Foto: dpa / picture alliance / UPI)
    "Ich bin dreißig Jahre. Mein Haar wird grau. Ich bin nicht müde." So endet Ernst Tollers Autobiografie "Eine Jugend in Deutschland" – kämpferisch, unverzagt. Doch wer genau hinhört, der achtet nicht nur auf die Selbststilisierung. In drei knappen Sätzen endet das Buch, ohne Schnörkel, Ornament, ohne literarische Stilisierung und zugleich formbewusst, präzise, treffsicher. Tollers Sprache ist sachlich, stets um Verständlichkeit bemüht, auf das Notwendige beschränkt.
    Heute, da seine Schriften in der öffentlichen Wahrnehmung marginalisiert sind, und die Wiederentdeckung Tollers durch die Generation der 68er sein politisches Engagement in den Vordergrund gerückt hat – etwa in Tankred Dorsts Schauspiel "Toller" –, heute also zeigt sich bei der Lektüre von seinem Werk umso deutlicher, wie vielschichtig er an der Sprache gearbeitet hat, die Tonalitäten zwischen den Genres sich ändern. Man vergleiche nur die Bühnendialoge seiner Theaterstücke – "Masse Mensch, Hinkemann, Hoppla, wir leben!" – mit den selbstvergewissernden Gedichten im "Schwalbenbuch" und dem nüchternen, drängenden Ton seiner Autobiografie. Während auf der Bühne verkürzte Sätze das Drama befeuern, wird die Verkürzung im "Schwalbenbuch" zur existenziellen Befragung, wenn "ohne Sinn / ohne Sinn" nur als verklingendes Echo bleibt. "Eine Jugend in Deutschland" wiederum ist ein Erzählfluss par excellence, furios einsetzend mit dem Vorwort – "Am Tag der Verbrennung meiner Bücher in Deutschland" gezeichnet –, ein Bericht über den eigenen Werdegang: grausamste Fronterfahrungen, literarische Erfolge, politischer Aufstand, der Alltag im Gefängnis, Jahre des Reisens und schließlich Getriebenseins, auf der Flucht vor den Nazis.
    Neue Seiten des Schriftstellers
    1978 erschien eine erste Ausgabe Gesammelter Werke Tollers, bevor 2014 dann die gültige Ausgabe Sämtlicher Werke im Wallstein Verlag abgeschlossen wurde. Die Herausgeber der ersten Auswahl machten bereits darauf aufmerksam, dass der Ton der Briefe wieder neue Seiten des Schriftstellers entfalten würde. Sie bezogen sich noch auf die von ihm selbst edierte Veröffentlichung seiner "Briefe aus dem Gefängnis", 1935 in Amsterdam publiziert. Die Gesamtausgabe seiner Briefe, die nun ebenfalls im Wallstein Verlag erschienen ist, bietet erstmals die Möglichkeit, den Dramatiker und Schriftsteller in seiner Korrespondenz mit anderen in jeglich dokumentierter Hinsicht wahrzunehmen, ob in langen Briefen, kurzen Telegrammen, Postkarten, amtlichen Schreiben, etc.
    Literarisches durchdringt Persönliches, Geschäftliches tritt neben Politisches. Über 1.700 Seiten umfassen die beiden Bände der Briefe, kritisch ediert und mit umfangreichen Kommentaren versehen. In erster Linie kommen damit Äußerungen und Beobachtungen zum Vorschein, welche in die Motive und Ambivalenz von Tollers Ringen um ein engagiertes Schreiben und Leben einführen, ohne der Konsequenz seines literarischen Programms und politischen Handelns Abbruch zu tun. Man wird vielfach auf Bruchstücke aufmerksam, die sich in kein größeres Ganzes fügten, dafür aber umso anschaulicher sind. So steht er im Briefwechsel mit dem Theaterautor und Schriftsteller Gerhard Hauptmann und dessen Bruder Carl, an den er 1919/1920 etwa schreibt:
    "Sehr verehrter Herr Carl Hauptmann,/ Ihr Gedenken war mir mehr als eine flüchtige Freude. Ich bin sehr (darf ich so sagen?) stolz auf diesen Händedruck./ Nach monatelanger Zelleneinsamkeit, die mich wie eine Heimat umgab, brachte ich einige Wochen in einem Krankenhaus zu. Ich hatte mich einer Operation unterziehen müssen. In einem weißen Bett durfte ich liegen, durch das nicht unfreundliche Gitter eines richtigen Fensters in einen wirklichen Garten schauen und mich von sehr stillen und sanften Ordensschwestern pflegen lassen. Schwestern, die nicht von der politischen Korruption erfaßt sind, und die den nackten Menschen pflegen in einer großen Demut und Güte, gleichgiltig, ob in dem Zimmer der Mann liegt, der Eisner erschoß (er wurde vor mir hier behandelt) oder der 'berüchtigte Hetzer'."
    Dem Zensor wird es zu bunt
    Mit dem "berüchtigten Hetzer" spielte Toller auf sich selbst an, als er gegen 10.000 Mark Kopfgeld nach der Niederschlagung der Räterepublik in München gesucht wurde. Zugleich hatte er als Vorsitzender des Zentralrates der Räterepublik die Rachejustiz am Mörder von Kurt Eisner, dem Ministerpräsidenten des 1918 zuerst ausgerufenen Freien Volksstaates Bayern, verhindert. Jetzt waren sie beide, der Mörder Graf Arco-Valley, und er, die politischen Rivalen, nacheinander in der Obhut jener Schwestern. Weniger eine Ironie der Geschichte als vielmehr Anlass, einen Unterschied zu machen zwischen politischer Korruption, wie Toller schreibt, und Menschlichkeit. Eine Menschlichkeit, die es nicht zynisch zu diskreditieren gilt, mit der nur ein ungetrübter, empathischer Blick gelingt. Toller selbst rang um diesen Blick, wenn er etwa 1921 aus dem Festungsgefängnis Niederschönenfeld an Netti Katzenstein, eine liebe Freundin, schreibt:
    "Ich lebe nun zwei Jahre in engstem Beieinander mit Proletariern, die Sozialisten sich nennen./ Freilich, ich trat an den Proletarier mit Illusionen heran, ich sah in ihm einen hohen Typus a priori. Diese Illusionen zerbrachen schnell, und sie mußten zerbrechen, weil sie im Acker ideologischer Engstirnigkeit wuchsen. Niemand ist deshalb 'heilig', weil er einer besonderen Klasse angehört./ Ich sehe nun nackt, und ich krampfe oft die Fäuste in beizendem Schmerz./ Ist es der Krieg, der diese die letzten Fasern durchdringende Korrumpierung verschuldet hat? Man ist gezwungen, von einer Degradierung zu sprechen."
    Aufgrund der Quellenlage schien es nicht möglich, neben Tollers Briefen auch die Antworten seiner Gesprächspartner zu veröffentlichen, was in vielerlei Fällen von größtem Interesse wäre, hat er doch mit zahlreichen namhaften Persönlichkeiten seiner Zeit korrespondiert, mit Stefan Zweig, Romain Rolland, Thomas Mann, Kurt Tucholsky, um nur einige zu nennen. Da die Briefe aus den Jahren im Gefängnis stets die Zensur passieren mussten, und die amtlichen Vermerke der Vollständigkeit halber mit publiziert wurden, geben die Kommentare der Zensoren unfreiwillig Auskunft über die Berühmtheit Tollers und den internationalen Erfolg seiner Stücke. So ist 1923 in einem Vermerk zu lesen:
    "Allmählich (…) erschienen Briefe und Zeitungen nicht nur in englischer, französischer und holländischer, sondern – speziell für Toller – solche in russischer, russisch-jiddischer und sonstigen slavischen Sprachen. Entsprechend der Verbreitung und Aufführung von Tollers 'Werken' entwickelt sich progressiv eine fremdsprachige Korrespondenz von bedeutendem Umfange. Sogar Verträge wollte Toller mit Russland in russischer Sprache abschliessen!"
    Toller war ein vielsprachiger Kosmopolit
    Eine für den bayrischen Zensor anscheinend undenkbare Vorstellung, dass ein im preußischen Samotschin geborener Häftling mit Russen in ihrer Sprache Geschäfte tätigen mag – und kann. Toller war ein vielsprachiger Kosmopolit, dem als selbstständiger Autor in der Weimarer Republik angesichts der einsetzenden Inflation schon früh klar wurde, dass seine finanzielle Unabhängigkeit dank ausländischer Devisen besser gesichert wäre als sich auf deutsche Tantiemen zu verlassen. Politische Gegner versuchten ihn als Geschäftemacher in Verruch zu bringen, die Briefe zeigen aber keinen lebesüchtigen Geldhai, und ein Salonkommunist war er nun wirklich nicht, dafür hatte er nicht nur die Haft riskiert, er wagte es gleichfalls, Joseph Goebbels 1933 mit einem offenen Brief zu attackieren. Drei Jahre zuvor war er noch in ein öffentliches Streitgespräch mit dem Nationalsozialisten Alfred Mühr gegangen, das im Radio ausgestrahlt wurde:
    "Das gesamte bürgerliche Recht, die vom Bürgertum vertretene Ethik, beruht auf dem ökonomischen Schutz der Familie. Sie werden doch zugeben müssen, dass viele Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuchs im Widerspruch stehen zur Familie wie sie heute sich entwickelt hat. Warum erschwert man denn die Ehescheidung? Warum gibt man der Familie nicht das Recht, die Zahl ihrer Kinder zu bestimmen? Warum ist die uneheliche Mutter immer noch verachtet? Warum hat das uneheliche Kind nicht die gleichen Rechte wie das eheliche?"
    Die Briefe Tollers spiegeln seine Beziehungen
    Nur weil Toller sich während der Machtergreifung der Nazis in der Schweiz aufhielt, konnte er vom Ausland aus, vor allem England, weiterhin agieren. Als Autor versuchte er – dank zahlreicher Übersetzungen seiner Werke ins Englische – vor allem in London und später auch den USA Fuß zu fassen. Die Briefe sind im Weiteren selbst vielfach auf Englisch verfasst und bieten nun vor allem ein Panorama seiner gesellschaftlichen und geschäftlichen Aktivitäten dort. So setzt er sich umfangreich für bedrohte Freunde, Verwandte und Mitstreiter ein, etwa Carl von Ossietzky, den Herausgeber der Weltbühne, der 1933 inhaftiert worden war. Drei Jahre später, 1936, schreibt Toller der Publizistin Hilde Walter, im Rahmen der gemeinsamen Lobbyarbeit zugunsten des Friedensnobelpreises für Carl von Ossietzky:
    "Ich sah vor ein paar Tagen einen Mann, der bis vor kurzem mit Ossietzky im Konzentrationslager war. Er erzählte mir, Ossietzky’s Gesundheitszustand sei schlecht und er mache sich wenig Hoffnung heraus zu kommen. Durch sein Herzleiden ist er arbeitsunfähig. Er wird mit Hausarbeiten beschäftigt. Einmal hat man diesen Winter versucht, ihn im Moor arbeiten zu lassen. Er brach zusammen und musste ins Lager zurückgefahren werden. Im allgemeinen soll er in letzter Zeit physisch nicht gequält werden wie früher. Der Mann, der mir das erzählte, schien vertrauenswürdig."
    Die Briefe Tollers spiegeln seine Beziehungen. Mit wem hat er sich tatsächlich verbunden gefühlt, wem gegenüber welchen Ton gefunden, welche Offenheit? Wer die wichtigste, vertrauteste Bezugsperson für Toller den Briefen nach zu urteilen war, zeigt sich daran, wie kontinuierlich, unverbrüchlich, lustig, spontan, frech und auch nachdenklich, grüblerisch, besorgt der Autor Betty Frankenstein schreibt, der Verlagsleiterin der Jüdischen Rundschau in Berlin. Es gibt keinen Abschiedsbrief von Toller zu seinem Selbstmord 1939 in New York, doch zwei lange, sein Leben reflektierende Briefe, die er zuvor seiner treuen Kollegin schickte, nach Palästina, wo sie sich mittlerweile befand. In seinem letzten Brief an sie, im Mai 1939, dem Monat seines Selbstmords, heißt es:
    "Liebste Betty, wochenlang blieb der Brief liegen – es waren grausame Wochen – Eine gute Nachricht. Heinrich ist in Prag unbehelligt – Ich habe ihm hier ein Affidavit besorgt, das bereits in seinem Besitz ist. Wie ihn in ein anderes Land bekommen? Ich versuche für ihn die Erlaubnis zu erwirken, sich in England aufzuhalten. Seine Adresse ist: Tunich bei Panonskvoa Prag II/III / Ich darf ihm nicht schreiben. Liebe gute Betty, ich umarme Sie."
    Zwischen Grosz und Goya
    Heinrich war der Bruder von Ernst Toller, die Ausreise dank der Bürgschaftserklärung – dem Affidavit – gelang ihm nicht. Er wurde noch in Prag arrestiert und ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, wo er 1945 starb. Das Ende von Tollers eigenem Leben, das sich in einem New Yorker Hotelzimmer verliert, verliert sich auch in den Banden, die es bislang getragen hatten, im historischen Auseinandergerissenwerden, der Unmöglichkeit, einander wiederzusehen. So verliert sich auch die Lektüre zum Ende hin, eine Leere bleibt zurück, eine Ungeklärtheit, die sich als historische Wunde zeigt. Zugleich sind die Briefe geblieben, aufbewahrt, gesammelt, in Archiven, privat, und so ist es der herausgeberischen Leistung aller Beteiligten zu verdanken – insbesondere dem Team um Stefan Neuhaus, Gerhard Scholz und Irene Zanol –, Toller auf die Art wieder als Zeitgenossen zu präsentieren, seiner Zeit wie auch der unseren. Es gab für ihn keine Literatur nur um der Literatur willen, und zugleich folgte sie ihren eigenen Gesetzen. Was als Widerspruch erscheinen mag, war ihm die Verquickung von Kunst und geteiltem, politischen Leben. An den Maler und Zeichner George Grosz schickte er 1927 zwei seiner fröhlichsten Postkarten, leider sind sie nicht selbst abgebildet und nur die Texte wiedergegeben. Auf der zweiten steht:
    "Lieber Schorsch Groß, zwar monumental aber halbfertig sitze ich zu Füßen der Loreley, so wie Du mich in Stiche ließest und trauere meinen letzten Linien nach./ – Ja, Avignon ist herrlich (ich war 1914 dort, in Nîmes, Tarascon, Arles u.s.w.) man – / (weiter kam ich nicht, inzwischen reise ich nach Kampen)/ allwo – / teutsche Frauen,/ teutsche Recken,/ teutsche Kriegsflaggen/ die Nordsee/ anekeln und die Sonne fortekeln./ Wann kommst Du mit Deiner von mir geliebten Gattin nach Baalin?/ Heil!/ Dein Ernst Toller"
    Links neben dem ironischen Gruß hatte Toller ein umgedrehtes Hakenkreuz gezeichnet, "Baalin" war eine lautmalerische Kreuzung von Berlin mit dem Gott Baal, und "teutsche Frauen" ist eine Anspielung auf die zweite Strophe des Deutschlandliedes, in der sie besungen werden. Und dass der Autor 1914 nur bis Arles "u.s.w." kam, lag am Ausbruch des Ersten Weltkriegs, als ob er jetzt lieber Kampen bevorzugen würde, so reist er ‚inzwischen‘ dorthin. Allwo – Ausruf, Erstaunen in einem – an deutschen Stränden die Sonne nur hinter Flaggen noch scheint, ‚fortgeekelt‘. Ein literarisches George Grosz-Gemälde, von Ernst Toller freundschaftlich verfasst. Als erprobe er mit Blick auf den Andern Möglichkeiten, Fingerfertigkeiten seines eigenen Spiels. Kunst ist immer auch ein soziales Relief, mit den Menschen und Dingen, die einen umgeben, nicht nur abbildend, nein, überhaupt bildend, im selbst aktiven wie intensiv erfahrenen Sinn. So berichtet Toller 1921 von einer Zeichnung Francisco Goyas, die ihn seit seinem 17. Lebensjahr begleite, elf Jahre seitdem, und wie ihn das Bild "packt", berührt, beeindruckt. Es stammt aus der Reihe von Goyas "Los Caprichos", allegorischen Fantasiebildern mit Untertiteln, in diesem Fall: "Noch gehen sie nicht weg". Wer sie sind? Klapprige, skeletthafte, monströse Gestalten, von denen die dünnste eine schwere Grabplatte stemmt, sie vor dem Zufallen zu bewahren oder sich gegen sie aufrichtend. Es ist die geschundene Kreatur, mit ihrer eigenen Grabplatte ins Bild verkeilt, entgegen dem Lichteinfall im Hintergrund. In seiner Autobiographie "Eine Jugend in Deutschland" berichtet Toller davon, wie er als Junge auf ein Reh geschossen hatte:
    "Wie ich mich dem Reh nähere, steht es auf, schleppt sich ein paar Schritte und fällt zusammen. Ich sehe die großen feuchten braunen Augen, es ergreift mich die stumme Klage des Tiers (...)."
    Der Blick des sterbenden Tiers, die albtraumhafte Szene bei Goya. Das Erkennen der Nähe zur eigenen Kreatur. "Lassen Sie sich nicht von den Nazis verprügeln", schreibt Ernst Toller seiner Gefährtin Betty Frankenstein im September 1931 zum jüdischen Neujahrsfest. Auf dem Kurfürstendamm kam es am gleichen Tag zu progromartigen Ausschreitungen der SA.
    Stefan Neuhaus, Gerhard Scholz und Irene Zanol (Hrsg.): "Ernst Toller, Briefe 1915-1939"
    Wallstein Verlag, Göttingen. 1748 Seiten. 69€